Das Journal - Eine unbeherrschbare Zärtlichkeit

Vater, Mutter, Kind: Die Familie des Regisseurs Ingmar Bergman dokumentiert aus drei Perspektiven die letzten Monate von Ingrid Bergman

«Dies ist … kein Stück Literatur, sondern ein Dokument. Kein Buch, sondern ein Zeugnis», schreibt Ingmar Bergman in seinem Vorwort, in dem er nicht nur den Grund für die Veröffentlichung privater Tagebücher, sondern in wenigen Sätzen auch die Geschichte einer großen Liebe umreißt – einer Liebe, die Stoff und Motive eines Bergman-Films liefern könnte.

1957 lernten sich Ingmar Bergman und Ingrid von Rosen kennen, 1959 wurde ihre Tochter Maria geboren. Beide waren schon verheiratet und hatten Kinder. Die Dramen und Schwierigkeiten, Versteckspiele und Lügen, das Hin- und Hergerissensein einer solchen heimlichen Verbindung fasst Bergman zusammen in dem Satz: «Die Situ­ation wurde immer schwieriger zu handhaben, und Ingrid wurde von Gewissensqualen geplagt.» Sie sucht Rat und Beistand bei einem Pastor (auch das wie in einem seiner Filme), der ihr, als sie 1970 schwer erkrankt, nachdrücklich zur Scheidung und zum Bekenntnis zu Bergman rät. Nach 18 Jahren Ehe verlässt sie Mann und Kinder, verliert Freunde und die Zuneigung ihrer Verwandten, um den viermal geschiedenen, für seine erotischen Eskapaden bekannten, damals durch­aus noch umstrittenen Regisseur zu heiraten.


Am Rockzipfel der Mutter

Die gemeinsame Tochter weiß bis zu ihrem 22. Jahr nicht, dass Bergman ihr leiblicher Vater ist. Von dieser späten Wahrheit erzählt Maria von Rosen in ihrem Vorwort. Nach einer schönen Kindheit mit drei geliebten Geschwistern und einem großherzigen Vater, der sie mit der gleichen Zuwendung aufzog wie seine blutsverwandten Kinder, traf sie mit elf Jahren der Schock der Trennung der Eltern; ohnehin hatte sie seit jeher das Gefühl, anders zu sein als die anderen. Sie war schlecht in der Schule, ihre Geschwister schafften alles mühelos, sie klebte auffällig am Rockzipfel der Mutter. Sie verzieh Bergman lange nicht, dass er die Mutter aus der Familie gerissen hatte. Als sie die Wahrheit erfährt – und mit einem Schlag acht zusätzliche Halbgeschwister in ihr Leben treten –, löst sich ein existenzielles Puzzle: «Es war, gelinde gesagt, ein aufrüttelndes Erlebnis.» Die biografischen Krisen und Höhepunkte werden in der Rückschau jedoch ganz unbedeutend, weil das Leiden am Verlust, der Tod der Mutter Ingrid, alles überschattet.

 Es geht um Trauerarbeit: Der Regisseur und Seelenkenner stellt seine täglichen Aufzeichnungen vom Oktober 1994 bis zum 20. Mai 1995 neben die Tagebucheintragungen seiner Tochter und seiner Frau. Der Zeit­raum umfasst die erste Krebsdiagnose und reicht bis zum Todestag. Nichts anderes zählt mehr als der Kampf gegen den Krebs sowie die Anstrengung, Reste eines gewöhnlichen Alltags so lange wie möglich zu erhalten. Dass der Mann hier ein berühmter Künstler ist, spielt nur am Rande eine Rolle. Er geht zu Theaterproben, die ihm einerseits immer unwichtiger werden, andererseits aber helfen, die Situation auszuhalten; das wäre bei einem Buchhalter oder Beamten nicht anders. Die Kranke war der Mittelpunkt der Familie, außerdem eine ihm alle alltäglichen Mühen abnehmende Frau: «Er kann nicht einkaufen, sich nicht um die Rechnungen kümmern, nicht kochen, nicht aus der Garage fahren.»


Die Schwäche des großen Bergman

Was die Todesdrohung, die Schmerzen, die Hoffnungen nicht allein mit der Kranken selbst machen – die Behandlung, die Ängste, die ausfallenden Haare, die Tränen –, sondern auch mit den Menschen, die sie lieben und brauchen, davon erzählen diese Tagebucheintragungen eindrucksvoll. Am Anfang steht der Schock, dann kommt die Hoffnung auf Heilung, der Glaube, dass nicht passiert, was man am meisten fürchtet, später ist es die Angst vor den Anfällen, dem Leiden. Und immer wieder wünscht sich Ingmar Bergman, er könnte an ihrer statt sterben, reagiert seinerseits mit Krankheiten auf ihren Krebs. Am Ende sind es seine Eintragungen, die am nachdrücklichsten berühren: die Schonungslosigkeit, mit der der große Bergman über die eigene Schwäche schreibt, über seine Liebe, die Furcht vor einem Leben ohne Ingrid. «Alte Gefühle tauchen auf und überwältigen mich. Ich dachte, ich hätte ihnen ein für allemal ihren Platz zugewiesen. Aber nein.»

Angesichts der Krankheit intensiviert sich das ganze Leben. Einmal notiert er, wie er «von einer unbeherrschbaren Zärtlichkeit ergriffen» wird – und sie danach ruhig einschläft. Überhaupt geht es immer wieder um den Schlaf, die Nächte, die, wenn sie gut gehen, schon ein Geschenk sind. Drei Wochen vor ihrem Tod brechen die Tagebucheintragungen von Ingrid Bergman ab. Sie ist zittrig, will keinen Besuch haben. Wie das Morphium den geliebten Menschen verän­dert, wie man ein «sanftes Ende» herbeisehnt und stattdessen mit einem furchtbaren Kampf konfrontiert wird, davon zeugen die letzten Notate von Tochter und Ehemann. Ingmar Bergman führt seiner sterbenden Frau ihren hoffnungslosen Zustand vor Augen. Das ist vielleicht in einer solchen Situation der größte Liebesbeweis.

Dass man als Leser bei diesen sehr privaten Empfindungen und Beobachtungen trotzdem nie das Gefühl hat, Voyeur zu sein, sondern einem Schicksal beizuwohnen, das weit hinausreicht über die leidenden Akteure, das ist das Wunder dieses Buchs.

 

Ingmar Bergman, Ingrid Bergman, Maria von Rosen
Der weiße Schmerz. Drei Tagebücher
Mit einem Nachwort von Henning Mankell. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Hanser, München 2007. 260 S., 21,50 €

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