Das Journal - Hitlers unwillige Deutsche

Peter Longerich untersucht, was die Deutschen vom Judenmord wussten – und stellt die These vom stillschweigenden Einverständnis infrage

«Davon haben wir nichts gewusst!» – Das war die gängige Reaktion, wenn gewöhnliche Deutsche nach 1945 gefragt wurden, was sie von der Ermordung der europäischen Juden wussten. Eine plumpe Entlastungslüge? Es gibt seit jeher viele Mutmaßungen, aber kaum gesicherte Erkenntnisse zur Frage, welche Rolle die breite Bevölkerung bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung spielte. Das Problem der Historiker war stets, dass ihnen nur eine geringe Zahl von zeitgenössischen Berichten vorlag, die etwas über Reaktionen von Normalbürgern auf die NS-Judenpolitik offenbarten – ein Umstand, aus dem man ganz unterschiedliche Schlüsse zog. Marlis Steinert und Ian Kershaw meinten in den siebziger Jahren, dass die Masse der Deutschen dem Schicksal der Juden vor allem mit Gleichgültigkeit begegnet sei. Otto Dov Kulka dagegen unterstellte eine «stillschweigende nationale Verschwörung» zum Völkermord, ähnlich wie Daniel Goldhagen, der 1996 mit der These eines homogenen deutschen Tätervolks für Furore sorgte.


Nun hat der Holocaust-Forscher

Peter Longerich zu diesem umstrittenen Thema eine Studie mit dem Titel «Davon haben wir nichts gewusst!» vorgelegt, die auf einer bislang unerreichten Quellenfülle basiert. Der in London lehrende Historiker hat erstmals die Sammlung aller verfügbaren Stimmungs- und Lageberichte des NS-Regimes zur «Judenfrage» ausgewertet; (die fast 900-seitige Edition, die 2004 von Kulka und Eberhard Jäckel herausgegeben wurde, enthält Dokumente von Gestapo, Sicherheitsdienst, Parteistellen, Verwaltung und Justiz). Daneben stützt sich Longerich auf Material aus Goebbels’ Propaganda-Ministerium, auf Pressetexte, Berichte von Widerstandsgruppen, Beobachtungen im Ausland sowie Tagebücher und Briefe.

Auf dieser breiten Grundlage kann Longerich überzeugend erhärten, was lange nur vermutet wurde: Vom Judenmord der Nazis hatte ein großer Teil der Deutschen ein sehr viel genaueres Bild, als man nach dem Krieg zugeben wollte. Das legen vor allem viele übereinstimmende Aussagen in den Berichten des Regimes nahe. Ein Beispiel: Im April 1942 meldete ein Mitarbeiter der Sicherheitsdienst-Hauptaußenstelle Erfurt, in der Bevölkerung werde «kolportiert, dass der Sicherheitspolizei die Aufgabe gestellt sei, das Judentum in den besetzten Gebieten auszurotten. Zu Tausenden würden die Juden zusammengetrieben und erschossen, während sie erst zuvor ihre Gräber gegraben hätten».


Der «Volksgenosse» wusste vieles

Die Informationen, die den einfachen «Volksgenossen» erreichten, mochten bruchstückhaft sein – dass sie sich durchaus zu einem Gesamtbild zusammensetzen ließen, zeigt etwa der Fall des Technikers Karl Dürkefälden aus Celle. Wie dessen Tagebuch belegt, wusste er 1942, dass ein systematischer Massenmord durch Erschießungen und Giftgas im Gange war. Er hatte einzelne Quellen miteinander kombiniert: eigene Beobachtungen von Deportationen, Äußerungen deutscher Soldaten, die aus dem Osten zurückkamen, Meldungen des britischen Senders BBC – und nicht zuletzt die offiziellen Verlautbarungen der NS-Führung.

Denn obwohl das Regime die Details seines Mordprogramms als Staatsgeheimnis behandelte, wurden der Bevölkerung immer wieder allgemeine Hinweise auf die Judenvernichtung gegeben. Hitler bekräftigte zwischen Anfang 1942 und Februar 1943 in sechs viel beachteten Reden seinen Willen zur «Ausrottung» der Juden. Im «Völkischen Beobachter», aber auch in Regionalblättern erschienen Artikel mit Überschriften wie «Der Jude wird ausgerottet». Dass der Holocaust auf diese Weise zum «öffentlichen Geheimnis» wurde, folgte laut Longerich einem perfiden Kalkül des Regimes: Die Bevölkerung sollte in Mithaftung für den Massenmord genommen werden, um auf Gedeih und Verderb an die Nazi-Führung gekettet zu sein, selbst bei einer drohenden Kriegsniederlage.

Einverständnis oder Unwille?

Doch waren die Deutschen auch bereit, bei der Judenvernichtung die Rolle passiver Komplizen zu übernehmen? Gab es einen Konsens über die «Endlösung», wie von Kulka und Goldhagen behauptet? Diese Frage ist natürlich brisanter als jene nach dem bloßen Wissensstand, und hier fällt Longerichs Antwort entlastend aus: Während der gesamten NS-Zeit sei die Judenverfolgung in der Bevölkerung auf «ein erhebliches Maß an Verständnislosigkeit, Skepsis und Kritik» gestoßen – eine Haltung, die der Autor unter dem Begriff eines allgemeinen «Unwillens» fasst. Bereits 1942/43 habe sich die Mehrheit der Deutschen in «ostentative Ahnungslosigkeit» geflüchtet – nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber den Juden, sondern gerade, um sich der vom Regime geforderten Billigung des Völkermords zu entziehen.

Wie Longerich zu diesem Fazit gelangt, ist nicht unproblematisch. Sicherlich, er zitiert viele zeitgenössische Stimmen, die ablehnende Reaktionen auf antisemitische Maßnahmen erkennen lassen. Als etwa im September 1941 deutsche Juden gezwungen wurden, den gelben Stern zu tragen, provozierte das zahlreiche Gesten der Solidarität von nichtjüdischer Seite. Doch der Autor ist weit davon entfernt, aus diesen Zeugnissen so etwas wie eine «Volksmeinung» abzuleiten – zu widersprüchlich ist das Gesamtbild, zu groß die Zahl von verbürgten Fällen, in denen sich gewöhnliche Deutsche eben auch feindselig gegenüber Juden verhielten, sie denunzierten oder von ihrer Not profitierten.

Tatsächlich stützt Longerich seine These von Hitlers «unwilligen» Deutschen in erster Linie auf einen Umkehrschluss, der vom Verhalten der NS-Führung ausgeht: Wenn es in der Bevölkerung einen radikal-antisemitischen Konsens gegeben hätte – oder auch nur eine weit verbreitete Indifferenz –, dann hätte das Regime auf seine groß angelegten Propaganda-Kampagnen zur «Judenpolitik» verzichten können. Schließlich setzte die weltanschauliche Agitation der Nazis nicht zwangsläufig einen entsprechenden Nachholbedarf der breiten Massen voraus.

Diese Argumentation mag plausibel klingen, beweiskräftig ist sie aber nicht. Was die Deutschen vom Holocaust wussten – darüber besteht immer weniger Zweifel. Welche Meinung sie dazu hatten – darüber lässt sich auch nach Longerichs Studie weiter spekulieren.  

 

Peter Longerich
«Davon haben wir nichts gewusst!» Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945
Siedler, München 2006. 448 S., 24,95 €
 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.