Erlebnisbericht aus New York - Teil I - Wiedersehen mit dem Big Apple

Für Anfang Juni wurde der Historiker Michael Sommer vom New Yorker Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Tagung „The Return of the West? 30 Years of the End of History“ eingeladen. Die Konferenz sollte den Jahrestag der Publikation von Francis Fukuyamas epochaler These vom „Ende der Geschichte“ begehen und zugleich das Weltgeschehen im Licht der jüngsten Krisen beleuchten. Dies ist der erste Teil seines Erlebnisberichts.

Nach 22 Jahren kehrt Historiker Michael Sommer zurück zum Big Apple. Vieles hat sich verändert, und nicht alles zum Guten. / dpa
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Autoreninfo

Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

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Wissenschaft gedeiht nicht in Isolation, sie lebt vom Gespräch und vom Austausch. Zwei Jahre lang fand der hauptsächlich über das Internet statt. Über Plattformen wie Zoom, die Menschen im virtuellen Raum zusammenbringen, aber nicht das simulieren konnten, was das Zusammensein zu einem Erlebnis macht: den physischen Kontakt mit Land und Leuten, die vielen Zwischentöne jenseits der Botschaften, die Kamera und Mikrofon einfangen können.

Als Historiker, auch als Althistoriker, sollte man Augen haben nicht nur für die große Geschichte, sondern auch für die vielen kleinen Geschichten am Rande. Die Tagung gab mir nach über 20 Jahren Gelegenheit zu einem Wiedersehen mit dem Big Apple, der sich – auch bedingt durch das Weltgeschehen – sehr verändert hat: vor allem, aber längst nicht nur am „Ground Zero“, wo sich am Objekt studieren lässt, wie überoptimistisch doch Fukuyamas Vertrauen auf die Strahlkraft der liberalen Demokratie war.

Veränderung nicht nur zum Guten 

Am schönsten ist es, Städte zu Fuß zu entdecken. Von „entdecken“ kann man sprechen, wenn es über 20 Jahre her ist, dass man zum letzten Mal den Fuß in einen Ort gesetzt hat. Bei mir und dem Big Apple sind es 22 Jahre, viel zu viele. Um das zu wissen, brauchte ich nicht hinzufahren. Weil es aber so viele Jahre sind, galt es an vielen Plätzen, dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen – oder aber das Viele aus der Stadtlandschaft zu schälen, das sich in der Zwischenzeit verändert hat.

Und verändert hat sich die Hudson-Metropole. Zum Schlechten: Überall stehen Gerüste rum. Nicht weil gebaut wird, um Himmels willen. Sondern weil die Fassaden bröseln und der Gesetzgeber Immobilienbesitzer für Sach- und Personenschäden haftbar macht, die durch fallende Gebäudeteile entstehen könnten. Also bauen die vorsichtigen Grundstückseigentümer ganze Straßenzüge mit Metallarkaden voll. Das kann, etwa wenn es regnet, sogar ganz nützlich sein. Meist ist es nur hässlich und ruiniert den Blick auf die reizvolle Architektur.

Selbst ikonische Bauten wie das Plaza Hotel am Central Park (das ja mal Trump gehört hat, der es in Nobelapartments zersägt hat) sind mit solchem Blendwerk umstellt. Gerüstbauer in New York müsste man sein, dann wäre die Inflation vermutlich das geringste Problem. Besonders findige Unternehmer der Branche haben sich sogar eine an gotische Kreuzgänge erinnernde Gerüstvariante einfallen lassen. Auch die Not der Anderen macht halt erfinderisch – und reich.

Veränderung aber auch zum Guten: Überall haben die fürsorglichen Stadtväter und die privaten Beschicker der zahlreichen Plazas Sitzgelegenheiten, Tische und teilweise sogar Sonnenschirme hingestellt, damit sich die gestressten Städter und ihre Besucher erholen können. Bei einem zünftigen Picknick zum Beispiel. Oder einfach, um die Szenerie drumherum in sich aufsaugen zu können und dabei, bequem sitzend, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Auf den Sitzmöbeln kommt man zwanglos mit den Nachbarn ins Gespräch. Oder wird zum Zuschauer des spezifisch newyorkerischen Typs von Commedia dell'Arte, den die zahlreichen berufenen und unberufenen Prediger aufführen, die ihre Mitmenschen, zu was auch immer, missionieren wollen. Die Sache mit den Stühlen und Tischen ist unbedingt nachahmenswert.

