Migration, Klima, Corona, Ukraine - Zu unserer gegenwärtigen Krisenerfahrung: Die schwere Decke

Unsere Gesellschaft durchläuft eine multiple Krisenerfahrung, die systematisch beschrieben und analysiert werden kann. Identitätspolitik, lineares Denken und Digitalisierung bilden die Basis, aber Hypermoralismus, Konformismus, Angst und Szientismus stellen den tragenden, notwendigen Kontext. Die Lösung kann nur sein: angstfreie Kommunikation, kritisches Hinterfragen, offener Streit und Identifikation von Interessen, statt Prahlen mit der richtigen Moral.

Eine schwere Decke legt sich über das Land / dpa
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Autoreninfo

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).

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Es knirscht gewaltig zur Zeit, in manchen Familien, im Freundeskreis. Masken auf, Masken ab, schwere Waffen oder nicht, Klima, Gendern, schnell fällt „das will ich mir nicht anhören“, man geht sich fortan aus dem Weg. Andererseits ist man überrascht, mit bislang Entfernten oder gar Fremden eine erstaunliche Übereinstimmung feststellen zu können, bekannte Trennlinien verlieren ihre Sichtbarkeit, das Rechts-Links-Schema kommt zur Seite, der Esoterik-Gradient wird auf „Pause“ gesetzt, Beruflichkeit tritt zurück – denn mitten im Raum steht eine tiefgehende Sorge.

„Ich habe immer an unsere Gesellschaft geglaubt“, lautet der typische erste Satz, aber die Dinge entwickelten sich in die falsche Richtung. Die politische Lösungskompetenz sei nicht erkennbar, die Strategie fehle, „einen Sinn ergibt das alles nicht“. Das Gefühl einer allgemeinen Ausweglosigkeit macht die Runde, man könne sich nur zurückziehen, eine schwere Decke legt sich über das Land.

Krisen werden immer häufiger aus der identitären Perspektive betrachtet

Diese Beobachtung ist nicht nur kursorischer Natur, sondern wird in Umfragen bestätigt. 49% der Bevölkerung sind laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage davon überzeugt, dass sich heute verschiedene Ansichten unversöhnlich gegenüberstehen, dass also ein Gespräch keinen Sinn macht. Und die Tendenz, die gesellschaftlichen Fragen lieber top-down zu regeln wie früher in Bürokratien üblich, aggraviert die Situation.

Natürlich ist es attraktiv, wieder „durchregieren“ zu können, aber ob es funktional ist, darf bezweifelt werden (siehe auch: „Das neue lineare Denken“). Erschwerend kommt hinzu, dass unsere Krisen immer häufiger aus der identitären Perspektive einzelner Gruppen diskutiert werden. Die „Identitätspolitik“ stammt ursprünglich aus dem rechten Spektrum (z.B. der Ethnopluralismus französischer Prägung: jedem das Seine, aber bitte anderswo), hat aber mittlerweile das linke, „woke“ Spektrum erreicht. Heute liegt der Hauptwiderspruch bei der Zigeunersauce, so Ralf Stegemann, während über die sozialen Unterschiede kaum noch jemand redet.
 

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Allerdings führt dieser Ansatz ebenso wenig zu einer konstruktiven Bewältigung der Situation wie die neu entstandene Vorliebe für Linearität, zu sehr ist er durch seine programmatische Zersplitterung kompromittiert, denn wodurch er die Gesellschaft spaltet (weil jeder nur sein Eigen sieht), scheidet er aus als gesamtgesellschaftliche Kraft. Die „Verzäunung der Debatte“ mag beeindruckend daherkommen, fasste es die FAZ vor einigen Jahren zusammen, aber hinter dem Zaun herrscht gähnende Leere. 

Das lineare Denken bereichert mit seiner Durchgriffs-Illusion

Dazu die Digitalisierung: auf den ersten Blick ein guter Kandidat für die eigentliche Ursache der gesellschaftlichen Kommunikationsstörung. Natürlich ist die Infantilisierung durch den starr auf das Display der „Endgeräte“ (Sibylle Berg) gerichteten Blick ein wichtiger Faktor, dazu die Verhaltens- und Wissenssteuerung durch KI-vorgeformte Kommunikation und die offensichtlich übermächtige Attraktivität des „Nudging“ à la Sozialkredit-System nach chinesischem Vorbild, heute schon in Bologna und Wien eifrig kopiert. Weit verbreitet ist ja die Ansicht, der Digitalisierung wohne ein eigener Odem inne, sei ein aktiver Spieler mit eigenen Zielen, die aus dem Inneren an die Oberfläche drängen. Aber sie bleibt ein Mittel der technischen Prozessgestaltung, schwer vorstellbar, dass allein daraus das Wesen der jetzigen Situation abzuleiten ist.

