Literaturen im Mai - Politik, Pompeji, Pandas

Der Historiker Timothy Garton Ash gibt eine lesenswerte britische Perspektive auf den europäischen Kontinent, Eugen Ruge entdeckt das antike Pompeji wieder, und Fran Lebowitz schreibt erstaunlicherweise über Tiere und Kinder.

Literaturen im Mai / dpa
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Identität und Differenz

Der britische Historiker Timothy Garton Ash verflicht in seinem Europa-Buch gekonnt und eindringlich persönliche Erinnerungssplitter mit den großen Geschichten des Kontinents.

Timothy Garton Ash ist Professor of European Studies an der University of Oxford. Der 1955 geborene Historiker gehört zur ersten Nachkriegsgeneration, für die das Reisen kreuz und quer durch den Kontinent wieder eine Möglichkeit war, nachdem es im alten, 1918 untergegangenen Europa zumindest für den Adel und das gehobene Bürgertum schon zu den Selbstverständlichkeiten gehört hatte. Deshalb ist Europa für Garton Ash voller teils sentimentaler, teils komischer, nie jedoch trivialer Erinnerungen. Es ist Teil seiner persönlichen Geschichte, so wie es zu der unzähliger heute lebender Europäer gehört. Diese Geschichte hat er jetzt aufgeschrieben, und dafür ist Garton Ash zu danken. 

Im zweiten, „Geteilt“ überschriebenen Abschnitt des Buches berichtet der Verfasser davon, wie er sich den alten Kontinent, ausgehend von Frankreich, als Jugendlicher erobert hat. Er erzählt von einem Familienurlaub in der Normandie, an den Stränden, an denen sein Vater am D-Day 1944 an der Landung der Alliierten teilgenommen hatte. Der grün-weiße Hillman Super Minx der Familie sei „in den Bauch eines gedrungenen, krötenartigen Fährflugzeugs geladen“ worden, dann habe sein Vater „großen Gefallen daran“ gefunden, „die Strapazen eines Feldzugs so genau wie möglich nachzustellen“. Der Kontakt zu Einheimischen habe sich auf ein „absolutes Minimum“ beschränkt und im Wesentlichen aus „freundschaftlichem gegenseitigem Unverständnis“ bestanden.

Britischer Blick

So kann nur ein Brite über seinen ersten Kontakt mit „Europa“ referieren, diesem für die Insulaner fremden Kontinent jenseits des Ärmelkanals. Die englische Originalfassung des Buches heißt „Homelands“ und verdichtet damit noch besser als der deutsche Titel die Spannung zwischen Identität und Differenz, die Europa ausmacht und die der deutsche Historiker Frank-Lothar Kroll unlängst in einem Buch beschworen hat, das genauso lesenswert ist wie das hier zu besprechende. Auf dem Cover der Originalausgabe prangt übrigens ein Auto, das so ähnlich aussieht wie das, mit dem sich die Familie Garton Ash in den 1960er-Jahren auf den Weg nach Frankreich machte.

Ob britisch oder nicht: Ungezählte junge Europäer haben vor rund 50 Jahren ähnliche Europa-Erfahrungen wie der Historiker Garton Ash gemacht. Die Generation meines eigenen Vaters, Jahrgang 1936, hatte sich in jugendlichem Elan an den ihre Länder trennenden Schlagbäumen zu schaffen gemacht. Für sie war Europa, nach den Verheerungen des Krieges, ein Sehnsuchtsort, den es zu erobern galt. Für die rund 20 Jahre Jüngeren war Europa selbstverständlicher geworden, aber nicht so, dass nicht doch die Fremdheitserfahrungen überwogen. Ich selbst, Jahrgang 1970, habe dieses Europa noch erlebt: ein Europa, an dessen Grenzen man Personalausweise vorzeigen musste und durch das man sich in unbequemen, streng riechenden Nachtzügen bewegte. Das Gefühl, Fremdwährung in Brustbeuteln durch die Gegend zu tragen, kenne ich auch, ebenso die Mahnung, in südlichen Gefilden bloß kein Leitungswasser zu trinken. Mein Sohn, Jahrgang 2001, kennt dieses Europa nur aus Erzählungen.

