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Ohne Wille und Vorstellung

Vor 150 Jahren starb Arthur Schopenhauer und allerorten wurde der weltberühmte Frankfurter Philosoph geehrt. Doch in der Goethe-Stadt gibt es anscheinend nur Platz für einen Dichter und Denker. Ein Bericht über den schmählichen Umgang mit dem Erbe des Metaphysikers.

Wir schreiben das 150. Gedenkjahr Arthur Schopenhauers. Eigentlich ein Grund zu einer besonderen Würdigung, zur Einweihung von Gedenkstätten oder eines Museums. Doch in Frankfurt, wo der Philosoph fast 30 Jahre und damit die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, ist man so sehr mit Goethe beschäftigt, dass für andere große Denker in den Köpfen der Stadthäupter kein Platz zu sein scheint. Nur wenig in der Goethe-Stadt erinnert an Schopenhauer. Und manches führt sogar in die Irre. Es mag schwer sein, dem Berühmtesten aller Metaphysiker geistig zu folgen, noch schwerer aber ist es offenbar, ihm geografisch auf den Spuren zu bleiben. Der unstete Geist wechselte mehrfach seine Wohnungen. Am längsten, ungefähr 16 Jahre, lebte Schopenhauer im Erdgeschoss des Hauses Nr. 17 in der Schönen Aussicht am Kopf der Alten Brücke am Main. Ein Streit mit dem Vermieter wegen seines angeblich „ekelerregenden Pudelhundes“ Atma zwang ihn jedoch zu einem Umzug ins Nachbarhaus. In der Schönen Aussicht 16 wohnte er nicht einmal mehr 15 Monate, doch gilt diese, seine letzte Stätte, als das eigentliche „Schopenhauer-Haus“. Nicht zuletzt, weil es das feudalere Wohnhaus war, ein Stadtpalais mit markantem Säulenvestibül und geschwungener Freitreppe. Auch heute steht an dieser Stelle noch ein Haus, wenngleich ein völlig anderes, von wenig angenehmer Statur. An dem trivialen Nachkriegsgebäude, das ein Restaurant mit dem Namen „Bistro Salvatore“ beherbergt, wurde eine einfach zu übersehende schwarze Inschrift angebracht, über dem Hauseingang, auf badezimmergrünen Mosaikfliesen. „Hier starb am 21. 9. 1860 Arthur Schopenhauer“, ist da zu lesen. Eher ein Denkzettel als eine Art des Gedenkens. Das Haus, in dem der Philosoph die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, wäre, wie gesagt, die benachbarte Schöne Aussicht Nr. 17 gewesen. Diese Adresse fiel jedoch gemeinsam mit der Nr. 18 durch den Bau der zur Alten Brücke führenden Kurt-Schumacher-Straße unüberlegten Nachkriegsplanungen zum Opfer. Obwohl es auch bei Schopenhauer-Chronisten über die genauen Standorte der beiden Häuser zu unterschiedlichen Darstellungen gekommen ist, gilt der hier geschilderte Zustand als der historisch korrekte. Am besten verdeutlicht eine Aufnahme von Max Junghändel aus dem Jahr 1898 das Ensemble und die Stellung der Schopenhauer-Häuser an der Schönen Aussicht. Wer dort das prächtige Panorama sieht, die stolzen Häuserfronten und den gemächlichen Fluss mit seinen beschaulichen Mainauen, mag die Namensschöpfung beinahe als Untertreibung empfinden. Heute sind Häuser dort von so jämmerlicher Gestalt, dass es den in derselben Straße geborenen Philosophie-Kollegen Theodor W. Adorno zu seinem Aperçu „Langeweile ist der Reflex auf das objektive Grau“ inspiriert haben könnte. Schon seit langem wünschte sich die Frankfurter Schopenhauer-Gesellschaft ein Museum für den Philosophen am Ort seines Sterbehauses, denn das Schopenhauer-Archiv vagabundiert seit 1920 durch die Stadt und hätte hier eine Möglichkeit gehabt, sesshaft zu werden. Auch das benachbarte Grundstück, wo nach den Bauarbeiten zur Kurt-Schumacher-Straße jahrzehntelang ein elender Trümmerhaufen von Geschichtslosigkeit zeugte, hätte man noch mit einem klassizistischen Nachbau an den Philosophen erinnern können. Doch ausgerechnet dort entsteht zurzeit ein profanes Hotel mit moderner Fassade, das jegliche Erinnerung an Schopenhauer ignorieren will, obwohl der Bezug zu dem weltbekannten Philosophen durchaus werbewirksam eingesetzt werden könnte. Der Bauherr möchte nicht einmal mit einer Gedenktafel daran erinnern, dass einst einer der großen Denker der abendländischen Geistesgeschichte hier lebte. Bei den Bauarbeiten zum Hotel trat jüngst Erstaunliches zutage: Überreste der historischen Staufenmauer (um 1150/1200) sowie Mauern und Keller aus dem 19. Jahrhundert, der Schopenhauer-Zeit. Zudem haben aufmerksame Nachbarn beobachtet, dass Weine ausgegraben wurden. Schopenhauer war beileibe kein Kostverächter, galt als Gourmand und gönnte sich zum Abendessen gewöhnlich eine halbe Flasche Wein. Wahrscheinlich stammen die Flaschenfunde aber von den jüdischen Brüdern Weiß, die in Schopenhauers Sterbezimmer eine Weinhandlung führten und während der Pogrome am 9. November 1938 vom braunen Mob vertrieben wurden. Im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte im Karmeliterkloster existieren noch Pläne von Schopenhauers Haus sowie Bilder und andere Zeitdokumente. Sie werden wie in einer Festung verwahrt. Man fährt, begleitet von