Marcel Proust - Der letzte Individualist

Vor einhundert Jahren starb Marcel Proust in Paris. Sein Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist noch immer ein Meisterwerk der Moderne. Proust selbst indes hat sich in dem Buch zu einem Fürsprecher des emanzipierten Individuums gemacht.

Der Grabstein von Marcel Proust. Vor 100 Jahren starb der bedeutendste Chronist seiner Zeit / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Die literarische Moderne, sie begann mit einem tiefen Gefühl der Trauer und dem melancholischen Bewusstsein eines umfassenden Verlusts. Die literarische Moderne, sie begann „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Sie begann mit Marcel Proust.

Kein anderer Schriftsteller hat so klar und umfassend, so ergreifend, aber auch so ironisch gegen die rasende Beschleunigung angeschrieben, die zum Signum jener Epoche wurde, die wir Moderne nennen. In wenigen Jahrzehnten wuchsen Millionenstädte aus dem Boden, verbunden durch Telegrafen und Eisenbahnlinien. Immer weiter fraßen sich die Fabrikviertel in die Landschaft, immer schneller entwickelte die Industrie neue Produkte und neue Verfahren, immer rascher präsentierte die Wissenschaft neue, faszinierende Erkenntnisse über die Welt.

Festgenagelt im Jetzt

In Prousts Lebenszeit reduzierte sich die Zeit für die Überquerung des Atlantiks von acht auf vier Tage. Und auch das Leben auf den Straßen wurde schneller. Gab es in Frankreich im Jahr 1900 lediglich 3000 Automobile, so waren es bei Kriegsbeginn 1914 bereits 100.000. Man gibt sich dem Rausch der Geschwindigkeit hin. Der Mann am Steuer wird zur Ikone des Zeitalters.

Und mittendrin in diesem gewaltigen Kult des Schneller und Weiter lebt Marcel Proust und bemerkt eindringlicher als die meisten anderen, dass nicht nur Dinge sich auflösen – Landschaften, Gärten, Dorfansichten und Flussläufe –, sondern dass in diesem gewaltigen Taumel die Zeit selbst verloren geht. Wo ganze Gesellschaften, eine ganze Kultur sich im Delirium des Tempos befindet, löst sich sogar die Zeit auf und degeneriert zum Termin, zur Frist, zum Date.

Doch nicht nur die Zeit verschwindet, auch die Erinnerung an sie vergeht. Denn Zeit offenbart sich in den Gefühlen, die ein Lied nach Jahrzehnten in einem hervorruft, in den Erinnerungen, die ein Parfümduft heraufbeschwört oder der Geruch des Stadtparks an einem regnerischen Novembertag. Zeit wird erst begreifbar, wenn aufgrund einer sinnlichen Erfahrung das Gestern wiederaufersteht aus den Verästelungen des Nervensystems. „Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde“, heißt es an einer bekannten Stelle des siebten Bandes der „Recherche“, „sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß“.

In einer Epoche der rasenden Beschleunigung, in der das Drastische, das Grelle und Laute immer mehr das Leben bestimmen, ist dieser Zugang zur Zeit zunehmend verschlossen. Nicht nur die Erinnerung, auch die Zeit selbst geht verloren. Der Mensch der Moderne findet sich festgenagelt im obszönen Jetzt.

Als Marcel Proust am 10. Juli 1871 in Auteuil, einem Teil des heutigen 16. Arrondissements am Bois de Boulogne, zur Welt kommt, erholt sich Frankreich soeben von den größten Erschütterungen seit der großen Revolution. Im September 1870 musste Napoleon III. in Sedan kapitulieren, in Paris hatte man die Dritte Republik ausgerufen – einen Tag nach der Hochzeit von Prousts Eltern. Im März des folgenden Jahres schließlich konstituierte sich die Pariser Kommune, die im Mai blutig niedergeschlagen wird. 

