Corona – Klima – Krieg - Der lange Schlaf, das böse Erwachen

Corona, Klima, politische Verwerfungen: Motive kriegerischer Auseinandersetzungen gewinnen in unserer Gesellschaft die Oberhand. Reicht unser zivilisatorisches Kapital aus, um eine weitere Eskalation zu verhindern?

Illustration Karsten Petrat
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Autoreninfo

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).

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Im Jahr 2030 wird die Menschheit in einen einjährigen „langen Schlaf“ versetzt, um CO2 zu sparen. Sieben Jahre vorher, im Januar 2023, gab das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg dieser Dystopie von Finegan Kruckemeyer die große Bühne (Inszenierung Philipp Stölzl). Zwar geht die Rechnung nicht auf, es schlafen nicht alle (sondern bereichern sich), und es werden einseitig die sozial Schwachen belastet. Auch die meisten Kritiken waren vernichtend, gleichwohl weniger aus grundsätzlichen Überlegungen (Selbstbestimmungsrecht des Menschen?) als wegen des eindimensional-erzieherischen Duktus des Stückes („leichte Abendunterhaltung“). Aber dem Sub-Genre der Öko-Dystopie steht die Zukunft offen, wobei offensichtlich Aktualität (2023) und Fiktion (2030) immer mehr ineinanderfließen.

Langstrecke Klima, Corona Sprint

Folgt den Corona-Lockdowns jetzt also der Klima-Lockdown? Natürlich sind Unterschiede zwischen Corona und Klima unübersehbar. Das Virus Sars-CoV2 trat im Herbst 2019 auf und war Mitte 2022 im Griff, aber die erste UNO-Klimakonferenz in Stockholm wurde bereits am 5. Juni 1972 eröffnet – und kein Ende in Sicht. Hier „Corona wegimpfen“, dort jedes Jahr Tausende Klimaaktivisten in Tokio, Paris, Dubai. Wie in den zahllosen Nachfolge-Konferenzen bestand bereits 1972 Einigkeit in der Beschreibung der Situation, aber große Zögerlichkeit bei den erforderlichen Maßnahmen. Wie heute: Der Dissens zwischen rohstoffreichen und rohstoffarmen Ländern sowie Industriestaaten (Hauptverursacher) und Entwicklungsländern (Nachholbedarf) konnte nicht aufgelöst werden. 

Auch wenn die Ozon-Problematik durch die fluorierten Kohlenwasserstoffe, also die verstärkte Einstrahlung von UV-Licht durch das „Ozonloch“, durch das Montreal-Protokoll erfolgreich bewältigt werden konnte, wurde in nun 52 Jahren Klimapolitik die verminderte Wärmeabstrahlung mit nachfolgender Klimaerwärmung nicht beeinflusst. Die Alarmmeldungen sind mittlerweile Legion, der Januar 2020 war schon der wärmste seit Beginn der Messungen, der Januar 2024 noch wärmer (der Februar 2024 noch noch wärmer), „die Welt ist auf Drei-Grad-Kurs“, und die Atlantische Umwälzzirkulation (Atlantis Meridional Overtuning Circulation AMOC) droht zu stoppen, sodass Europa in einem ewigen Winter versinkt. 

Nur ein einziges, eigentlich zu erwartendes Ereignis trat nicht ein: ein selbstkritisches Hinterfragen der unterlegten Strategie, und dieser Befund ist bei Corona und Klima deckungsgleich. Pandemieaufbereitung – Fehlanzeige. Ob man beim Klima in den letzten 52 Jahren dem richtigen Weg gefolgt ist – Fehlanzeige. Zwar konstatiert der Potsdamer Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber im Jahr 2020: „Beim Klima ist eigentlich alles, was schiefgehen konnte, schiefgegangen“, aber eine Problemanalyse der verfolgten Strategie findet trotzdem nicht statt. Stattdessen wird „,der Mensch‘ im Kollektivsingular zum Verursacher der Klimakrise erhoben“ (Olivia Mitscherlich-Schönherr), und die wissenschaftlichen „Hohepriester“ (Thea Dorn) fahren fort, das menschliche Leben in ihr eindimensionales physikalisches Weltbild zu pressen. 

