Kirchentag - Alles hat seinen Zeitgeist

Wie „queer“ ist Gott? Der zurückliegende Kirchentag hat viele Christen aufgeschreckt. Doch wie repräsentativ ist der woke Glaube wirklich? Ein Selbstversuch.

Spiegelt der Evangelische Kirchentag den Alltag in kirchlichen Gemeinden wider? / Lisa Rock
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Gideon Böss ist Roman- und Sachbuchautor und hat unter anderem über Religionen in Deutschland und Glücksversprechen im Kapitalismus geschrieben.

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Gott ist queer, Klimakleber und gendert. Zumindest ist es das, was von der Abschlusspredigt des Evangelischen Kirchentags in Nürnberg hängen geblieben ist. Nun wird den Protestanten zwar ohnehin seit langem vorgeworfen, eher eine Filiale des linken Zeitgeists als eine Gottes zu sein, aber selbst nach diesen Standards war das eine erstaunliche Rede. 

Oder etwa nicht? Was wird heute eigentlich in deutschen Kirchen gepredigt? Da nur etwa 5 Prozent der Kirchenmitglieder die Messe besuchen, ist das ein echtes Geheimnis. Zeit also, nachzusitzen und die Gedankenwelt deutscher Pfarrer und Pastoren kennenzulernen. Ich entscheide mich darum, sechs verschiedene Gemeinschaften zu besuchen; und das in Berlin, wo Christen längst nicht mehr die Mehrheit stellen. Druck und Konkurrenz sind also gegeben und somit ideale Voraussetzungen, um durch gelungene Messen Mitglieder zu halten.

Gendern auf Teufel komm raus

Los geht’s im Berliner Dom, jener größten Kirche des deutschen Protestantismus in unmittelbarer Nähe zu Spree und Humboldt-Forum. Erstaunlich unaufdringlich läuten die Glocken zur Messe; und schon beim Eintreten folgt die erste Überraschung. Trotz dramatisch sinkender Mitgliederzahlen ist der Dom gut gefüllt. Die Anwesenden erstrecken sich altersmäßig über die ganze Bandbreite an Lebensdekaden – von Jugendlichen bis Rentnern. Es gibt sogar Kinder, die aber schon bald zu einem Kindergottesdienst im Nebenraum wegkomplimentiert werden. 

Auf hohen Sockeln befindet sich die Hall of Fame der alten weißen Männer des Protestantismus: Martin Luther auf dem Ehrenplatz am Altar, der mit seinem Fundamentalismus heute ganz gewiss aus der evangelischen Kirche ausgeschlossen würde. Als die Predigt beginnt, steht der Pastor auf der Kanzel und erzählt die traurige Geschichte eines Gastgebers, der sich auf einen geselligen Abend freute und dann eine Absage nach der anderen kassiert. Wer kennt das nicht? Wobei, einer kam dann doch zur Party: Gott. „Du sitzt da und Gott sitzt auch da“, sagt der Pfarrer. Gesegnet, wer sich davon trösten lässt. 

So weit, so harmlos: Doch wo die Kirchentagspredigt ganz sicher schon Allgemeingültigkeit besitzt, ist in der Frage des Genderns. Die ProtestantInnen gendern auf Teufel komm raus. Sogar englische Worte werden „weggegendert“; so spricht der Pastor etwa von „Teamerinnen und Teamern“, wenn er die Gemeindebetreuer meint. 

Mit sieben Gästen zum Besucherrekord

Während das Abendmahl verteilt wird, kommt es zu Verzögerungen, bei denen sich erstmals der unschätzbare Wert einer Orgel erweist. Als eine gewisse Ungeduld spürbar wird, erdrückt sie diese mit majestätischem Gedröhne. Niemand will sich streiten, wenn dazu feierliche Kirchenmusik läuft. Auf diese Weise befriedet sie die Situation und irgendwann sind dann auch alle Wartenden versorgt – auch die junge Frau mit der „Gott m/w/d“-Tasche. 

Einen ganz anderen Eindruck habe ich drei Tage später bei den Altkatholiken. Als der Vatikan im 19. Jahrhundert entschied, dass der Papst in theologischen Dingen unfehlbar sei, hielten die Altkatholiken derlei Hochmut für einen Fehler und brachen mit der katholischen Kirche. Heute haben sie 70 000 Mitglieder und sind von Protestanten oft schwerer zu unterscheiden als von Katholiken. 

 

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Als ich die kleine Kirche in Schöneberg betrete, sehe ich viele freie Bankreihen und ganz vorne mehrere Gesichter, die sich erfreut zum unerwarteten Gast umdrehen. Die Pastorin bemerkt sogleich: „So viele sind wir sonst nie“, während durch mich die Zahl der Gottesdienstbesucher auf sieben angewachsen ist. Doch weil bald eine ältere Frau grußlos wieder aufsteht und geht, fallen wir erneut auf sechs zurück. Der Besucherrekord bleibt somit aus. 