Garton Ash verflicht solche persönlichen Erinnerungssplitter, zu denen ihm immer wieder das sorgfältig geführte Tagebuch den Weg ebnet, gekonnt mit den großen Geschichten des Kontinents. Zwischen den Brennpunkten Rom und Aachen spannt er die Erzählung von der Einheit in Vielfalt auf, die er ausgerechnet mit dem lateinischen Wappenspruch der Vereinigten Staaten von Amerika eröffnet: e pluribus unum. Er ruft die einheitsstiftenden Mythen ins Gedächtnis wie den vom Kaiser Rotbart, der im Kyff­häuser vor sich hinschlummert, und unterstreicht die Bedeutung der katholischen Kirche als „erster internationaler NGO“.

Europa vor dem Ende?

Diese Geschichte hätte sich leicht in die noch fernere Vergangenheit der Antike verlängern lassen, denn das römische Imperium ist schließlich das letzte Gemeinsame, das alle Europäer vom Atlantik bis – über seine Rezeptionsgeschichte vermittelt – selbst noch nach Moskau und Istanbul verbindet. Zum milden Verdruss des Althistorikers kommt dieses Imperium in Garton Ashs Buch kaum vor. Europäische Geschichte ohne das ganz Andere der Antike stehe „auf einem Bein“, hat Christian Meier einmal sehr treffend bemerkt.

Mit derselben Eindringlichkeit wie die Neugier und Euphorie, die er als Jugendlicher erlebt hat, schildert Garton Ash in der zweiten Hälfte seiner Geschichte das wachsende Unbehagen an Europa. Er wendet den Blick nach Osten und beschreibt die Verwerfungen, die dort erst der real existierende Sozialismus und dann seine Überwindung auslösten: das Wegbrechen sozialer Netze und vorgezeichneter Lebenswege, die erfolgreiche Wendung der kommunistischen Nomenklatura zur wildwestkapitalistischen Oligarchenelite, die kulturellen und historischen Traumata. Der Leser erfährt auch, warum der als politisches Projekt gestartete Euro zum Scheitern verurteilt war: weil die Formel, nach der wirtschaftliche Integration die politische Integration nach sich ziehen musste, eben nicht aufging. „Wie Magma unter dem Vesuv“ habe die Krise unter dem Jahrzehnt trügerischer Stabilität nach der faktischen Einführung des Euro 1998 gebrodelt.

Akribisch seziert Garton Ash die Geschichte der Versäumnisse, Missverständnisse und Illusionen, die Europa ins Taumeln gebracht und schließlich, mit Russlands Krieg gegen die souveräne Ukraine seit 2014 und wieder seit 2022, an den Rand einer „apokalyptischen Finsternis“ geführt haben. Ist der alte Kontinent also ein hoffnungsloser Fall? Das letzte Kapitel des Buches endet dort, wo das erste begonnen hat: in der Normandie, wo bei den letzten Präsidentschaftswahlen viele Bürger für eine erklärte Feindin des vereinten Europa gestimmt haben: Marine Le Pen. Garton Ash trifft sich mit einem ihrer Anhänger und bringt ihn bei mehreren Gläsern Wein nach drei Anläufen dazu, auf „L’Europe“ zu trinken. Für eine persönliche Geschichte Europas ist das vielleicht ein passender Schluss, für die noch lange nicht fertige Geschichte der europäischen Einigung ist es nach jetzigem Stand womöglich zu versöhnlich. Michael Sommer

Timothy Garton Ash: Europa. Eine persönliche Geschichte. Hanser, München 2023. 448 Seiten, 34 €

 

Angekündigte Katastrophe

„Wir schaffen das!“: Eugen Ruge sucht den heutigen Zeitgeist in der antiken Geschichte.

