Das Journal: Buchrezensionen - Die Sehnsucht, ein großer Künstler zu werden

Texte und Briefe Wie der Schriftsteller Hugo Ball vom Dadaisten zum Heiligenkundigen wurde

Sie begegneten einander im Haus eines Bekannten, der sich mit den Sternen gut auskannte und sie im Hinblick auf das menschliche Schicksal deutete. So kam es, dass bei ihrem ersten Zusammensein viel von Gestirnen die Rede war, die dann beim gemeinsamen Heimweg gleich ihr Bestes gaben: «Da gerade ein sehr schöner Stern langsam durch den Weltenraum el, wir nur nicht wussten, wohin, fragte Herr Hesse uns, ob wir uns etwas gewünscht hätten. O ja. Wir hatten den Wunsch sogar griffbereit, gaben einander die Hände und jeder sagte Auf Wiedersehn.»
 
Dieser Wunsch sollte sich erfüllen, und noch mehr. Hermann Hesse sah das Schriftstellerpaar Emmy Hennings und Hugo Ball nicht nur bald wieder. Zwischen den dreien entwickelte sich überdies eine für beide Seiten weitreichende Freundschaft. Eine Zeit lang wohnten sie in den benachbarten Tessiner Dörfern Agnuzzo und Montagnola, Ball und Hesse unterstützten und förderten einander. Der berühmte Dichter besorgte Mäzene, vermittelte Kontakte, Hugo Ball war ihm ein feinsinniger Gesprächspartner. Dank Hesses Hilfe konnte er dessen erste Biograe verfassen, die der Verlag S. Fischer in Auftrag gegeben hatte. Ball wagte darin einen analytischen Ansatz, ergründete Melodie und Tragik in Hesses Werk, schrieb eine «intensive Durchleuchtung» und zeigte «Hesses Gedicht in seinem Leben».
 
Das Buch erschien gleichzeitig mit dem «Steppenwolf» Ende Mai 1927. Als Hermann Hesse am 2. Juli desselben Jahres seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, wurde Hugo Ball im Hospital «Rotes Kreuz» in Zürich gerade wegen Magenkrebs operiert; er starb wenige Monate später in Sant’ Abbondio. Rechenschaft über einen Teil seines durch unvermutete Biegungen und Kehrtwendungen gekennzeichneten Lebens- und Schaffensweges hatte er noch selbst 1927 in seinem (nachträglich überarbeiteten) Tagebuch «Die Flucht aus der Zeit» abgelegt. Rastlos hatte es den 1886 in Pirmasens geborenen Ball durch diese Zeit getrieben, in jungen Jahren zunächst aus der Enge seiner pfälzischen Heimat nach München. 
 
Ich muss mir einen Namen schaffen Hier studierte er, begann mit dramatischen Arbeiten und beendete eine Dissertation über «Nietzsche in Basel», die er allerdings nie einreichte. Er übersiedelte nach Berlin, wurde Regieschüler von Paul Legband an der Schauspielschule des Deutschen Theaters unter Max Reinhardt, übernahm Verpflichtungen als Dramaturg zunächst in Plauen, später am «Münchener Lustspielhaus», dem er den bis heute gültigen Namen «Münchener Kammerspiele» gab. Fast zwangsläug musste Ball auf diese Weise  in das Umfeld der Schwabinger Boheme geraten. Er publizierte Verse und Beiträge für die expressionistische Zeitschrift «Revolution» – sein Gedicht «Der Henker» löste die Beschlagnahmung des ersten Heftes aus. Er inszenierte die Uraufführung von Franz Bleis Stück «Die Welle» und engagierte sich für eine Stilbühnenkonzeption im Sinne Kandinskys. 
Der Theaterkarriere, die damals ohne Zweifel vor ihm lag, bereitete der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende. Nach der Emigration 1915 in die Schweiz und einer Tingel-Tangel-Existenz mit seiner zukünftigen Lebensgefährtin, der Diseuse und Dichterin Emmy Hennings, gelang ihm 1916 in einer Zürcher Altstadtgasse dann das, weswegen ihn heute die meisten kennen: Hugo Ball begründete im «Cabaret Voltaire» den Dadaismus. «Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja, im Französischen Hotto- oder Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen», notiert er in der «Flucht aus der Zeit», die der Wallstein Verlag in diesem Frühjahr neu herausgibt. 
 