Chronist der Oberschicht

Die Gesellschaft der Dritten Republik, sie ist von vornherein zutiefst gespalten. Auf der einen Seite stehen die Arbeiter, die kleinen Handwerker und Angestellten mit deutlichen Sympathien für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Auf der anderen Seite befinden sich die Aristokratie und die Pariser Bourgeoisie, deren Lebensstil weit über Frankreich hinaus zum Inbegriff von Eleganz und Noblesse werden wird, zum Sinnbild jener Belle Époque, deren bedeutendster Chronist Marcel Proust wird.

Seine manchmal manische Fixierung auf das Leben der Reichen und mitunter Schönen hat Proust später viel Kritik eingetragen, insbesondere von linken Autoren. Jean-Paul Sartre etwa warf Proust schlicht „bourgeoise Propaganda“ vor. Andere Intellektuelle hieben in dieselbe Kerbe und ziehen Proust des Snobismus und Ästhetizismus.

Dieser Vorwurf ist so weit berechtigt, als Proust die ganze Pracht, die Finesse, aber auch die Attitüde und Arroganz der Pariser Oberschicht der Belle Époque detailliert und mit viel Liebe beschreibt. Er schwelgt in ihr. Zugleich aber bleibt der Erzähler, sosehr er sich an den Details der Arrangements und Inszenierungen, der Salons und Gärten berauscht, auch immer außen vor. 

Zugang zum Salon der Reichen und Schönen

Die „Recherche“, das wird mitunter vergessen, ist die Dokumentation einer Visitation, einer Recherche im beinah journalistischen Sinne des Wortes, die dem Ich-Erzähler den Zugang zu seinem Romanprojekt verschaffen soll und ihn durch Salons, Theater und sieben Bände mit ungefähr 4000 Druckseiten führt. Die „Recherche“ ist auch ein Roman über den Versuch, Künstler zu werden.

Insofern ist Prousts Monumentalwerk keine Apotheose eines dekadenten Ästhetizismus, sondern die Chronik einer Gesellschaft, die einem Fanal entgegenwankt. Dabei ist Proust reflektiert genug, die Faszination nicht zu verhehlen, die der Lebensstil in den Salons und Gesellschaften des Paris um 1900 auf ihn ausübt. Doch anders als die vielen hundert anderen Personen des Romans spürt der Ich-Erzähler, dass er einer schon untergegangenen Welt beiwohnt, einer Welt, die er festzuhalten sucht, indem er jener verlorenen Zeit nachspürt, die die Voraussetzung für seinen geplanten Roman ist. 

 

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Die Familie, in die der kleine Marcel ­Proust hineingeboren wird, ist nicht untypisch für die französische Oberschicht der Dritten Republik. Der Vater, Adrien Proust, entstammt der Provinz, geht nach Paris, um Medizin zu studieren, und wird dort ein angesehener Wissenschaftler, Epidemiologie und Facharzt für Lungenkrankheiten. Den Aufstieg ins Großbürgertum schafft der pflichtbewusste Leistungsethiker jedoch erst durch die Hochzeit mit der aus jüdischem Geld­adel stammenden Jeanne Weil. Deren Familie stammt mütterlicherseits aus Trier. Ihr Vater ist Börsenmakler, ihre Mutter regelmäßiger Gast in den berühmten Salons ihrer Zeit. Durch sie bekommen Jeanne und ihr späterer Sohn die Liebe zum Theater und zur Literatur vermittelt, insbesondere zu den Werken des Grand Siècle.

1882 tritt Marcel in das Lycée Condorcet ein, wo er unter anderem ­Jacques Bizet, den Sohn des Komponisten Georges Bizet, und Alfred Dreyfus kennenlernt, der zwölf Jahre später Auslöser und Opfer der berühmten Dreyfus-Affäre werden wird. Über ­Jacques Bizet findet der junge Proust Zugang zu dem berühmten Salon von dessen Mutter Geneviève Halévy. Dort verkehrt der Hochadel, etwa Alice Duchesse de Richelieu, die spätere Fürstin von Monaco, die Com­tesse Laure de Chevigné, eine geborene de Sade, oder die für ihre Schönheit berühmte Comtesse Greffulhe, aber auch Autoren wie Guy de Maupassant oder Künstler wie Edgar Degas. 

