Arabische Literatur - Jenseits von Tausenundeiner Nacht

Autoren und Leser, Bücher und Märkte, Regionen und Themen: In der modernen arabischen Literatur ist nichts so, wie man es erwartet

Die Geschichten von «Tausendundeiner Nacht» sind immer noch nicht abgefeiert. Erst im Frühjahr 2004 erschien eine neue Übersetzung auf der Grund­lage des Urmanuskripts, und nun wird das entsprechen­de Hörbuch nachgeliefert, 1595 Minuten auf vierundzwanzig CDs. Reicht das nicht an arabischer Literatur? Mitnichten! Denn dreihundert Jahre lang, seit die berühm­teste Märchensammlung der Welt von dem französischen Orientalisten Galland für die Weltliteratur entdeckt worden ist, hat sie den Blick auf fast alles verstellt, was die Araber sonst geschrieben haben.

Sucht man nach der arabischen Literatur jenseits von «Tausendundeiner Nacht», stellt sich allerdings sofort ein eigenartiges Phänomen ein. Beim besten Willen gelingt es nämlich nicht, den Blick scharf zu stellen, den richtigen Fokus zu finden. Ein Zentrum in diesem Bild gibt es nicht, und für welche Perspektive man sich auch entscheidet, man trifft stets ein bisschen daneben. Das kann bei einem geografischen Raum, der zweiundzwanzig zum Teil krass unterschiedliche Länder umfasst und sich vom Atlantik bis zum Persischen Golf erstreckt, nicht verwundern. Was immer man zur arabischen Literatur sagt, muss Fragment bleiben. Eins jedoch lässt sich mit Gewissheit sagen: Was die Araber gegenwärtig schreiben, ist denkbar heterogen, vielfältig und unberechenbar. Und genau das macht diese Literatur so spannend und modern.

Glauben wir einem ihrer berühmtesten Vertreter, dem syrischen Dichter Ali Ahmad Said, besser bekannt unter dem Pseudonym Adonis, hielt die Moderne schon im 8. Jahrhundert in die arabische Literatur Einzug – zur Zeit des berühmten Kalifen Harun al-Raschid und seines frivolen Hofpoeten Abu Nuwas, von denen viele Geschichten in «Tausendundeiner Nacht» handeln. «Muhdithun», Modernisten, wurden damals diejenigen Dichter genannt, die unter dem Einfluss des Lebens in der Großstadt Bagdad (damals tatsächlich die größte und prächtigste Stadt der Welt) Formen und Inhalte der überkommenen arabischen Beduinendichtung revolutionierten. Adonis nannte Abu Nuwas deshalb den «Baudelaire der Araber».

Der Gedanke einer literarischen Moderne vor der Moderne ist für Araber sehr verführerisch, denn er befreit sie von dem Minderwertigkeitskomplex, die Moderne nur aus Europa importiert zu haben. Aber er hat auch einen großen Nachteil: Diese Moderne vor der Moderne währte nur so lange wie die Blütezeit von Bagdad. Schon vor dem Mongolensturm auf die Stadt 1258 versank die arabische Kultur in einen mehrhundertjährigen Dornrös­chenschlaf. Und der Prinz, der sie dann wachküsste, war ausgerechnet ein Kind der Französischen Revolution: Napoleon. Auf dessen Ägyptenfeldzug datieren die Historiker die allmähliche Renaissance der arabischen Kultur.

Es war eine Renaissance, die explizit aus der Begegnung mit Europa erwuchs. Ob es gefällt oder nicht: Die gegenwärtige arabische Literatur hat mehr mit der moder­nen europäischen als mit der klassischen arabischen gemeinsam. Eine bloße Nachahmung ist sie deshalb aber noch lange nicht.