So stellen Identitätspolitik, lineares Denken und Digitalisierung noch keine hinreichende Antwort auf die eingangs geschilderte „Sorge der Ausweglosigkeit“ und die erlebte Unversöhnlichkeit dar. Man hat fast den gegenteiligen Eindruck, denn Identitätspolitik entlastet ungemein (die Schlechten sind die Anderen), das lineare Denken bereichert mit seiner Durchgriffs-Illusion und die Digitalisierung verbreitet gute Laune mit seinem Steuerungs-Versprechen (außerdem liebt jeder sein Smartphone). Woher also die „schwere Decke“? Es fehlen wichtige, stabilisierende Kontextfaktoren. 

Provokante Fragen werden unterdrückt

Wenn man sich hierzu die politische und kulturkritische Literatur seit Mitte des letzten Jahrzehnt anschaut, fallen zwei Begriffspaare ins Auge, die immer wieder angeführt werden und sich gegenseitig verstärken: Moralismus und Konformität auf der einen Seite, Angst und Wissenschaftsgläubigkeit auf der anderen Seite. Moralismus beschreibt das werteorientierte Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge, wird uns unter dem Mantel der Wertegemeinschaft immer wieder nahegebracht und ist in der Lage, gerade in seiner gesteigerten Form (Hypermoralismus), jegliche kritische Reflexion unerwarteter Fakten und provokanter Fragen zu unterdrücken.

Wenn ein Gesundheitsminister „200 Tote jeden Tag“ beklagt, dann ist jede Diskussion über einen Lockdown beendet, jede Suche nach Alternativen abgebrochen, denn wer möchte schon als Totschläger und Menschenverächter dastehen? Es spielt dann keine Rolle mehr, ob es sich wirklich um Todesfälle durch Sars2 handelt oder nicht, es bedarf keiner weiteren Faktensuche, Auseinandersetzung, Wirkungsanalyse. Bei den Rechthabenden allerdings, dessen muss man sich klar sein, hat ein hypermoralisches Vorgehen eine durchgreifende Wirkung im Sinne der Selbstlegitimierung: Wir sind die Guten, wir können uns allein durch unsere Ansichten von den „Anderen“ abheben. 

Dem Hypermoralismus zur Seite steht der Konformismus oder die Political Correctness. Die moralischen Wertsetzungen werden durch Regeln zum Verhalten und zum Sagbaren verstärkt, anderenfalls droht Ausschluss. Die Diskussion hat mittlerweile Deutschland erreicht, die Fälle von Cancel Culture und De-Platforming bzw. von akademischer Verbannung (Dieter Schönecker) nehmen rapide zu. Das kürzliche Beispiel von Ulrike Guérot, die vor dem Hintergrund ihrer umfangreichen fachlichen und wissenschaftlichen Arbeit in den öffentlichen Medien völlig verständliche Fragen zur Strategie im Ukraine-Krieg stellte und in der Folge vom ASTA der Universität Bonn „missbilligt“ wurde – man ahnt, wo das enden soll.

Hypermoralismus und Konformismus mit großer Durchschlagkraft

Diese Regeln der Political Correctness zu befolgen, ja sie überhaupt zu kennen, hat sich mittlerweile zu einer Art Schlüsselqualifikation entwickelt, will man seine Position behaupten, Fördergelder beantragen, will man überhaupt zur öffentlichen, fachlichen und wissenschaftlichen Diskussion zugelassen werden. In einer alarmierenden Umfrage unter Studenten der Frankfurter Universität im Jahr 2020 gaben ein Drittel an, dass sie Einschränkungen der Meinungsfreiheit positiv gegenüberstehen würden, es solle erlaubt sein, entsprechende Bücher aus den Universitätsbibliotheken zu entfernen.

Beide Faktoren, Hypermoralismus und Konformismus, entwickeln bereits heute eine große Durchschlagkraft. Beide sind auch hervorragend zur sozialen Distinktion geeignet, zusammen mit Ausbildung und Internationalität formen sie die kulturelle Hegemonie der selbsternannten „Tugendelite“ aus, die sich nicht mehr durch dinglichen Besitz allein, sondern durch die richtigen Ansichten definiert. Man kauft beim Biobäcker, wohnt verkehrsberuhigt und kann – hier wird das „kulturelle Kapital“ durch finanzielles ergänzt – die energiesanierten Wohnungen in den Innenstädten bezahlen. Allerdings haben Moralismus und Konformismus eine Achillesferse: Sie sind in der letzten Konsequenz nicht krisenfest, vor allem wenn es um disruptive Krisen à la Zeitenwende geht. Denn darum ging es in der letzten Zeit: Migration, Klima, Finanzmarkt, Corona, Ukraine.