Der Archetyp des Künstlers

Es ist diese Gesellschaft, deren Niedergang Proust ebenso elegisch wie detailverliebt und nicht ohne Ironie in seinem Jahrhundertroman entfaltet. Auf der einen Seite steht dabei die Aristokratie, insbesondere der Herzog Basile de Guermantes, seine Gattin Oriane, sein Neffe Robert de Saint-Loup und der Bruder des Herzogs, der Baron de Charlus, eine beeindruckende Gestalt vollendeten ästhetisierenden Dandytums.

Dieser Hocharistokratie gegenüber steht ein stark jüdisch geprägtes Großbürgertum, insbesondere Charles Swann, dessen Liebe zu der Kurtisane Odette de Grécy weite Teile des Romans ausmacht, und die Familie Bloch.

Der Klassenkampf zwischen beiden Milieus findet nicht mehr auf der Straße statt, sondern in den Salons, nicht mit politischen Parolen und Bannern, sondern mittels des hoch verfeinerten Codes der gesellschaftlichen Konventionen. Dass in dem letzten Band des Romans Proust den Arzt Doktor Cottard die Princesse de Guermantes heiraten lässt, macht dabei exemplarisch deutlich, wie sehr die Standesregeln nach Dreyfus-Affäre und Erstem Weltkrieg aufgeweicht sind. 
Prousts Roman ist auch ein Meisterwerk beobachtender Soziologie.

Neben Aristokratie und Bourgeoisie führt Proust noch einen dritten gesellschaftlichen Typus ein: den Künstler. Der Maler Elstir, der Schriftsteller Bergotte und der Musiker Vinteuil symbolisieren den eigenständigen, produktiven Geist, der sich der brutalen Mechanik der gesellschaftlichen Transformationsprozesse verweigert und diesen anonymen Kräften Kreativität und Subjektivität entgegensetzt.

Das fragmentierte Ich

So gesehen, ist Prousts Roman ein zutiefst romantisches Werk. Wie die Romantiker um 1800 stellt er der Moderne und ihren technischen wie sozialen Veränderungen den Blick in das Innere des kreativen Ichs entgegen. Diese Reise ins Innere soll dabei nicht nur vor den Zumutungen einer ordinären Gegenwart schützen, sondern zugleich eine tiefere Wahrheit enthüllen und im Kunstwerk eine überzeitliche Gegenwelt schaffen.

Anders als die Romantiker des späten 18. Jahrhunderts ist Proust jedoch ein Zeitgenosse des frühen 20. Jahrhunderts. Er weiß, dass es das eine, monolithische und irreversible Ich nicht gibt. In der industriellen Moderne erweist sich die Idee eines homogenen Ichs als obsolet. Das Ich des modernen Menschen ist zersplittert, fragmentarisch, ein sich permanent veränderndes Kaleidoskop, das sich in unzählige farbige Figuren auflöst. Und auch die Flucht in die Natur oder eine mittelalterliche Vergangenheit erweist sich nunmehr als unmöglich.

Die Einheit des Ichs lässt sich für Proust allenfalls aufgrund kurzer Erinnerungssplitter herstellen, die für einen Moment die Vergangenheit in all ihren Facetten in einem aufsteigen lassen und sie mit der Gegenwart zu einem beglückenden Ganzen verbinden. Am deutlichsten wird das in der berühmten Madeleine-Episode aus dem ersten Band der „Recherche“. An einem trüben Wintertag bekommt der Erzähler von seiner Mutter eine Tasse Tee mit einer Madeleine serviert. Als er einen Löffel Tee zusammen mit einem kleinen Stück des Gebäcks an seine Lippen führt, passiert es: „Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. (…) es vollzog sich damit in mir, was sonst die Liebe vermag, gleichzeitig aber fühlte ich mich von einer köstlichen Substanz erfüllt: oder diese Sub­stanz war vielmehr nicht in mir, sondern ich war sie selbst.“

Ein Angriff auf das Individuum

Mit analytischer Schärfe versucht der Erzähler dem Phänomen auf den Grund zu gehen, seine Empfindungen zu rekonstruieren, sie zu wiederholen, sie gedanklich auf das Wesentliche zu reduzieren. Und mit einem Mal ist die Erinnerung da, an jene Madeleine, die ihm seine Tante Léonie sonntagmorgens in Combray zu reichen pflegte. Aus der Tasse Tee steigen nun „alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung“ auf.