Sachverwalter Klaus Rheinfurth, mit gleich zwei verschiedenen und nur durch Sicherheitsschlüssel zu aktivierenden Aufzügen in eine kahle Unterwelt, in der es totenstill wäre, würde sich nicht ständig die nahe U-Bahn mit dumpfem Grollen bemerkbar machen. In diesem Asservaten-Labyrinth verbirgt sich eine stattliche Ansammlung Frankfurter Geschichte, ein Teil also des Gedächtnisses der Stadt. Düster erscheint das Foto mit der Registraturnummer 80: Es zeigt die vom Bombenhagel zerstörte Ruine von Schopenhauers Haus. Ein topografischer Plan der Stadt von 1946 stuft es als „teilzerstört“, nicht „totalzerstört“ ein. Man hätte das Schopenhauer-Haus also durchaus wieder rekonstruieren können, wenn man gewollt hätte. Mit dem weit mehr zerstörten, ja größtenteils pulverisierten Goethe-Haus geschah das ja auch. Für Goethe gab es indes schon immer eine starke Lobby in der Stadt, während Schopenhauer, traut man historischen Dokumenten, schon zu Lebzeiten den Status eines Außenseiters innehatte. Nach seinem Tod blieb er in jeder Hinsicht weit weniger gesellschaftsfähig als der hochverehrte Dichter. Das erste Schopenhauer-Archiv der Nachkriegszeit befand sich in der ehemaligen Stadtbibliothek, dem heutigen Literaturhaus, an der Schönen Aussicht Nr. 2. Das klassizistische Gebäude galt als Prunkstück der Promenade des nördlichen Mainufers. Im Gegensatz zu vielen anderen Häusern in der Straße überstand es die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg relativ gut. Im Dachgeschoss der Bibliothek wurde der Nachlass von Schopenhauer fast unbemerkt von der Öffentlichkeit verwahrt. Doch befand man sich immerhin unweit der beiden Schopenhauer-Häuser und gewann so einen Genius loci. Heute wünschen sich viele Schopenhauer-Freunde, dass der Nachlass zumindest an diesen Ort zurückkehren könnte. Es gäbe ausreichend Platz. In dem unmittelbar angrenzenden Park, der Obermainanlage, führt das Schopenhauer-Denkmal sein Schattendasein. Im Dunkel der Bäume dämmert es dahin, oft begleitet von düsteren Gestalten, denn die im Umfeld liegenden Bordelle genießen beinahe genauso viel Denkmalschutz. Das alles ist schon ärgerlich genug. Aber es droht noch ein weiterer Verlust. Vieles von dem wenigen, was von Schopenhauer blieb und als Inhalt für ein Museum an der Schönen Aussicht hätte dienen können, harrt in der Bibliothek der Frankfurter Goethe-Universität seiner Wiederentdeckung – Bücher, Manuskripte, Bilder und andere rare Fundstücke. Doch gilt es als nahezu sicher, dass durch den Umzug der Universitätsbibliothek im Jahr 2014 auf den neuen Campus im Westend das Schopenhauer-Archiv mitsamt all seinen Erinnerungsstücken weggeschlossen und der Öffentlichkeit unzugänglich gemacht wird. Um den Schlaf bringen mag das niemanden, doch für Forschung und Chroniken ist dies von Bedeutung. Manche Exponate, wie die Schnupftabakdose des Philosophen oder seine Rasiermesser, mögen für sich genommen wenig spektakulär erscheinen. Allerdings sollten sie als höchst persönliche Zeitzeugnisse nicht allein für Schopenhauer-Kundler von Bedeutung sein. Der Philosoph nutzte seine geliebte Flöte beinahe buchstäblich bis zum letzten Atemzug. Von leiser Dramatik: die mürbe wirkenden letzten beiden Schreibfedern. Fast schon heiter: der gepolsterte Fußschemel, in Frankfurter Mundart Schawellchen genannt, als Inbegriff eines behaglichen Wohnzimmers und deutscher Gemütlichkeit. Ebenso erhellend ist ein Aquarell von Karl Ludwig Kaaz aus dem Jahr 1809, auf dem der später strenge Gelehrte mit offenem Hemdkragen, wilden Locken und Oberlippenbärtchen wie ein Dandy aussieht. Passend dazu sein Spazierstock aus Rohr mit Elfenbeinkugel. Es gibt noch sehr viel mehr zu sehen: Ölbilder, Grafiken, Federzeichnungen, Karikaturen, Fotografien, Daguerreotypien, Gedenkmünzen, Plastiken, Bronzebüsten, Medaillen, Briefmarken, Manuskriptbände, Tagebücher, Reiseberichte, Briefe von und an Schopenhauer et cetera, et cetera. Aber schon jetzt sind viele Stücke nur noch als Fotografie zugänglich, während die Originale im Keller stehen. Nach dem Umzug des Archivs wird alles auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Das in der Kulturplanung der Stadt so gut wie unbeachtete Schopenhauer-Archiv wird größtenteils von Gelehrten und Studenten besucht, die über Leben und Werk des Philosophen arbeiten. Immerhin aber machen Literaturtouristen aus Japan, Korea, Australien, Italien, Spanien und Frankreich über 30 Prozent der Besucherzahlen aus, wobei die philosophiebegeisterten Asiaten besonders stark vertreten sind. Warum erkennen Frankfurts Stadtväter nicht wenigstens das touristische Potenzial, das ihnen eine Figur wie Schopenhauer bietet? Warum hat die Stadt nur Platz für einen Dichter und Denker? Meist belehrt uns erst der Verlust über den Wert der Dinge. Sagt Schopenhauer, als wüsste er um die Verhältnisse in Frankfurt.

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