Premiere von Christopher Nolans „Oppenheimer“ - Mahnung an Silicon Valley

Das heute in den deutschen Kinos anlaufende Drei-Stunden-Epos „Oppenheimer“ von Christopher Nolan über den Leiter des für den Bau der ersten Atombombe verantwortlichen Wissenschaftlerteams ist auch ein Menetekel für die Gegenwart. Wie umgehen mit Künstlicher Intelligenz?

Cillian Murphy als J. Robert Oppenheimer / dpa
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Ronald D. Gerste ist Historiker, Publizist und Augenarzt. Er lebt in der Nähe von Washington, D.C.

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Nach einer ehernen cineastischen Regel sagt ein historischer Film mehr über die Epoche aus, in der er gedreht wurde, als über die Zeit, in der er handelt. So kämpfen im Errol Flynn-Klassiker „The Sea Hawk“ („Herr der Sieben Meere“) zwar kühne englische Seeleute in unerschütterlicher Treue zu ihrer Königin Elisabeth I. gegen die Schiffe Philips II. und verhindern, dass seine Armada die Invasion Englands möglich macht. Doch sowohl die Zeitgenossen als auch ein heutiger, über ein Mindestmaß an Bildung verfügender Zuschauer wird in dem spanischen König jemand anderen erkennen: Hitler.

Der für damalige Verhältnisse äußerst aufwendige Streifen wurde 1940 in den zu diesem Zeitpunkt noch neutralen USA gedreht und war – auch – ein Propagandafilm, der Sympathien für das allein gegen den über weite Teile des europäischen Kontinents herrschenden Diktator stehende Vereinigte Königreich und seine Marine generieren sollte.

Nur fünf Jahre später hatten die USA diesen Weltkrieg nicht nur entschieden; sie läuteten in den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1945 auch ein neues Zeitalter ein. Es blieb, bis heute, eine Ära der Ungewissheit und eines verdrängten, damit aber nicht weniger realen Terrors. Mit „Trinity“, der Explosion der ersten Atombombe in einer unbewohnten Region des Bundesstaates New Mexico, war der Weg beschritten in eine Epoche, deren Ende weder absehbar noch erahnbar ist – mit der dunkelsten Option, dass kein Chronist übrig bleibt, um von ihrem letzten Kapitel zu berichten.

Bemerkenswertes Star-Ensemble

Der Weg zur Bombe und das Schicksal ihres bekanntesten Protagonisten, Julius Robert Oppenheimer, ist Gegenstand von Christopher Nolans Meisterwerk – als solches gilt es bereits im Vorfeld –, für das nicht nur ein bemerkenswertes Star-Ensemble aufgeboten wurde, von Cillian Murphy als fast kachektischem „Vater der Atombombe“ über Emily Blunt und Florence Pugh bis zu Gary Oldman in einem kurzen Auftritt als US-Präsident Harry Truman (jener Oldmann, der in „Darkest Hour“ den britischen Kriegspremier Winston Churchill porträtierte).

Auch die technische Umsetzung wird der historischen Bedeutung der Ereignisse vor und nach 1945 gerecht: Nolan hat den gesamten Film mit schwergewichtigen IMAX-70mm-Kameras gedreht. Sowohl die Spaltung der Urankerne, die Freisetzung infernalischer Energien als auch die Charakterstudien der Gesichter, allen voran Murphys/Oppenheimers Physiognomie, sind in diesem Format von kaum je erreichter Eindringlichkeit.

Oppenheimer-Moment der Künstlichen Intelligenz

Gemäß der eingangs geschilderten Regel lässt „Oppenheimer“ nicht nur die Zweifel und die Überheblichkeiten seiner Titelfigur, den schmalen Grat zwischen Triumph und Tragödie (mehr jener des Wissenschaftlers als der tatsächlichen Opfer in Hiroshima und Nagasaki) lebendig werden, sondern auch die Ungewissheiten der Gegenwart.

Nolan hat im Vorfeld deutlich gemacht, dass für ihn eine in ihren Auswirkungen längst nicht evaluierte Technologie zurzeit abermals von den USA aus die Welt erschüttern könnte. Der Fingerzeig geht nicht nach Los Alamos, wo Oppenheimer und andere mit ihren Familien fast hermetisch von der Außenwelt abgeschlossene Wissenschaftler an „Trinity“ arbeiteten, sondern nach Kalifornien.

Der Regisseur gehört zu jenen immer zahlreicher werdenden Stimmen, die in der Künstlichen Intelligenz nicht nur einen Segen erkennen. „Wenn man durch Technologie innoviert, muss man dafür sorgen, dass es Verantwortlichkeit (accountability) gibt“, äußerte Nolan vor der Premiere. Der Siegeszug der AI (Artificial Intelligence) führt für ihn unabdingbar in Oppenheimers Metier: AI-Systeme werden aus Sicht der Kritiker dieser Technologie letztendlich über Nuklearwaffen bestimmen.