Mehr Körpereinsatz bei den Katholiken

Da der Gottesdienst ins Internet übertragen werden soll, steht im Mittelgang vor dem Altar ein Stativ mit Kamera. Doch es scheint Probleme mit der Technik zu geben. Die Pastorin eilt mehrmals in ein Nebenzimmer. 18 Uhr ist schon vorbei, während sie immer noch mit der Technik ringt wie einst Jakob mit Gott. Etwas verspätet geht es schließlich los. Nach Gesängen, Bibellesungen und Gebeten folgt die Predigt.

Die Pastorin warnt davor, sich über die Anerkennung für gute Taten definieren zu lassen: „Geht es mir um Gott oder ist mein Selbstwertgefühl im Vordergrund?“, so solle man sich immer fragen. Danach wird ein Halbkreis gebildet. Hand in Hand stehen wir da. „Das geht heute, weil der Livestream defekt ist, sonst müssten wir eine Lücke lassen“, sieht die Pastorin das Gute im Schlechten. Das Abendmahl wird hernach gefeiert, wie im Fußballverein der Pokalsieg. Alle trinken nacheinander aus demselben Kelch, schütteln sich die Hände und beglückwünschen sich. 

Und damit steht auch schon der Besuch bei jenen an, die dem Papst auch im 21. Jahrhundert noch seine Unfehlbarkeit gönnen. In Berlin-Wil­mersdorf sitze ich im 18-Uhr-Gottesdienst. Es ist eine große, eine leere Kirche. Gut 30 Menschen haben sich versammelt. Dass sie die Einsamkeit lieben, und oft weit entfernt voneinander Platz nehmen, lässt sie wenig wie eine Gemeinschaft erscheinen. Dafür aber ist bei den klassischen Katholiken weit mehr Körpereinsatz im Spiel. Wo Protestanten ganz nüchtern sitzen bleiben, fiebern Katholiken mit, knien in ihren Bänken und bekreuzigen sich lieber dreimal zu oft als einmal zu wenig. 

Volles Haus bei den Piusbrüdern

Als aber der Pfarrer darum bittet, dass jemand aus der Gemeinde den Bibeltext des Tages vorträgt, tut sich lange nichts auf den Kirchenbänken. Es ist ein Geduldsspiel zwischen Hirte und Schäfchen. Doch der Pfarrer ist heute nicht bereit, als Erster zu zucken. Er hat Gottes Ewigkeit auf seiner Seite. Schließlich knickt die Gemeinde ein und entsendet eine Leserin zum Altar. 

Ob die Piusbrüder, die ich im Anschluss noch besuche, wohl auch so schüchtern sind? Piusbrüder sind auf gewisse Weise die Anti-­Altkatholiken, denn auch sie gründeten sich aus Protest gegen den Vatikan. Der nämlich gab in den 1960er Jahren den Anspruch auf, dass nur der Katholizismus göttliche Wahrheiten enthalte. Die Piusbrüder gingen diesen Reformweg nicht mit, was sie aus Sicht des Vati­kans bis heute zu Problemkatholiken macht.

Die Piusbrüder sind wie ein in Bernstein gegossener Katholizismus aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Eigentlich längst vergangen und doch auf ewig in diesem Behältnis konserviert. Es stellt sich heraus, dass dieser alte Katholizismus einen gewissen Reiz hat. Die Kirche ist voll. Übervoll. Mit Glück bekomme ich einen der letzten Plätze. Andere Besucher müssen stehen. Auch sonst ist hier vieles anders. Die Menschen sind vornehm gekleidet. Die Männer sind in Anzügen gekommen, die Frauen in langen Röcken.

Zu Gast bei den Baptisten

Niemand mit Bauchtasche, wie bei den katholischen Schwestern und Brüdern in Wilmersdorf. Überhaupt kommen mir die dortigen Katholiken plötzlich hüftsteif vor, wenn ich sehe, dass hier alte Frauen vor den Altar knien oder sogar für einen Moment den Boden küssen. Offenbar hält es die Gelenke jung, im Streit mit dem Vatikan zu liegen. 

Auch die Dichte an Bekreuzigungen ist beeindruckend. Selbst die kleinen Kinder verneigen sich, wenn sie aus der Kirchenbank treten. So eng wie auf den Bänken geht es auch vor dem Altar zu, wo zwischenzeitlich fünf Personen mit der Durchführung der Rituale beschäftigt sind. In der Predigt wird auf den Fischer Petrus eingegangen, den Jesus zu einem großen Erfolg beim Fangen verhalf. Was auch eine Metapher für die Aufgabe der Kirche sei: „Mitbeten, Mithelfen, Mitopfern“. So könne die Kirche ähnliche Erfolge einfahren wie einst Petrus. 

Wieder eine Woche später bin ich bei den Baptisten in Berlin-Schöneberg, die sich in einem Gotteshaus treffen, das architektonisch eher an eine exzentrische Bibliothek erinnert. Gelbe Wände und darüber ein graues Dach, das durch Ecken und Kanten und spitz zulaufende Fenster seltsam unruhig wirkt. Die Baptisten sind eine evangelikale Freikirche und lehnen die Säuglingstaufe ab, weil sich ein Mensch aktiv für den Glauben entscheiden soll. Heute um 10 Uhr ist der Gemeindesaal zu vielleicht zwei Dritteln gefüllt.