Befreiung von der Sprache des Koran

Die politischen und wirtschaftlichen Umstände, unter denen die Araber innerhalb von 200 Jahren eine Entwicklung durchmachten, für die Europa fast ein Jahrtausend brauchte, waren dabei denkbar ungünstig. Wie widrig diese Umstände bis heute sind, davon dürfte sich der Leser, der in einer gut sortierten deutschen Buchhandlung die Übersetzung eines arabischen Werkes mit der gleichen Selbstverständlichkeit kauft oder bestellt wie jedes andere Buch, keinen Begriff machen. Diese Widrigkeiten sind jedem arabischen Werk, das heute erscheint, eingeschrieben.

Das Problem beginnt bei der Frage, wer überhaupt lesen kann. Zwar ist die arabische Schrift ebenso eine Buchstabenschrift wie die lateinische und damit trotz ihres exotischen Aussehens in Wahrheit leicht zu erlernen. Davon abgesehen hält die arabische Sprache aber Schwierigkeiten bereit, die nur mit großem Zeitaufwand und Bildungseifer bezwungen werden können. Der Hauptgrund liegt darin, dass die arabische Hochsprache seit vor-islamischer Zeit, also seit 1500 Jahren, morphologisch und grammatikalisch praktisch unverändert ist. Das macht es zwar für jeden gebildeten Araber leicht, die ältesten Texte zu lesen. Für einfache Leute jedoch ist Hocharabisch zunächst einmal eine Fremdsprache, da die Muttersprache der lokale Dialekt ist. Der geht zwar in der Regel auf das Arabische zurück (wenn es sich nicht um Berber- oder Minderheitensprachen wie Kurdisch, Assyrisch, Armenisch handelt), ist davon jedoch so weit entfernt wie ein zünftiges Schwyzerdütsch vom Hochdeutschen.

Das hat zur Folge, dass man selbst bei etablierten arabischen Schriftstellern nicht selten grammatikalische Fehler findet, die man bei uns keinem Studenten durchgehen lassen würde, die aber von den Schreibern selbst durchaus als korrekt empfunden werden können. Das Gefühl für das, was sprachlich gut und richtig ist, geht in der arabischen Literatur der Gegenwart mehr und mehr verloren. Dies ist jedoch nicht nur ein Verlust, sondern zugleich ein Symptom der Befreiung vom Gängelband
einer überalterten, von vielen für sakrosankt erachteten Sprache – der Sprache des Korans.

Hinzu kommt, dass in den Verlagen aus wirtschaftlichen Gründen meist ein funktionsfähiges Lektorat fehlt. Nicht zuletzt deshalb ziehen es viele arabische Schriftsteller (meist Nordafrikaner oder christliche Libanesen) vor, in anderen Sprachen zu schreiben, besonders auf Französisch. Die europäischen Sprachen sind einfacher zu handhaben – und bieten dem, der sie verwendet, sogleich Zugang zu einem zuverlässigen und finanzkräftigen Buchmarkt.


Die Literaturszene – keine Wüste, ein Dschungel

Das nämlich ist das andere große Problem der gegenwärtigen arabischen Literatur: Sie kennt keinen in unserem Sinne funktionierenden Markt, kein Bestellsystem, kein zuverlässiges Verzeichnis lieferbarer Bücher, kein Amazon. Die Verlage, die sich auf moderne arabische Literatur spezialisiert haben, überleben häufig nur dadurch, dass sie jüngere und weniger bekannte Autoren für die Publikation ihrer Bücher zahlen lassen. Das ist nicht nur für den Autor verheerend, sondern auch für die Literatur selbst, denn so wird der ohnedies schwache Markt von einer Flut unreifer Werke überschwemmt, zwischen denen man die wirklich empfehlenswerten suchen muss wie die berüchtigte Nadel im Heuhaufen.

Selbst ein bekannter belletristischer Autor kann in der arabischen Welt mit seinen Büchern nicht ausreichend Geld verdienen, da es schlicht an Lesern fehlt. 3000 verkaufte Exemplare sind für die meisten ein Wunschtraum, und wer mehr absetzt, gilt schon als Star – und kann doch nicht davon leben. Fast alle Schriftsteller sind darauf angewiesen, in einer staatlichen Kulturbehörde, als fest angestellter Journalist, als Dozent oder Lehrer unterzukommen – Jobs, die in der arabischen Welt zwar denkbar schlecht bezahlt sind, aber dafür Zeit fürs Schreiben lassen, wenn man bescheiden genug lebt.