Dort sind vor kurzem auch Hugo Balls Briefe erschienen – die bislang zuverlässigsten, unmittelbarsten Dokumente seines Lebens und Werks. Darin erfahren wir viel über Balls Ambitionen, wie in einem Brief an seine Schwester Maria Hildebrand vom 27. Mai 1914: «Ich muss mir einen Namen schaffen. Das ist das Wichtigste. Ich ersticke in diesen kleinen Verhältnissen. Schwesterlein, ich habe solche Sehnsucht, ein großer Künstler zu werden! Tag und Nacht denke ich nichts andres mehr.» Mit der Erndung des Dadaismus gelang ihm dies ganz unverhofft, auch wenn Ball der Erste war, der sich von Dada wieder verabschiedete. 
 
Den dadaistischen Aufstand gegen alles Etablierte ersetzte er in einem Pamphlet durch die «Kritik der deutschen Intelligenz». Als politischer Redakteur der oppositionellen «Freien Zeitung» in Bern beharrte er gleichzeitig unbeirrbar auf der deutschen Kriegsschuld. Nachdem das Blatt im März 1920 sein Erscheinen eingestellt hatte, wendete Ball sich dem Katholizismus zu, legte die Generalbeichte ab und unternahm hagiograsche Quellenstudien, die er in dem Buch «Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben» ausführte. 
 
Retuschen am Dichterbild Der Katholik Hugo Ball – so wollte ihn insbesondere Emmy Hennings nachträglich verstanden wissen, wie ihre Erinnerungen «Hugo Balls Weg zu Gott» aus dem Jahr 1931 bezeugen. Ball selbst hingegen sah seinen Weg komplexer, ein Brief an Pater Beda Ludwig vom 18. März 1926 belegt es: «Eine seltsame Führung und Fügung brachte es mit sich, dass ich überall in den Brennpunkt der Interessen gelangte: am Theater, in der Kunst, in der Philosophie, in der Politik. All das hat sich in Extrakten bei mir gesammelt.» 
 
Jetzt geben knapp 800 Briefe, Postkarten und Telegramme Auskunft über die große Vielseitigkeit dieses Autors (und übersteigen den Bestand der von Emmy Hennings’ Tochter Annemarie Schütt-Hennings 1957 zusammengestellten Auswahlbriefausgabe bei weitem). Sie komplettieren Balls Tagebuchnotate in der «Flucht aus der Zeit», die den Zeitraum 1913 bis 1921 umfassen und von Ball im Nachhinein noch gründlich retuschiert wurden. Ähnliches hat Emmy Hennings 1930 getan, als sie sein Leben «in Briefen und Gedichten» wiedergab. 

Den beiden neuen Briefbänden steht ein weiterer Band zur Seite, der Kommentare der Herausgeber zu jeder Korrespondenz, ein Nachwort sowie die Register enthält. Zum ersten Mal in der Geschichte der Ball-Rezeption konnten hier die unveröffentlichten Tagebücher von 1921 bis 1927 berücksichtigt werden. Sie betreffen just den Zeitraum, in dem nach der eingangs geschilderten Begegnung am 2. Dezember 1920 die Freundschaft zwischen Hugo Ball, Emmy Hennings und Hermann Hesse entstand. Der im vergangenen Jahr erschienene Briefwechsel Hesses mit den Balls zeichnet ebenfalls ein hübsches Bild davon.

Der Dichter des «Demian», der Hugo Ball alle zwei Tage am Krankenbett besuchte, stufte Balls Schriften 1927 unter den «besten deutschen Büchern unsrer Zeit» ein. Diesen Befund endgültig nachzuprüfen wird freilich erst nach Beendigung der «Hugo Ball Gesamtausgabe» möglich sein – die Briefe haben sie eröffnet, die «Flucht aus der Zeit» wird sie fortsetzen. Ungeduldig wartet man auf die kommenden Bände, die so Überraschendes versprechen wie etwa Balls unveröffentlichtes «Bakunin»-Brevier. Ob auch «Unvergängliches» darunter sein wird, wie Hesse prognostizierte, wird sich dann zeigen.



Hugo Ball
Die Flucht aus der Zeit  Hg. und kommentiert von Bernhard Echte. Wallstein, Göttingen 2004. 420 S., 32 €
 
Hugo Ball Briefe 1904–1927  Hg. und kommentiert von Gerhard Schaub  und Ernst Teubner. 3 Bde. Wallstein,  Göttingen 2003. Zus. 1812 S., 124 €
Hermann Hesse, Emmy Ball-Hennings, Hugo Ball
Briefwechsel 1921 bis 1927  Hg. und kommentiert von Bärbel Reetz. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003. 612 S., 34,90 €

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