Wie bei einem Start-Up, das um Investoren buhlt

Die Anwesenden sind freundlich, und die große Mehrheit ist in der zweiten Lebenshälfte (und auch in dieser schon einen beachtlichen Teil vorangekommen). Aber es gibt auch einige junge Leute, von denen mehrere die Kirchenband bilden. Sie tragen Klamotten, mit denen sie auch auf einem Popfestival auftreten könnten. Überhaupt haben sich die Gemeindemitglieder nicht so herausgeputzt wie die Besucher bei den Piusbrüdern. Hier dominiert der lässige Freizeitlook. 

Als die Band ihr erstes Lied beginnt, reißt ein Besucher sofort die Arme in die Luft, als hätte ihn der Heilige Geist zum Tanzen aufgefordert. Niemand macht es ihm gleich, und so wirkt sein Kaltstart tatsächlich arg gewollt. Der Prediger ist ähnlich lässig gekleidet wie die Band und steht in Turnschuhen, blauer Jeans und weißem Hemd vor der Gemeinde, als wäre er ein Start-up-Unternehmer, der um Investoren buhlt. Er bemüht sich um eine hippe Sprache, weswegen ihm Dinge auch nicht auf die Nerven, sondern „auf den Sack“ gehen.

Seine Predigt dreht sich um Vertrauen und darum, dass wir dieses auch Fremden entgegenbringen sollten. „Wie wäre es, wenn wir durch die Hoffnung, die wir durch Jesus Christus haben, dem anderen erst mal Gutes unterstellen?“

Deutsche Bescheidenheit trifft fette Boxen

Ein ehrenwerter Appell, der vielleicht an keinem Platz in Berlin so überflüssig ist wie an diesem. Wie zum Beweis steht mein Sitznachbar auf und spaziert eine Weile im Foyer herum. Sein Handy hat er liegen gelassen. Das spricht für ein Gottes- beziehungsweise Mitmenschenvertrauen, das kein Prediger erst mühsam herauskitzeln muss. Und vielleicht spricht es auch für eine Form von Leichtsinn, der seiner Familie schon lange Sorgen macht. 

An diesem Sonntag gönne ich mir die doppelte Dröhnung Gott und besuche um 18 Uhr noch die ICF Berlin. Die Abkürzung steht für International Christian Fellowship und ist eine Freikirche, die der charismatischen Bewegung zugeschrieben wird. Hier ist Jesus kaum von einem Superhelden zu unterscheiden – einer, der Menschen sogar die Fähigkeit verleiht, Tote erneut zum Leben zu erwecken. Manche US-Prediger behaupten jedenfalls, über derlei Gaben zu verfügen. Doch wie immer sind Deutsche weniger dem Superlativ zugeneigt als Amerikaner: In Berlin werden daher weder Menschen zum Leben erweckt noch sonst wie Wunder gewirkt.

Stattdessen sorgt eine Band für Stimmung, die unentwegt vom Sieg des Lebens über den Tod singt. Die jungen Besucher haben derweil zwar noch nicht den Tod, aber immerhin schon die Angst vor Lärm besiegt, so heftig dröhnt der hier aus den fetten Boxen. 

Gott ist immer Zeitgeist

Endlich kommt der Pastor auf die Bühne. Er trägt einen Boxhandschuh, der für den Teufel und für die Schläge steht, die er uns Menschen gelegentlich versetzt. Danach lässt der Mann die Gemeinde wissen, dass manche Beziehungen wirklich tot seien. Was aber seiner Meinung nach noch lange kein Grund für eine Trennung sein müsse, denn: „Auch Lazarus war tot. Und was macht Jesus? Der hat ihn zum Leben erweckt!“ Romantischer kann der Rettungsversuch für eine kaputte Beziehung doch gar nicht sein. 

Damit kommt meine Reise zum Abschluss. Ich wollte wissen, ob die Rhetorik des Evangelischen Kirchentags für das steht, was im Gottesdienst erwartet werden kann. Die Antwort: Noch nicht, aber die Richtung stimmt. Vor allem in der protestantischen und freikirchlichen Ecke hat der HERR sich in den letzten Jahren gründlich mit dem Vokabular des Linksaktivismus beschäftigt. Er könnte sich ohne Probleme mit auf die Straße kleben, und zwar mitsamt seinen Jüngerinnen, von denen die Bibel zwar nichts weiß, die evangelische Kirche aber umso mehr. Weniger progressiv geht die katholische Kirche die Sache an. Jünger bleiben Jünger, und Gott bleibt hetero. 

Aber im Ernst: Eigentlich war Gott immer nur das, was der Zeitgeist aus ihm gemacht hat. Die Deutschen sind queer beziehungsweise queer-freundlich – und darum ist es für die meisten von ihnen auch Gott. Aber der Zeitgeist ändert sich regelmäßig. Vielleicht heißt es darum auf bevorstehenden Kirchentagen bereits „Gott ist vegan“, „Gott ist Hausfrau“ oder „Gott ist tot“.

Die letzte Parole passt jedenfalls am besten auf die oft gähnende Leere in den Gottesdiensten. 

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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