Entgegen dem Bild, das sich in der westlichen Öffentlichkeit festgesetzt hat, sind literarische Zensur und Bücherverbote übrigens mittlerweile selten, und anders als in den sechziger und siebziger Jahren, anders auch als in Iran, kommt es gegenwärtig nur noch in wenigen arabischen Ländern (wie etwa Saudi-Arabien) zu Repressalien gegen Schriftsteller aufgrund ihrer Werke. Auch können fast alle, die bei uns als arabische Exilschriftsteller bekannt sind, derzeit in ihre Heimatländer einreisen.

So schwierig die Bedingungen für gegenwärtige arabische Literatur sind, so groß ist andererseits das Bedürfnis, sich auszudrücken und die Stimme zu erheben – zumal das geschriebene Wort traditionell größte Wertschätzung genießt. Und so vielfältig sind auch die kulturellen Strömungen, an die man als Autor anschließen kann. Wie die alten levantinischen Hafenstädte der Umschlag­platz für den Warenaustausch zwischen Ost und West waren, ist die arabische Gegenwartsliteratur ein Umschlagplatz für Ideen und Traditionen. Insbesondere die neunziger Jahre haben eine explosionsartige Vervielfältigung der literarischen Möglichkeiten mit sich gebracht. Heute gibt es hier einfach alles: Spitzenliteratur und kitschige Banalitäten, Hermetisches und Orient-Romantik, Experimentelles und Klassisches, Blasphemisches und Restauratives. Die Literaturszene in der arabischen Welt ist keine Wüste, sondern ein Dschungel. Zumal als Fremder traut man sich kaum hinein. Und wer sich hineintraut, findet womöglich nicht mehr heraus.

Da es professionelle Scouts und Agenten wie für die Literaturen der anderen großen Weltsprachen nicht gibt, hat die arabische Literatur derzeit ein eklatantes Vermittlungsproblem. Nahezu die gesamte Vermittlungsarbeit ruht auf den Schultern der wenigen Übersetzer, die damit naturgemäß überfordert sind. Welch hervorragende Arbeit sie gleichwohl leisten, sieht man daran, dass auf Deutsch derzeit mehr arabische Literatur zu lesen, ist als selbst der größte Orient-Fan lesen will. «Fikrun wa Fann», die arabisch-sprachige Zeitschrift des Goethe-Instituts, hat alle aus der modernen arabischen Literatur ins Deutsche übertragenen Titel gezählt – es sind knapp 200. Dabei sind in dieser Liste weder Anthologien noch Klassiker oder Werke genannt, die von Arabern in anderen Sprachen geschrieben wurden. Zählte man sie dazu, käme man auf rund 400 Titel. Die arabische Literatur auf Deutsch lebt. Aber was davon kann man einem neugierigen, nicht spezialisierten Leser als Einstieg empfehlen?


Geld und Moral, Exzess und Tradition

Zunächst gilt: Man sollte nicht nur lesen, was zufällig in diesem Herbst den Geruch frischer Druckerschwärze hat. Viele der wichtigen und besten Werke der modernen arabischen Literatur sind nämlich – von der größeren Öffent­lichkeit unbemerkt – bereits in den letzten Jahren erschie­nen. Meistens handelt es sich dabei um die Klassiker der modernen arabischen Romanliteratur aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der ägyptische Nobelpreisträger Nagib Machfus ist unter ihnen nur der bekannteste. In fast all seinen Werken, die durchweg leicht lesbar sind, zeigt er, wie der moralische Verfall und die moderne Orientierungslosigkeit in die ägyptische Mittelschicht einsickern, so etwa in einem seiner berühmtesten Werke «Das Hausboot am Nil».