Für Nolan sind die Analogien zwischen 1945 und 2023 unübersehbar: „Wenn ich mit führenden AI-Forschern spreche, reden sie wortwörtlich vom Oppenheimer-Moment. Sie blicken auf seine Geschichte, wenn es darum geht: Welche Verantwortlichkeit haben Wissenschaftler, wenn sie neue Technologien entwickeln, die unbeabsichtigte Konsequenzen haben können?“

Beispiellose Demütigung des einstigen Helden

Zum Narrativ des Manhattan-Projekts, wie das Programm zum Bau der Bombe bezeichnet wurde, gehört die Reue, die Oppenheimer und andere Wissenschaftler nach dem Einsatz der Bombe nur drei Wochen nach „Trinity“ gegen Japan überkommen sein soll. Dass weit überdurchschnittlich intelligente Menschen Jahre damit verbringen, eine gänzlich neue Waffe zu konzipieren, und sich dann wundern, dass diese von Regierung und Militär auch tatsächlich und mit grausamen Folgen eingesetzt wird, erscheint wie eine etwas naive Reinwaschung.
 

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Oppenheimers Zögern, noch „effektivere“ Nuklearwaffen zu bauen – wobei vor allem Edward Teller zum Spiritus rector wurde –, war einer der Gründe für den späteren Entzug seiner Security Clearance, die eine beispiellose Demütigung des einstigen Helden bedeutete; sein freundschaftlicher und zumindest in einem Fall intimer Umgang – seine Geliebte Jean Tatlock (Florence Pugh) – mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei galt im jungen Kalten Krieg als unverzeihlich.

Anti-Atomwaffen-Bewegung prägte Nolan

Oppenheimers Worte, wonach die Atombombe „eine Waffe für Aggressoren ist, und die Elemente von Schock und Terror sind ihr so immanent, so eigen wie die spaltbaren Kerne“, hat in der Gegenwart ein neues Gewicht. Gleichwohl ist das Gefahrenpotenzial durch eine nukleare Konfrontation in der öffentlichen Wahrnehmung in den USA auffallend wenig präsent.

Putins Drohung mit dem Einsatz von taktischen Nuklearwaffen im Krieg gegen die Ukraine wird weithin als Bluff dargestellt; dass die USA dem Gegner einer nuklearen Supermacht immer ausgefeiltere Waffensysteme liefern, wird meist – vor allem in den Mainstreammedien und durch in diesen auftretende tatsächliche oder vermeintliche Experten – als bezüglich potenzieller Folgen kaum einer ernsthaften Eröterung wert abgewunken.

Nolan, der als junger Mann von der Anti-Atomwaffen-Bewegung in Großbritannien geprägt wurde, hat offenbar eine andere Sensibilität. Wie ein Memento mori lässt er seine Tochter in einer der aufwühlendsten Sequenzen des Films kurz als eine namenlose junge Frau auftreten, deren Gesicht durch eine Nuklearexplosion teilweise zerstört wurde.

Gefühl der Apokalypse

Die gegenwartspolitische Relevanz des Films zeigt sich im Umgang der US-Regierung, eines unter dem Einfluss von Joseph McCarthy stehenden Kongresses und einer hysterischen Presse mit dem Protagonisten. Oppenheimer wurde in den frühen 1950er Jahren vom Helden zum nationalen Sicherheitsrisiko; die Kampagne gegen ihn atmete den Geist von Paranoia, Wissenschaftsfeindlichkeit und der Freude an der öffentlichen Erniedrigung Andersdenkender. In „Hexenjäger“ McCarthys engstem Berater Roy Cohn sehen einige Historiker eine Inspiration für die Rhetorik und den wiederholt faktenaversen Stil von Donald Trump.

Oppenheimers Biograf Kai Bird erkennt im Umgang der Verantwortlichen im Kongress und im Weißen Haus mit Oppenheimer in den 1950er Jahren ein Beispiel für die Gefahren der Politisierung von Wissenschaft und resümiert in der New York Times, dabei auch Nolans Sorgen über die AI reflektierend: „Oppenheimer hat immer daran geglaubt, dass Menschen solche Technologien regulieren und sie in eine nachhaltige und humane Zivilisation integrieren können. Wir können nur hoffen, dass er Recht behält.“

Nolans „Oppenheimer“, der in den USA von Journalisten, die ihn vorab zu sehen bekommen haben, teilweise enthusiastische Bewertungen bekam, wird bei vielen Zuschauern ein Gefühl der Bedrohung, wenn nicht gar der Apokalyse hinterlassen. Immerhin hat die Traumfabrik Hollywood parallel zur Saga der ultimativen Terrorwaffe und der Konflikte seines Schöpfers eine Fluchtmöglichkeit geschaffen. Genau am selben Tag kommt der zweite vermeintliche Kinohit dieses Sommers in die Lichtspielhäuser: „Barbie“.

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