Eugen Ruge ist berühmt geworden als Autor zweier großartiger, zugleich zeithistorischer wie biografischer Romane, in denen er die bewegte Geschichte seiner Familie in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erzählt. Ruge, 1954 im russischen Soswa als Sohn eines von der Sowjetmacht in den Ural deportierten Deutschen geboren, erwies sich in seinen Büchern „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, 2011 erschienen und sogleich mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, und zuletzt in „Metropol“ aus dem Herbst 2019, als ein be­gnadeter Erzähler, dem es gelingt, sowohl die Atmosphäre vergangener Zeiten wieder aufleben wie die Innenwelten seiner originellen Figuren lebendig werden zu lassen. 

In seinem neuen Roman löst er sich von seiner Familiengeschichte und macht einen weiten Sprung zurück in die Vergangenheit, um, wie es sein neuer Verlag ankündigt, eine Parabel auf die Gegenwart zu schreiben, einen „fernen Spiegel“ zu schaffen, „in dem wir uns erkennen“.

Der Reiz ist die Uneindeutigkeit

Und was läge in Zeiten täglich beschworener Apokalypseszenarien aus Hitze, Waffen und Viren näher, als sich einem historisch verbürgten Weltuntergang zuzuwenden, den auch die Zeitgenossen schon als solchen empfanden: dem Ausbruch des Vesuvs, der im Jahr 79 die Stadt Pompeji unter sich begrub. Ruge hat für seinen Roman die Forschungsliteratur zum Vulkanismus studiert, mit Archäologen und Pompeji-Spezialisten korrespondiert und sich selbst zwei Wochen lang in der wieder ausgegrabenen und gut erhaltenen Ruinenstadt aufgehalten, die über 1500 Jahre unter einer dicken Ascheschicht begraben lag und deren Geschichte schon vor Ruge zahlreiche Autoren und Künstler in ihren Bann gezogen hat.

 

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Ruge erzählt die Geschichte des Aufsteigers Jowna, der als Kind von Kriegsflüchtlingen in der Unterschicht von Pompeji aufwächst und sich als Jugendlicher einer Aussteigerkommune anschließt, die sich vor den Toren der Stadt ansiedelt, weil sie im Gegensatz zu den meisten anderen Einwohnern Pompejis die Warnungen eines Vulkanologen vor einem möglichen Ausbruch des Vesuvs ernst nimmt. Jowna putscht sich mithilfe städtischer Geldgeber zunächst zum Anführer der Aussteiger, kehrt jedoch später korrumpiert der neu gegründeten Kommune den Rücken und in die akut gefährdete Stadt zurück, wo ihn schließlich beim Eintreten der angekündigten Katastrophe ein tödliches Schicksal ereilt.

Der große Vorteil des Romans ist, dass er sich nicht so leicht entschlüsseln lässt, sein Reiz ist seine Uneindeutigkeit, denn die Parallelen zur Gegenwart lassen sich vielseitig lesen. Doch auch wenn Ruge versucht, dem Zeitgeist durch einen Rückgriff in die antike Geschichte zu entfliehen, bleibt er ihm dennoch verhaftet, bleibt sein Roman das, was der Literaturkritiker Daniel Haas zuletzt als Fortsetzung „journalistischer Inhalte als Romangeschehen“ beklagt hat. Bei aller Sympathie dafür, antiken Protagonisten die zeithistorischen Floskeln „Wir schaffen das!“ und „Ich liebe euch alle!“ in den Mund zu legen und von „Fördergeldern“, „Gründergeist“, „Steuererleichterungen“, „Wohnungsbauprogrammen“ und Gratis-„Bratwurst“ im Wahlkampf in Pompeji zu lesen, muss man seinen tragikomischen Ansatz schon mögen.  René Schlott

Eugen Ruge: Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna. dtv, München 2023. 420 Seiten, 25 €

 

Traurige Pandas in New York

Fran Lebowitz’ All-age-Buch steckt voller Schlaumeiereien.