Eine Erinnerung, so wird klar, ist eben kein Solitär. Mit ihr steigt eine ganze Welt aus dem Dunkel des Vergessens auf. Erst in dieser komplexen und umfassenden Erinnerung ist der Einzelne, ist das Individuum ganz bei sich. Und das bedeutet umgekehrt, dass der Siegeszug der dahinrasenden Moderne und der damit einhergehende Verlust der Zeit einen Angriff auf das Individuum selbst darstellen. Diesem Verlust an Individualität und Kreativität kann allein der Künstler entgegenarbeiten. 
Die Madeleine-Episode, obwohl im ersten Band der „Recherche“ beschrieben, spielt im Jahr 1919, also während jener Ereignisse, die im abschließenden siebten Band erzählt werden. Dessen Titel lautet bezeichnenderweise: „Die wiedergefundene Zeit“ („Le Temps retrouvé“).

Von einem längeren Sanatoriumsauf­enthalt kehrt der Erzähler Marcel 1916 nach Paris zurück. In den Salons regiert nicht mehr der Geist, sondern der Chauvinismus. Parvenüs geben den Ton an. Aus sanftmütigen Pazifisten sind mit einmal bramarbasierende Sandkastenstrategen geworden. Der Krieg hat sich in die Gehirne der Menschen hineingefressen. Und nicht nur dort.

Rettung durch die Madeleine

Durch Zufall entdeckt er ein S/M-Bordell für Homosexuelle und wird Zeuge, wie Baron de Charlus, gefesselt an ein Bett und blutüberströmt, sich über die Harmlosigkeit der dort tätigen Jungs beschwert: „Er ist sehr nett und tut, was er kann. Doch ich finde ihn nicht brutal genug.“ Die jungen Männer, die dort arbeiten, sind zumeist Soldaten auf Fronturlaub. Krieg, Lust, Gewalt und Sex haben sich ineinander verwoben. Als Marcel aus dem schmierigen Ambiente fliehen will, zwingt ihn ein deutscher Zeppelinangriff, noch einige Stunden mit der Kundschaft des Etablissements zu verweilen. 

Als Marcel Jahre später erneut von einem Sanatoriumsaufenthalt nach Paris zurückkehrt, befindet er sich auf dem Tiefpunkt seines Lebens. Ihn überfällt die Überzeugung, kein Dichter sein zu können. Die Landschaft, die während der Bahnfahrt an ihm vorüberzieht, sagt ihm nichts mehr. Die Zeit scheint endgültig verloren.

Doch einmal mehr retten ihn die Guermantes. Als er im Hof des guermantesschen Palais auf einen unebenen Pflasterstein tritt, schwindet seine Mutlosigkeit durch jene Beseligung dahin, die in früheren Zeiten der Anblick von Bäumen auf dem Weg nach Balbec, die Kirchtürme von Martinville oder der Geschmack der Madeleine bei ihm ausgelöst hatten. „Wie in dem Augenblick, in dem ich die Madeleine gekostet hatte, waren alle Sorgen um meine Zukunft, alle Zweifel meines Verstandes zerstreut.“

Ein Autor der Moderne

Und nun erkennt Marcel, was all die Glücksmomente, die das Erinnern in ihm auslöste, gemeinsam hatten. In ihnen verschmilzt die Vergangenheit mit der Gegenwart, und der Betrachter tritt so in einen Raum außerhalb der Zeit, um die Dinge in ihrer eigentlichen Essenz genießen zu können. „Dadurch erklärte sich, dass meine Sorgen um meinen Tod in dem Augenblick ein Ende gefunden hatten, in dem ich unbewusst den Geschmack der kleinen Madeleine wiedererkannte, weil in diesem Augenblick das Wesen, das ich zuvor gewesen war, außerzeitlich wurde.“