Alternativen werden kaum diskutiert

Selbstverständlich treten die Physiker, die die Klimapolitik dominieren, auch als geborene Infektiologen auf, ihr gut ausgestattetes Selbstbild erlaubte ihnen entsprechend schon Jahre vor Corona, die Deutungshohheit für die nächste Pandemie zu beanspruchen: „Wenn ich als Epidemiologe einem menschheitsbedrohenden Supervirus auf der Spur wäre …“, dann würde er sich sofort zu Wort melden, so Schellnhuber bereits im Jahr 2015

Während Corona fühlt sich sein Kollege Stefan Rahmstorf umstandslos dazu berufen, infektiologische und Public-Health-Experten zu delegitimieren (z.B. den Arzt und früheren SPD-Bundesabgeordneten Wolfgang Wodarg). Ganz ähnlich wie ihr Pendant Christian Drosten lassen sie dann auch nicht zu, dass Alternativen diskutiert werden, man sei schließlich kein Corona- bzw. Klimaleugner. Genauso verfährt der Bundesgesundheitsminister und infektiologische Autodidakt Lauterbach, wenn er in der Phoenix-Sendung vom 17.2.2021 – diesmal als Klima-Experte – auftrat und dem Moderator erwiderte, als er auf die Nähe der von ihm empfohlenen Verbote und Einschränkungen zu einer „Klima-Diktatur“ angesprochen wurde: „Ja, aber das sind doch Verschwörungstheorien.“  

Das Resultat dieser ausbleibenden strategischen Hinterfragung ist allerdings brandgefährlich, denn die Widersprüche sind real vorhanden und wirken, auch wenn man sie negiert, im Hintergrund fort. Ganz selten blitzen sie auf und machen auf sich aufmerksam, so ist in einem Artikel mehrerer Autoren in der Zeit vor der 23. Klima-Weltkonferenz in Bonn zu lesen: „Wenn es um den Klimaschutz geht, unterscheidet sich Angela Merkel nicht so sehr von Donald Trump. Oder eigentlich doch. Denn Trump ist wenigstens ehrlich. Bei ihm weiß jeder, dass ihm das Klima egal ist.“ 

Als Leser dieser Zeilen kann man die logischen Implikationen in Ruhe auf sich wirken lassen, für die Gesellschaft bedeuten diese jedoch, dass Nervosität und Spannung an der Tagesordnung bleiben, da eine Beruhigung, eine Integration durch Diskurs und Kritik nicht eintritt. Die Dissonanzen entwickeln sich weiter fort, aus dem Diskussionspartner wird ein Gegner, aus dem Gegner wird ein Feind, und letztlich bedarf es sogar externer Feinde, um die Spirale aufrechtzuerhalten.

Globalistische Hypothesen

Epidemien, so sagt man, beschleunigen vorbestehende gesellschaftliche Entwicklungen, wie z.B. Digitalisierung (Nachverfolge-App), staatliche Kontrolle (China), internationale Koordination (digitaler Impfausweis). Tiefergehende Analysen sprechen von dem Bedürfnis des kapitalistischen Systems nach einem neuen Zyklus unter dem Rubrum der grünen Transformation, Corona als Generalprobe eines System-Resets sozusagen. Globalistische Hypothesen sehen den zunehmenden internationalen Austausch bei immer engerem Kontakt zwischen „Mensch und Natur“ als Ursache für Seuchen und sagen weitere zoonotische Epidemien voraus. 

Militärpolitisch inspirierte Standpunkte verweisen auf die international arbeitsteilig gestaltete Entwicklung von biologischen Waffensystemen mit der Gefahr von Laborausbrüchen. Demokratietheoretische Ansätze gehen von unterschiedlichen Entwicklungsoptionen der demokratischen Gestaltung der Gesellschaft aus, die wegen der zunehmenden Internationalisierung und Experten-Orientierung der Politik im Zeitalter der Polykrisen notwendig erscheinen. Systemtheoretische Modelle sagen demgegenüber voraus, dass jede Gesellschaftsform nicht nur in einen Zustand der Gleichausrichtung übergehen kann (siehe die Theorie der Corona-Thesenpapiere), sondern auch andere Zustände einzunehmen imstande ist, die wiederum eine anhaltende Stabilität (Attraktoren) versprechen.

„Corona-Pest und Klima-Cholera“

Im Lichte dieser oft prominent vorgetragenen Interpretationsansätze ist eine weitere These in den Hintergrund getreten, die man angesichts der Dramatik der Corona-Krise gar nicht auf dem Schirm hatte: Corona als Booster, als Generalprobe für eingreifende Klimaschutz-Maßnahmen. