Beliebtes Dosengericht wird 65 - Happy Birthday, Ravioli

Unser Genusskolumnist hatte nicht damit gerechnet, dass er sich noch mal mit Ravioli aus der Dose beschäftigen würde, die ihm aus seiner Jugend wohlbekannt sind. Doch jetzt feiert dieser Konserven-Dauerbrenner seinen 65. Geburtstag. Das war ihm dann doch eine kulinarisch-historische Betrachtung wert. Und sogar einen letzten Selbstversuch.

Ravioli: praktische Allzweckwaffe oder Ausdruck kulinarischer Degeneration? / picture alliance
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Was sich am 14.Mai 1958, also vor 65 Jahren, in der unweit des Bodensees gelegenen badischen Stadt Singen abspielte, war zweifellos der Startschuss für eine kulinarkulturelle Zeitenwende, die die deutschen Koch- und Essgewohnheiten umkrempelte und zig Millionen Deutsche zumindest zeitweilig begleitete und immer noch begleitet. Denn an diesem denkwürdigen Tag lief im dortigen Maggi-Werk die erste Ravioli-Dose vom Band. Ein Produkt, das die Küchenpraxis revolutionierte, weil es sich um eine vermeintlich „vollwertige“, verzehrfertige Mahlzeit handelte, die nur noch erwärmt werden musste und entsprechend zeitsparend eingesetzt werden konnte. Ein weiterer Vorteil war die sehr lange Haltbarkeit ohne Kühlung.

Konserve mit Italien-Flair

Doch die praktischen Dosen passten auch optimal in die deutsche Wirtschaftswunder-Stimmung der 1950er Jahre, die für viele Deutsche mit den ersten Urlaubserfahrungen in Italien verbunden waren. Ravioli klang nach Sonne, Strand, Meer und Dolce Vita, und wenn man dazu im heimischen Wohnzimmer einen Lambrusco oder einen Chianti aus der Korbflasche trank, konnte man sich fast schon wieder wie in Rimini fühlen.  

Rimini ist schon lange nicht mehr so angesagt, Malle hatte der Adria-Küste bald den Rang abgelaufen. Doch die Dose beziehungsweise deren Inhalt (mit einer fleischhaltigen Masse gefüllte Teigtaschen in einer „mediterran“ gewürzten Tomatensoße) erwiesen sich als komplett zeitgeitresistent. Sie wurden zum Grundnahrungsmittel in unzähligen Wohngemeinschaften und Junggesellenbuden, zum allgegenwärtigen Proviant für Campingurlauber und durften als „Notvorrat“ in keiner Speisekammer fehlen.

Nach wie vor ein Verkaufsschlager

Bis zum heutigen Tage ist es unmöglich, einen Supermarkt oder Discounter zu finden, in dem es keine Ravioli gibt. Auch in „Spätis“ ist die Dose ein Verkaufsrenner. Mittlerweile ist das Angebot etwas diversifiziert. Zum einen gibt es unzählige Nachahmer-Produkte, vor allem Eigenmarken, die meistens deutlich preiswerter als das Original von Maggi sind – aber in Tests als durchaus ebenbürtig oder gar besser bewertet werden. Erleichtert wurde dies den „Trittbrettfahrern“ durch den Namen des Dosengerichts. Denn der Begriff „Ravioli“ unterliegt nicht dem Markenschutz, denn es handelt sich schlicht um die Bezeichnung für ein seit dem 13.Jahrhundert bekanntes italienisches Pasta-Gericht. Doch inzwischen gibt es auch inhaltliche Abweichungen vom Maggi-Original, etwa mit speziellen Soßen oder vegetarischen Füllungen.

 

Zuletzt in „Genuss ist Notwehr“ erschienen:

 

Schwere Absatzkrisen hatten Ravioli seit 1958 eigentlich nie zu verzeichnen. Im Gegenteil: Im Zuge der ersten Lockdowns im Corona-Krisenjahr 2020 verzeichneten die praktischen Dosen neue Umsatzrekorde. Und auch jetzt laufen im Singener Maggi-Werk, das inzwischen zum Nestlé-Konzern gehört, pro Arbeitstag rund 170.000 Ravioli-Dosen vom Band.