Die arabische Literatur nach Machfus entfaltet aber noch einmal ganz andere Energien, Themen und Formen. Seit dem Erscheinen Ende der sechziger Jahre zählt Tajjib Salichs (geb. 1929) schmaler Roman «Zeit der Nordwan­derung» zu den ewigen Top Ten der modernen arabischen Literatur und ist für eine ganze Generation nahöstlicher Intellektueller ein Kultbuch. Es schildert die steile Karriere des sudanesischen Studenten Mustapha Said im Mutterland des Kolonialismus. Said ist ein berechnendes, intellektuelles Monster, der afrikanische Urahn der Helden Bret Easton Ellis’. Seine Rachegelüste gegenüber den ihn zwar fördernden, doch nie als gleichwertig anerkennenden Briten lebt er sexuell aus, indem er die Engländerinnen, die ihm reihenweise verfallen, in den Selbstmord treibt oder umbringt. Hinterfragt wird diese Manie Saids vom Erzähler der Geschichte, einem jungen Mann aus Wadd Hamid, dem Dorf am Nil, in das Said heimkehrt, um seine ungewollt-gewollte Verwestlichung wieder abzuschütteln. Bis heute hat kein Werk das zwiespältige Verhältnis der arabischen Intellektuellen zum Westen tiefer durchleuchtet – es ist hochaktuell.

Freilich ist die Kunst der Verknappung, die Salichs 190-Seiten-Roman auszeichnet, nur bedingt repräsentativ für die moderne arabische Literatur; abgesehen natürlich von ausgewiesenen Meistern der Kurzgeschichte wie dem Syrer Sakarija Tamer, von dem nun unter dem Titel «Die Hinrichtung des Todes» eine Sammlung blasphemischer Satiren über legendäre Figuren der arabischen Geschichte – etwa Abu Nuwas oder Scheherezad, die Erzählerin in «Tau­sendundeiner Nacht» – erscheint. Salichs weit ausgreifende epische Antipoden sind der Libyer Ibrahim al-Koni (geb. 1948) und der irakisch-saudische Romancier Abdalrachman Munif (1933–2004). Al-Konis Werk beschreibt eine Welt, die eigentlich gar keine arabi­sche ist: die der Tuareg, der Sahara-Nomaden. Dabei wird das Leben dieser Nomaden nicht realistisch mit all ihren Problemen geschildert, sondern als mythisch aufgeladener Gegenentwurf zur Moderne inszeniert. In der archaischen Welt al-Konis kämpfen die ewigen Antipoden Geld und Moral, Exzess und Askese, Mann und Frau, Tradition und Erneuerung noch einmal gegeneinander, so auch in seinem 800-seitigen Opus magnum «Die Magier».

Über fünf Seiten hinweg kann bei al-Koni eine alte Sklavin der Tochter eines Adligen die Haare flechten, und es ist, als säße man dabei: «Die Haare winden sich um den Zeigefinger der linken Hand, um mit dem Zerren und dem Ziehen zu beginnen; Schmerz strömt durch den Kopf. Finger schieben sich in Windeseile ineinander, andere schleichen heran, um aus dem Dschungel weitere Fäden zu stibitzen und das neugeborene Geflecht damit zu nähren.» Nicht minder ausführlich wird freilich anschließend eine Kastration beschrieben: «‹Aber … aber mein Herr hat mir nicht gesagt, was für ein Gerät wir zum Abschneiden des heutigen Organs benutzen sollen – Messer oder Zange?› – ‹Ich glaube, die Zange da vor dir ist heute geeigneter.›»

Der Verkaufserfolg al-Konis im deutschsprachigen Raum deutet darauf hin, dass die westlichen Leser an der arabischen Literatur bemerkenswerterweise gerade das völlig Andersartige schätzen, das, was sie nicht ebenso gut in deutschen und amerikanischen Romanen finden. So ist auch das große Echo auf den aus Saudi-Arabien stammenden Abdalrachman Munif zu erklären, dessen 560 Seiten starker Roman «Salzstädte» – der erste Teil einer Penta­logie – im Vorjahr endlich auf Deutsch erschien. Munif schildert einfühlsam, aber ohne Scheu vor Tabus, die Verwandlung Saudi-Arabiens von einem vormodernen Beduinenland zum westlich unterwanderten Ölstaat. Das aus dem Jahr 1984 stammende Werk klärt auch über die Ursprünge des gegenwärtig drohenden Bürgerkriegs in Saudi-Arabien auf.