Wahrheit, so erkennt der Erzähler, gibt es letztlich nur in seinem Inneren. Zu glauben, Glück, Erfüllung oder Wahrhaftigkeit könne man in der Realität erfahren, ist eine Illusion. Man muss an ihr scheitern und unglücklich werden. Die Realität des Lebens liegt nicht im Handeln. Sie liegt in einem aus Symbolen, Hiero­glyphen und unbekannten Zeichen bestehenden Buch in unserem Inneren, bei dessen Lektüre uns keiner zu helfen vermag. Weil aber das Lesen in diesem Buch so unglaublich mühsam ist, fliehen die meisten Menschen lieber ins Belanglose, ins Jetzt, in die Gegenwart, ins Politisieren oder Moralisieren. Insbesondere für Künstler und Schriftsteller sei das jedoch fatal. Kunst dürfe niemals ideologisch sein oder gesellschaftlich relevant: „Wahre Kunst hat mit so zahlreichen Proklamationen nichts zu tun, sie erwächst in der Stille.“

Den Vertretern und Verehrern der literarischen Moderne und Avantgarde war Proust nie ganz geheuer. Rein formal muss er ohne Zweifel zur Moderne gezählt werden. Erzählperspektive, Erzählstil, der Verzicht auf einen detaillierten Plot zugunsten der Schilderung von Impressionen und inneren Stimmungen, das scheinbar unmotivierte Aneinanderreihen von irgendwelchen Eindrücken – all das kennzeichnet die „Recherche“ als Werk der Moderne.

Wirklich ein Autor der Moderne?

Doch anders als andere Vertreter dieser Epoche bejubelt Proust die Moderne nicht. Er verzweifelt vielmehr an ihr. Der in dem Roman geschilderte Entschluss, schließlich Schriftsteller zu werden, ist in einem tiefen Sinne reaktionär: Er ist eine Revolte gegen eine Epoche, die jeden Wandel als Fortschritt begrüßt und die an die hohlen Verspechen an eine bessere Zukunft glaubt, sich faktisch aber in einer ordinären Gegenwart eingerichtet hat. Das Kunstwerk wird hier zum letzten Widerstandsort gegen den Verlust der Zeit und die Erinnerung in einer von Technik, Fortschrittsglauben und rasender Beschleunigung geprägten Gesellschaft. 

Zugleich ist Prousts Roman ein Veto gegen den Kult der Gesellschaft. Nur im Individuum, nur dort, wo der Einzelne aus der Verbindung seiner Erinnerungen mit der Gegenwart eine ganze Welt schafft, entsteht Wahrhaftigkeit. Nur das Ich und seine innere Welt zählen.

Bei aller formalen Modernität ist ­Prousts Jahrhundertwerk somit ein zutiefst konservativer Roman. Er klagt die Moderne mit ihren eigenen Mitteln an, ohne sie jedoch zu verdammen. Proust weiß sehr wohl, dass es kein Zurück gibt in die Epoche der ländlichen Idyllen. Er weiß sogar, dass diese Bilder nur moderne Sehnsüchte sind. Umso wichtiger ist es, die Erinnerung an das zu bewahren, was einmal war und was unwiederbringlich verloren gegangen ist. Denn anders als moderne Ideologen meinen, ist der Mensch kein geschichtsloses Wesen, ohne Herkunft, ohne Vergangenheit, ohne Heimat und ohne Wurzeln. Wäre er das, er wäre kein Mensch, sondern ein Zombie, ein Spielball der Gesellschaft und der Konzerne. Nur seine Vergangenheit, seine Herkunft und Erinnerung machen den Einzelnen zu einem Individuum, das in der Lage ist, sich zu emanzipieren und wirklich frei und autonom zu sein.

In diesem Sinne ist Prousts Werk ein großes, liebevolles und leidenschaftliches Plädoyer für das Individuum. Vielleicht ist es heute wichtiger denn je.

 

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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