Zuverlässiger Begleiter in früheren Lebensphasen

In meiner eigenen kulinarischen Sozialisation spielten Ravioli natürlich eine gewisse Rolle. Meine Mutter hat zwar meistens frisch gekocht, doch manchmal kamen eben Ravioli auf den Tisch, wenn es denn mal schnell gehen musste. Gestört hat mich das nicht, denn das Zeugs hat mir seinerzeit wirklich geschmeckt. In den WG-Zeiten ging das dann weiter, wobei ich – im Gegensatz zu einigen Mitbewohnern – allmählich eine gewissen Distanz zu diesem Dosenfutter entwickelte. Aber wenn es bei einer Party mal richtig spät wurde und man vielleicht etwas zu viel Alkohol oder andere Dinge im Kopf hatte, aber dennoch Hunger verspürte, dann verzichtete man manchmal sogar auf das Erhitzen und aß die Ravioli halt kalt, direkt aus der Dose.   

Aber das ist alles schon sehr lange her. Ich habe nicht mal annähernd eine Vorstellung, wann ich meine letzten Dosen-Ravioli gegessen habe. Wirkliche Ravioli dagegen schon, denn auf dem kleinen Markt in Moabit war zeitweilig ein Pasta-Meister, der die Teigtaschen live herstellte und mit Köstlichkeiten wie Steinpilzen, Trüffeln oder einem Gemisch aus Rucola und Ziegenfrischkäse füllte, dann köcheln ließ und mit Zitronenbutter servierte. Aber mit den vor 75 Jahren erstmals vom Band gelaufenen Dosen-Ravioli hat das nun wirklich nichts zu tun.

Ernährungssoziologe spricht von „alimentärer Absurdität“

Der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl hat prinzipiell großes Verständnis für Convenience Food. Man müsse nach einem anstrengenden Arbeitstag „nicht auch noch abends Erbsen frisch pulen, da machen es die aus der Tiefkühltruhe genauso gut“. Aber bei Junk Food sei das etwas anderes, denn das sei Essen, „das irgendwie fix und fertig ist und fix und fertig macht, geschmacklich, nährwerttechnisch, ernährungskulturell“. Dosenravioli sei ein „kulinarischer Verkehrsunfall“, bei dem man einfach hinsehen müsse, „egal, wie grauenvoll es aussieht, respektive schmeckt“. Wirklich erklären, warum der Konsum dieser „alimentären Absurdität“ trotz eines Trends zur  „Rekulinarisierung weiter Teile der Bevölkerung“ aktuell wieder ansteigt, kann sich der Soziologe jedenfalls nicht. Zwar werde gerne kolportiert, dass Dosenravioli das „perfekte Festivalessen“ seien.  Aber der anhaltende Erfolg lasse sich keinesfalls „ausschließlich auf die paar Tage Wacken, SonneMondSterne oder Göttinger Händel-Festspiele zurückführen, bei denen unter dem klaren Nachthimmel kampierende Besucher sich angetrunken und ausgehungert mal in der Not diese schwangeren Briefmarken im Tomatenpampe aufwärmen“.

Zum Geburtstag ein letzter Selbstversuch

Kofahl vermutet, dass es außer der positiv zu bewertenden Zunahme von Ernährungswissen und Kochkompetenz in sozialen Gruppen, die vormals eine größere Distanz zur Nahrungszubereitung pflegten, „auch einen Trend zur kulinarkulturellen Degeneration in sozialen Gruppen gibt, die vormals traditionell noch kochen konnten, aber nun vermehrt zur Dose greifen“.

Aber als Genusskolumnist habe ich ja einige Prinzipien. Dazu gehört, über nichts zu schreiben, was ich nicht selbst zeitnah probiert habe. Und so erwarb ich – mit ziemlicher Sicherheit das letzte Mal in meinem Leben – eine Dose original Maggi-Ravioli, für immerhin stolze 2,99 Euro. Was soll ich sagen: Es schmeckt wirklich furchtbar, alles ist irgendwie labbrig, pappig und pampig, die Soße ist eine Zumutung. Spaß gemacht hat dieser Retro-Geburtstagsschmaus nun wirklich nicht. Aber das kann einem auch auf anderen Geburtstagspartys passieren. In diesem Sinne (auch von Daniel Kofahl): Happy Birthday, Ravioli.

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