Das ist schon ein erstaunliches Buch. Weil Fran Lebowitz, glaubt man ihren Texten, weder Kinder noch Tiere mag. In einem ihrer früheren Essays erklärte die amerikanische Starkolumnistin, das einzig Erträgliche an Kindern sei die Tatsache, dass man in ihrer Gegenwart niemals den Duft schlechten Rasierwassers einatmen müsse. Tiere können eigentlich ganz weg, so Lebowitz in einer Glosse für Vanity Fair. Und was ist mit den Blinden und Einsamen, die auf Hunde angewiesen seien? Lebowitz’ Idee: Die Einsamen sollen einfach die Blinden durch die Gegend führen. 

Politische Inkorrektheit, Scharfsinn und ein eleganter, an Oscar Wilde geschulter Stil, damit wurde Lebowitz zur obersten Stil- und Kulturexpertin New Yorks. Wie Woody Allen besteht New York für Fran Lebowitz, geboren 1950, nur aus Manhattan. Der Rest der Stadt/des Landes/der Welt: irrelevant und dämlich.

Und nun dieses 96 Seiten umfassende All-age-Buch, von Ralf König mit lakonischer Knuffigkeit für den deutschen Markt illustriert. Der einzige fiktionale Text von Lebowitz, wobei man sich fragen kann, ob ihre rasend komischen, grundsätzlich pessimistischen Glossen und Essays nicht auch eine Spielart der Dichtung sind. Wenn ein Dandy die ganze Welt der Kulturferne überführt, sagt das womöglich mehr aus über den Dandy als über die Welt.

Großstadtpandas

Die Helden dieser mit vielen psychologischen Schlaumeiereien durchsetzten Geschichte: Charles, sieben Jahre alt, ein lesender Traumtänzer, der Vater ist Bankdirektor. Und Lisa Sue, ebenfalls sieben, ein so kluger wie herzlicher Tatmensch mit einem Geige spielenden Orchestermusiker als Vater.

Die beiden besten Freunde entdecken hinter der Speisekammer von Sues Elternhaus einen Geheimgang. Dort treffen sie auf zwei Pandas namens Pandämonium und Panda, der nicht dem Massengeschmack huldigen will. Die beiden Bären sind unglücklich, weil „uns die Leute, kaum dass sie uns sehen, fangen wollen, um uns in den Zoo zu stecken. Wir wollen das aber nicht. Wir wollen ein richtiges Großstadtleben. Wir wollen in Restaurants und Cafés gehen. Wir wollen ins Museum und ins Kino. Wir wollen herumlaufen und uns dabei unterhalten. Wir wollen uns in Hotellobbys verabreden und von da in Nachtclubs gehen und tanzen.“ 

Jeder Kulturbürger, der schon mal in der Provinz gestrandet ist, wird sich sofort identifizieren. Und die beiden Großstadtkids Charles und Lisa schreiten zur Tat. Man darf nicht zu viel verraten, weil der Evakuierungsplan von Pandämonium und Panda, der nicht dem Massengeschmack huldigen will so verstiegen wie plausibel ist. Orchestermusiker und Hunde spielen eine entscheidende Rolle. 

Wie bei jedem guten Märchen ist auch hier das Fantastische ohne Umschweife einleuchtend und muss nicht hinterfragt werden. Das gilt auch für den, sagen wir vorsichtig: spekulativen Zug des Textes. Die großartige Saft-Augen-Theorie von Charles zum Beispiel, die die besonderen Talente von Brillenträgern erklärt, muss sich wissenschaftlich einfach durchsetzen, weil sie für Sehbehinderte so tröstlich ist.

Mag Fran Lebowitz Kinder und Tiere? Egal. Viel wichtiger: Sie weiß, wie man sie mit Literatur zu Helden macht.  Daniel Haas

Fran Lebowitz: Mr. Chas und Lisa Sue treffen die Pandas. Rowohlt, Hamburg 2023. 96 Seiten, 20 €

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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