 

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Belebte Promenaden und Grünflächen

Mein Quartier liegt in Midtown, UN Plaza, 34. Stock. Schon allein das ist einigermaßen spektakulär. Aber nicht spektakulär genug, um mich nach der Ankunft am Sonntagnachmittag lange im Hotelzimmer festzuhalten. Schon um dem drohenden Jetlag entgegenzuwirken, bleibe ich bis Mitternacht unentwegt auf den Beinen: von 44 St East über die Grand Central Station, dann immer südwärts an der 5 Av, Washington Square, schließlich über den West Broadway zu Ground Zero und Battery Park.

Von da muss ich nun wieder retour. Ich wähle die Route am Hudson. Die Promenade hat in den letzten 20 Jahren ziemlich an Reiz gewonnen. Sie ist voller Menschen, die flanieren, Sport treiben, Spaß haben. Jersey City gegenüber ist, zumindest von der Skyline her, nicht mehr das hässliche Entlein, das ich in Erinnerung hatte. Urban Gardening ist bekanntlich ein Faible der New Yorker, und auch die Stadtverwaltung hat mit den Gärten, die sie auf den alten Piers angelegt hat, ihren grünen Daumen unter Beweis gestellt. Eine wahre Gemme ist das Little Island, das erst letztes Jahr aufgemacht hat.

Letztes Teilstück meiner ersten Stadtwanderung ist 42 St, die Hauptstraße von Midtown, die hart am Times Square und dann am immer noch anmutigen Bryant Park vorbeiführt. Noch ein Blick hoch zum Chrysler Building (ja, es ist so schön wie eh und je, der steinerne und metallene Beweis, dass auch das 20. Jahrhundert Meilensteine der Architekturgeschichte geschaffen hat), dann sinke ich, müde aber glücklich, in die Federn.

Konsumkultur trifft auf Armutsopfer 

Geradezu pervers: Die Hundefutter-Reklame / Michael Sommer 

Am zweiten Tag meiner Reise hat um 15.30 Uhr die Veranstalterin der Tagung, die Ebert-Stiftung, zum Stelldichein geladen. Ein gemeinsamer Besuch der UN Headquarters ist geplant. Bis dahin aber habe ich etliche Stunden zur freien Verfügung – die Stiftung ist großzügig, aber die Extrazeit an der UN Plaza verbringe ich auf eigene Kosten. Das ist in Ordnung so, denn schließlich verwalten die politischen Stiftungen Steuergelder – und knapp 300 Dollar pro Übernachtung mit Frühstück in einem Hotel, dessen fünf Sterne nach europäischen Standards arg geschmeichelt sind, sind kein Pappenstiel. Morgens beim Frühstück komme ich spontan mit dem Kellner ins Gespräch. Er verrät mir, dass die Preise vom schon hohen vor-Pandemie-Niveau seit 2020 um satte 40 Prozent gestiegen sind. Es sei schwer, da mitzuhalten, doch er wolle nicht klagen, sagt er. Die Hilton-Gruppe sei ein fairer Arbeitgeber und zahle gut, andern ginge es viel schlechter.

Überhaupt kommen mir bei meinen spontanen Gesprächen wenig Klagen zu Gehör. Davon gibt es zum Glück gar nicht so wenige. Mir kommt es so vor, als wenn die Menschen nur darauf warteten, ins Gespräch zu kommen. Vor allem haben deutlich weniger Leute als in Europa Musik in oder auf den Ohren. Stets herrscht die Haltung des sympathischen Kellners vor: Mir geht es eigentlich noch ganz gut. Dass es etlichen nicht gut geht, sieht man allerdings an fast jeder Straßenecke. Es sind nicht nur die Obdachlosen, die es vor 20 Jahren auch schon gab, die im Straßenbild auffallen (und mehr geworden sind); es sind auch viele alte Leute, die offenkundig nicht viel Geld übrig haben. Geradezu pervers nimmt sich die Reklame aus, mit der ein demnächst eröffnendes Spezialgeschäft für Hundefutter wirbt: „Doesn't your dog deserve MORE?“ Direkt davor sitzt ein Obdachloser, die kärgliche Habe in einem Einkaufswagen verstaut.

 

Ein Viertel verliert seinen schlechten Ruf   

Der Kellner rät mir übrigens auch dringend zu einem Abstecher nach Harlem, wo er selbst wohnt. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen: Gemütlich schlendere ich durch die Upper East Side, entlang von Park und 5 Av, wo noch immer das dicke Geld sitzt. An der Ecke 5 Av/71 St steht noch einer der Stadtpaläste, die sich die Astors, Vanderbilts und Konsorten hier gebaut haben. Wer „The Gilded Age“ gesehen hat, weiß, dass hier nicht gekleckert wurde.

Central Park bei Nacht / Michael Sommer

Im Central Park wird es nach Norden hin immer einsamer. Das war schon vor 20 Jahren so, doch damals mied man die Teile nördlich des Reservoir eher, weil man sich nicht recht sicher fühlte. Davon jetzt keine Spur mehr: Man wandert durch Wald und tiefe Täler, kraxelt über Felsen, begegnet Eich- und Streifenhörnchen. Nach gefühlten zwei Litern frisch gepressten Orangensafts und etlichen Kannen Tee im Hotel kommen auch die pieksauberen Restrooms wie gerufen.

Dann sind es nur noch ein paar Meter, und ich bin across 110th Street, in Harlem. Auch da hinein hätte ich mich vor 20 Jahren nicht getraut (nur mit dem Bus, um die Cloisters zu besuchen). Von Slums keine Spur mehr. Das Viertel befindet sich sichtbar auf dem Weg nach oben. Das heißt natürlich nicht, dass die Menschen, denen es damals hier schlecht ging, jetzt alle den sozialen Aufstieg hingelegt hätten. Dass viele von einst hier jetzt nicht mehr wohnen, ist schon klar. Dennoch ist das Viertel nördlich der 125 St, die jetzt passend den Namen Martin Luther King Boulevard trägt, noch immer schwarz geprägt, kaum durch Latinos, schon gar nicht durch Weiße. Ich frage mich, was King wohl zu den überkochenden identitätspolitischen Kontroversen sagen würde. Die vielen Angehörigen der schwarzen Mittelschicht, denen ich hier begegne, könnte ich fragen. Ich traue mich leider nicht.

Auf den Spuren Hannah Arendts 

Den Rückweg Richtung Midtown wähle ich über den Riverside Park. Der steht schon seit langem weit oben auf meiner Liste der zu besuchenden Orte. Schließlich habe ich Johnsons Jahrestage gleich mehrfach verschlungen, und hier, am Riverside Drive, ist es ja, dass seine Gesine Cresspahl eine neue Heimat gefunden hat, inmitten des mittelklassigen jüdischen New York, das hier noch immer zu Hause ist und, inzwischen in deutlich osteuropäischer Spielart, das Viertel prägt. Und natürlich wohnte hier, in Nummer 370, auch Hannah Arendt. Mindestens zwei gute Gründe also, dem Viertel einen Besuch abzustatten.

Ich bin nicht enttäuscht. Die Straßen und Häuser, das satte Grün, die schachspielenden Opis im Park, die Ladies, die ihre Hündchen Gassi führen: All das atmet eine so sympathische wie unaufgeregte Bürgerlichkeit. „Gediegen“ ist das richtige Wort dafür, und dabei freundlich-einladend. Das wäre, müsste ich in New York wohnen, eines der Viertel, in dem auf Wohnungssuche gehen würde (wo sonst noch, dazu später).

Ich habe schon wieder knapp 30 Kilometer auf dem imaginären Tacho. Gut also, dass es den Broadway gibt, den großen Shortcut durchs Raster der Streets und Avenues. Er bringt mich zum Times Square, von wo ich das Hotel noch rechtzeitig erreiche, um unter der Dusche den Staub und den Schweiß abzuwaschen, mit dem ich einen wunderbaren Tag bezahlt habe.

Dinge, die in New York ins Auge stechen 

Der freilich ist noch nicht zu Ende. Die Tagungsgruppe aus den Niederlanden, Deutschland, Großbritannien und den USA trifft sich im Hotel und geht gemeinsam die paar Schritte zu den UN Headquarters. Die Mitarbeiter der Ebert-Stiftung haben im Hintergrund alles perfekt organisiert. Nachdem wir den Sicherheitscheck überwunden haben, führt uns eine freundliche Dame aus der Dominikanischen Republik durch die Baulichkeiten, die wie eine Zeitkapsel wirken: Nicht nur die Haustechnik stammt aus den 60er-Jahren. Die Dame und das gesamte Interieur scheinen in eine Zeit zu gehören, als man noch glaubte, es bedürfe nur einer Organisation wie der UN, und die Staaten der Welt würden sich von einem Tag auf den anderen plötzlich an Regeln halten.