Ein Lehrstück für den Einsatz des Angst-Mechanismus

In drastischen Krisensituationen bedarf es noch zweier weiterer Mechanismen zur Absicherung einer entsprechend geführten Gesellschaft, nämlich Angst und Wissenschaftsgläubigkeit (Szientismus). Angst ist das wirksamste Prinzip, um Kontrolle zumindest mittelfristig zu stabilisieren, auch wenn ein rationales, auf Überprüfbarkeit basierendes Konzept fehlt. Wir erinnern uns, die Bilder aus Bergamo und das „Erstickungsnarrativ“, BMI-Prognose von 1,2 Millionen Tote zu Weihnachten 2020 und die Mahnung an die Kinder, doch bitte nicht die Großeltern umzubringen (durch fehlerhaftes Verhalten). So war und ist die Sars2-Epidemie ein Lehrstück für den Einsatz des Angst-Mechanismus.

Erstaunlich deutlich zeigt die Epidemie aber auch dessen Grenzen auf: Mit Angst allein kommt man nicht weit, denn man müsste dann die angstauslösenden Stimuli sehr oft wiederholen, wodurch sie aber nicht glaubwürdiger werden, und es droht ein carving out, ein Wirkverlust, ein Nebenher von Angst, vergeblicher Kontrolle und Ausweichbewegungen. Hier begründet sich die Kombination mit den vorgenannten Prinzipien des Konformismus und Hypermoralismus, die idealerweise – wie in der gegenwärtigen Situation geschehen – bereits existent sind. Nur ein letzter Baustein fehlt noch, sozusagen der Schlussstein des gesamten Szenarios, die Beantwortung der letzten Frage, die letzte Gewissheit, so wie früher der Religion zugewiesen: die Wissenschaftsgläubigkeit.

Konsequenzen eines falschen Wissenschaftsverständnisses 

Follow the Science, lautet der aktuelle Slogan, in der Klimakrise für manche Aspekte auch nicht ohne Sinn. Allerdings wird die Forderung, auf die Wissenschaft zu hören, maßlos überzogen, denn „die“ Wissenschaft ist ein Phantom, nein, mehr noch: eine sich selbst widersprechende Konstruktion. Wissenschaft ist ein unendlich fortschreitender Prozess der Erkenntnis, die von der Falsifizierung von Hypothesen zur Falsifizierung nächster Hypothesen fortschreitet und von Fragen lebt, nicht von Gewissheiten. So integer manche Vertreter von Follow the Science sein mögen, ihre Forderung ist am Ende falsch und scholastisch. Richtig wäre allein ein Diktum wie „challenge the science“ – immerwährende Infragestellung, das macht Wissenschaft aus.

Auf die sich selbst disqualifizierenden Versuche mancher wissenschaftlicher Vertreter, andere Wissenschaftler zu desavouieren und ihnen über die Medien mangelnde „Wissenschaftlichkeit“ vorzuwerfen, ist eine Konsequenz aus diesem falschen Wissenschaftsverständnis (und ein Schandfleck dazu). Dieser Szientismus multipliziert sich noch mit der Forderung, „die“ Politik müsse auf „die“ Wissenschaft hören, müsse wissenschaftliche Erkenntnis eins zu eins übernehmen.

Hierzu nur ein einziger Aspekt: Die politische Praxis hat nicht die Aufgabe, einen „Wahrheitsstaat“ zu errichten, sondern die Gesellschaft unter Optimierung von Kompromissen zwischen unterschiedlichen Zielen optimal durch die Zeit zu bringen. Auch in den Gesundheitswissenschaften war immer klar, dass die harte Evidenzbewertung durch die evidenzbasierte Medizin nicht linear auf eine „evidenzbasierte Politik“ zu übertragen ist, sondern dass ergänzend die Präferenzen der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Gruppen Berücksichtigung finden müssen (so wie die Patientenpräferenzen im Behandlungsprozess übrigens auch).

Identifikation von Interessen statt Prahlen mit der richtigen Moral

Hier schließt sich der Kreis. Die im persönlichen Gespräch und in den Umfragen geschilderte Sorge zur „schweren Decke“ ist nicht unberechtigt, die gegenwärtige Krisenerfahrung kann systematisch beschrieben und insofern analysiert werden. Identitätspolitik, lineares Denken und Digitalisierung bilden die Basis, aber Hypermoralismus, Konformismus, Angst und Szientismus stellen den tragenden, notwendigen Kontext. Insofern lohnt es sich, die Sorgen ernst zu nehmen. Und die Lösung kann nur sein: angstfreie Kommunikation, kritisches Hinterfragen, offener Streit um den besten Weg, und auch: Identifikation von Interessen statt Prahlen mit der richtigen Moral. Die Alternative wäre, so Thomas Assheuer vor wenigen Wochen in der Zeit, der Marsch in den neofeudalen Maßnahmestaat.

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