Arabisches Fräuleinwunder und neue Lyrik

Aber die arabische Literatur ist längst keine Domäne der Männer mehr, und das gilt nicht nur für auf Französisch schreibende Autorinnen wie Assia Djebar. Kämpferisch, selbstbewusst und emanzipiert sind auch die arabophonen Schriftstellerinnen – etwa die derzeit prominenteste Vertreterin der palästinensischen Literatur, die 1941 geborene Sahar Khalifa, deren jüngstes Werk, «Die Verheißung», jetzt auch auf Deutsch erscheint. Khalifa, die lange in Amerika gelebt und gelehrt hat, vermittelt bestürzende Einblicke in den Alltag palästinensischer Frauen. Einerseits haben sie mit den Schikanen durch die israelische Besatzung, andererseits mit den patriarchalischen Strukturen der palästinensischen Gesellschaft zu kämpfen.

Zu einem regelrechten arabischen Fräuleinwunder haben in den neunziger Jahren viele jüngere Schriftstellerinnen beigetragen. So schildert etwa die 1968 geborene Ägypterin Miral al-Tahawi in ihrem Buch «Die blaue Aubergine», wie sie während des Studiums in die Kreise von Islamisten geriet und welche inneren Kämpfe sie austragen musste, um sich daraus zu lösen. Dabei zeugt auch in der Übersetzung ihre symbolisch aufgeladene, für deutsche Ohren bisweilen überanstrengt wirkende Sprache von dem quälenden Prozess dieser Emanzipation.

Nicht nur mit ihrer Erzählkunst klopfen die Araber vehement an die Panzertür des westlich dominierten Clubs «Weltliteratur». Die Gattung, die bis heute bei den Arabern als die angesehenste gilt, ist nämlich die Lyrik. Wer einmal das Vergnügen hatte, einem arabischen Gedichtvortrag zu lauschen, weiß warum. Ein Fall für eingefleischte Poesie-Fans ist der 1930 geborene Adonis. Dabei ist seine Dichtung keineswegs so hermetisch, wie man nach dem ersten Blick denken mag. Einleuchtend beschreibt er den Einbruch der Moderne in die alte arabische Welt: «Das Minarett weinte / Als der Fremde kam / Er kaufte es ohne Not / Er baute darauf einen Schlot.» Besonders brisant ist sein aus dem Jahr 1971 stammendes, endlich auf Deutsch übersetztes Langgedicht «Ein Grab für New York», das von vielen Interpreten als dichterische Vorausahnung des 11. September gedeutet wird.

Wer einen sanfteren Einstieg in die arabische Lyrik sucht, ist mit Fuad Rifka am besten beraten. Der Libanese, der in Deutschland über Heidegger promoviert hat und viel deutsche Lyrik übersetzt, schreibt genauso, wie er es in dem Gedicht «Sprache» aus dem Band «Das Tal der Rituale» formuliert hat: «Nackt, / einfach und arm, / Kindersprache / in des Sprechens Anfang / ist seine Sprache: / Die Sprache der Tiefen.» Wer in der arabischen Lyrik das bei uns diskreditierte Pathos sucht, wird natürlich auch fündig: «Laß meine Leidenschaft wachsen, o süßeste Attacke meines Liebeswahns, Vogel meines Herzens …», dichtete der 1998 verstorbene, höchst populäre Nizar Qabbani – und lieferte damit Munition für Millionen inbrünstiger arabischer Liebesbriefe. Was den Literaturaustausch betrifft, dürfte das jedoch eine Sackgasse sein.