Der Abend klingt bei feiner Speise und etlichen vorzüglichen Tropfen aus. Wir lernen uns kennen. Als Mann fürs Alte fühle ich mich unter den Experten für das Hier und Jetzt bestens aufgehoben. Besser, wenn das nicht anmaßend klingt, als auf manchem Treffen von Altertumswissenschaftlern. Hier müsste jetzt eigentlich ein Tagungsbericht stehen. Der wird aber noch an anderer Stelle zu lesen sein. Denn was in den Räumen der Ebert-Stiftung, hoch über der Third Avenue im 34. Stock, besprochen wurde, würde einfach den Rahmen dessen sprengen, was in einem Post an dieser Stelle sinnvoll mitzuteilen ist.

Zeit also, sich über ein paar andere Dinge Gedanken zu machen, die bei ein paar Tagen im Big Apple ins Auge stechen:

1. Drogen

Harte Drogen werden wohl konsumiert, sind im Stadtbild aber zumindest nicht sichtbar präsent. Eine Neuerung ist ja die Legalisierung weicher Drogen, die in den meisten US-Staaten mittlerweile wirksam ist, so auch im Staat NY. Die Folgen riecht man allüberall. Wenn irgendjemand einen Glimmstängel in der Hand hält, ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Joint. Konventionelle Raucher gibt es hingegen kaum. Dafür hängt der Dunst von Gras in Parks und auf öffentlichen Plätzen so schwer in der Luft, dass man fürchten muss, stoned zu werden, ohne selbst zu rauchen. Der blaue Dunst von Tabak ist für Nichtraucher allemal unangenehmer.

2. Das Tempo

Ich bin ja normalerweise einer von der schnellen Sorte. Mein Durchschnittstempo zu Fuß beträgt sechs Kilometer die Stunde, und ich sehe gar nicht ein, warum ich in Innenstädten langsamer laufen soll. Meist laufe ich Slalom um stehende Grüppchen und schlendernde Fünferphalangen. Dass die New Yorker laufmäßig auf Zack sind, ist mir schon vor 20 Jahren aufgefallen. Und auch dieses Mal schwimme ich zuverlässig im Strom der Fußgänger, habe zeitweise über Kilometer auf einer Avenue dieselben Begleiter um mich herum. Mir fällt auch auf, dass die Passanten vorausschauend laufen: Man vermeidet konsequent, für seine Mitmenschen ein Stehimweg zu sein und zu viel Bürgersteigbreite für sich zu beanspruchen. Davon könnten sich die Deutschen ein Scheibchen abschneiden. Wie oft passiert es auf meinem Lieblingsspazierweg, dass meine Frau und ich im Gänsemarsch laufen, während entgegenkommende Paare es nicht für nötig halten, überhaupt nur einen Zentimeter zur Seite zu weichen?

3. Der Straßenverkehr

Normalerweise ist der Straßenverkehr in den Staaten ja für seine Friedfertigkeit bekannt. So kenne ich es aus Boston. Michael Bröning von der Ebert-Stiftung hat mir die „New York minute“ erklärt: die Zeit, die vergeht, bis irgendjemand in irgendeiner Situation auf die Hupe drückt. Meist dauert sie nur ein paar Sekunden. Hier schlagen offenbar die italienischen Wurzeln vieler New Yorker durch. Dennoch herrscht auf den Straßen Gutmütigkeit vor: Mein konsequentes Überqueren der Straßen bei Rot beziehungsweise beim Handsignal der Ampel wird vom zähflüssig fließenden Verkehr stoisch toleriert. Auch von dieser Art Rücksichtnahme gilt: Davon wünscht man sich in Deutschland mehr.

Eins ist sicher: Beim nächsten Besuch leihe ich mir ein Fahrrad. Mein einziges NY-Souvenir bis jetzt sind die Blasen, die ich mir auf dem Pflaster zusammengelaufen habe.

Ende von Teil I

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