Was tun nach dem Massaker? - Wenn der Wein im Hals stecken bleibt

Unser Genusskolumnist wollte heute einen Text zur faszinierenden Südtiroler Weinkultur veröffentlichen. Doch angesichts der Ereignisse in Israel erschien ihm das ziemlich deplatziert. Dabei macht auch der monströse Blutrausch der Hamas die Maxime „Genuss ist Notwehr“ keineswegs obsolet. 

Manchmal stößt das Motto „Genuss ist Notwehr“ an seine Grenzen / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Eigentlich sollte an dieser Stelle jetzt ein Text zu Wein aus Südtirol stehen. Für Weinfreunde sicherlich ein interessantes Thema, denn in dieser autonomen italienischen Provinz, die ich vor einigen Wochen besucht habe, gibt es im wahrsten Sinne des Wortes Einzigartiges zu entdecken. Der Text war auch schon fast fertig. Am Dienstag wollte ich noch zwei Weine einer bestimmten Rebsorte verkosten, um die Sache abzurunden. 

Alles war vorbereitet: Die Gläser sorgfältig gespült und poliert, die beiden Rotweine geöffnet und temperiert, die dazu passende Speise im Ofen. Natürlich hatten die immer neuen Horrorbilder aus Israel auch mich nicht kalt gelassen, aber lautet das sehr ernstgemeinte Motto dieser Kolumne nicht „Genuss ist Notwehr“? Was ja ein Plädoyer sein soll, sich inmitten einer von Hunger, Kriegen und Naturkatastrophen geplagten Welt und einer erschreckenden gesellschaftlichen Zerrüttung in Deutschland die Freude am Genuss in vielen Facetten zu bewahren, um nicht in Trübsinn und Agonie zu verfallen. 

Mörder werden in Neukölln gefeiert 

Doch dieser Ansatz stößt manchmal an Grenzen. Denn was sich am Wochenende vor allem im israelischen Grenzgebiet zum von der palästinischen Terrororganisation beherrschten Gazastreifen abgespielt hat, war keine „gewöhnliche“ militärische Aktion gegen eine feindliche Macht, sondern ein offensichtlich von langer Hand vorbereiteter und minutiös geplanter mörderischer Blutrausch, der ein Fanal für eine neue „Endlösung der Judenfrage“ sein sollte. Enthemmte Mordbanden haben ein Musikfestival gestürmt und sind in Kibbuze eingedrungen, um möglichst viele Menschen – vom Säugling bis zum Greis - zu quälen, zu töten, zu verstümmeln oder als Geiseln zu nehmen und zu verschleppen – weil sie Juden sind. 

In Berlin-Neukölln wird dies von ihren Anhängern öffentlich gefeiert, inklusive Verteilung von Süßigkeiten wie der traditionellen Festspeise Baklava an Passanten in der Sonnenallee. Auch an einigen Gymnasien in Neukölln gab es Loyalitätsbekundungen für die Mörderbanden der Hamas. Das vermag kaum zu verwundern. So äußerten muslimische Schüler bereits im Januar 2015 öffentlich ihr Verständnis für das Massaker islamistischer Terroristen in der Pariser Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, weil die schließlich den Propheten beleidigt habe. 

Juden brauchen eine sichere Heimstatt 

Da gibt es nichts, aber auch gar nichts zu relativieren. Verweise auf die historischen Ursachen des anscheinend unlösbaren Konflikts zwischen den Palästinensern und Israel, auf die furchtbare, perspektivlose Lebenssituation der Menschen im Gazastreifen und Kritik an der israelischen Siedlungspolitik, an starken rassistischen Tendenzen in diesem Staat oder an Versuchen der derzeitigen Regierung, einige Pfeiler der Demokratie in Israel einzureißen, sind zweifellos berechtigt, taugen aber nicht als Hintergrundrauschen zu Bildern, auf denen zu sehen ist, wie eine schwerverletzte, gekidnappte junge Frau auf der Ladefläche eines Transporters von Jugendlichen bespuckt wird. 

 

Zuletzt in „Genuss ist Notwehr“ erschienen:

 

Der Staat Israel basiert auf dem Versprechen, allen Juden nach Jahrhunderten der Diskriminierung und Verfolgung, bis hin zur millionenfachen Ermordung in der Ära des deutschen Nationalsozialismus, eine sichere Heimstatt zu bieten. Seit dem Tag seiner Gründung musste Israel dieses Versprechen immer wieder in großen und kleinen Kriegen gegen Nachbarstaaten, einzelne Terrorgruppen und deren Verbündete verteidigen, die sich die Vernichtung Israels und die Vertreibung der Juden auf die Fahnen geschrieben haben. 

Es droht eine riesige Katastrophe 

Mit Menschen, die diese Maxime vertreten, erübrigt sich jede Diskussion – egal, ob im Gazastreifen, im Iran oder in Berlin-Neukölln, egal ob vor 50 Jahren oder heute. Aber das, was in den vergangenen Tagen passiert ist, bewegt sich in einer ganz anderen Dimension. Und da kann einem der Wein, den man in dieser eigentlich Kolumne besprechen wollte, schon mal im Hals stecken bleiben. 

Wie es in Israel, im Gazastreifen und in der gesamten Region weitergehen wird, weiß wohl kein Mensch. Es ist mit unzähligen, vor allem zivilen Opfern zu rechnen, wenn Israel die angekündigte und wohl unausweichliche Vernichtung der Hamas mit aller Konsequenz realisiert. Es droht eine humanitäre Katastrophe, wenn über zwei Millionen Menschen von der Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln, Strom und Medikamenten abgeschnitten sind. Und es droht eine Ausweitung des Konflikts bis hin zu einem Flächenbrand. Es gibt nur die vage Hoffnung, dass Druck und diskrete Diplomatie von vielen Akteuren wenigstens das Schlimmste verhindern kann. 

Genussmomente für einen klaren Kopf 

Meine Losung „Genuss ist Notwehr“ wird dadurch nicht obsolet – in Gegenteil. Man braucht bewusste Genussmomente, um einen klaren Kopf zu bekommen. Sei es der vermutlich letzte warme, sonnige Tag am vergangenen Mittwoch, an dem ich Arbeit Arbeit sein ließ (als Freiberufler geht das manchmal) und mich stattdessen auf die Terrasse im Garten gelegt habe. Seien es ein paar große, aktuell recht passende musikalische Werke, die ich mir in den vergangenen Tagen angehört habe, wie etwa die Symphonie Nr. 13 b-Moll „Babij Yar“ von Dmitrij Schostakowitsch oder den Mauthausen-Zyklus von Mikis Theodorakis

Natürlich wird an diesem Wochenende auch wieder was Anständiges gekocht und dazu ein passender Wein getrunken. Und über das alles und noch viel mehr werde ich dann auch wieder schreiben. Aber den eher genussfernen Text der heutigen Kolumne möge mir der geneigte Leser nachsehen.        

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