Dagegen sind diejenigen arabischen Autoren, die in westlichen Sprachen schreiben, geradezu die Verkörperung kultureller Verschmelzung. Die weitaus meisten Leser verdanken ihnen die erste literarische Begegnung mit dem Orient, und in aller Regel sind sie bekannter als ihre Arabisch schreibenden Kollegen. Der deutsche Syrer Rafik Schami und der frankophone Marokkaner Tahar Ben Jelloun sind nur die populärsten. Schami legt nun seinen bislang umfangreichsten Roman vor, eine Art Romeo-und-Julia-Geschichte aus Damaskus mit dem romantischen Titel «Die dunkle Seite der Liebe».

Die auf Arabisch schreibenden Autoren beobachten den Erfolg ihrer in Fremdsprachen schreibenden Kollegen natürlich nicht ohne Neid und werfen ihren gerne vor, sie würden der westlichen Öffentlichkeit ein exotisch verkitschtes Orientbild präsentieren. Auf manche trifft dies auch zu, auf die große Mehrheit aber sicher­lich nicht. Die von Arabern in westlichen Sprachen geschriebene Literatur zeichnet sich vielmehr durch fulminante Erzählfreude, große Lust am Spiel mit der Sprache und dramatische Stoffe aus – auf Deutsch bei dem Syrer Rafik Schami ebenso wie bei dem Iraker Hussain Al-Mozany, auf Französisch bei dem frankophonen Marokkaner Ben Jelloun, den Algeriern Rachid Boudjedra,
Yasmina Khadra oder Bouallem Sansal ebenso wie bei den Libanesen Amin Maalouf und Vénus Khoury-Ghata. Alle diese Autoren sind eine Bereicherung für die arabische Literatur und zugleich für die Sprachen, in denen sie schreiben. Mit ihrer Hilfe kann sogar jemand, dem die Araber zu arabisch sind, arabische Literatur lesen – ein märchenhafter Zustand, fast wie in «Tausendundeiner Nacht».

 

Stefan Weidner studierte Islamwissenschaften und lebt als Autor, Kritiker und Übersetzer in Köln. Unlängst erschien im Ammann Verlag «Mohammedanische Versuchungen. Ein erzählter Essay» sowie «Erlesener Orient. Ein Führer durch die Literaturen der islamischen Welt».

Empfohlene Literatur

Adonis
Ein Grab für New York. Gedichte Arabisch und Deutsch
Aus dem Arabischen von Stefan Weidner.
Ammann, Zürich 2004. 380 S., 24,90 €

Ibrahim al-Koni
Die Magier. Das Epos der Tuareg. Roman
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
Lenos, Zürich 2004. 838 S., 16,50 €

Sahar Khalifa
Die Verheißung. Roman
Aus dem Arabischen von Regina Karachouli.
Union, Zürich 2004. 256 S., 19,90 €

Nagib Machfus
Das Hausboot am Nil. Roman
Aus dem Arabischen von Nagi Naguib.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. 150 S., 12,80 €

Abdalrachman Munif
Salzstädte. Roman
Aus dem Arabischen von Magda Barakat und Larissa Bender.
Diederichs, München 2003. 560 S., 24,90 €

Fuad Rifka
Das Tal der Rituale. Gedichte Arabisch und Deutsch
Aus dem Arabischen von Ursula und Simon Y. Assaf.
Straelener Manuskripte, Straelen 2002. 126 S., 26 €

Tajjib Salich
Zeit der Nordwanderung. Erzählungen aus dem Sudan
Aus dem Arabischen von Regina Karachouli.
Lenos, Zürich 2001. 191 S., 9,95 €

Rafik Schami
Die dunkle Seite der Liebe. Roman
Hanser, München 2004. 864 S., 24,90 €

Miral al-Tahawi
Die blaue Aubergine. Roman
Aus dem Arabischen von Doris Kilias.
Union, Zürich 2002. 185 S., 14,80 €

Sakarija Tamer
Die Hinrichtung des Todes. Unbekannte Geschichten von unbekannten Figuren
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich und Ulrike Stehli-Werbeck.
Lenos, Zürich 2004. 130 S., 16 €

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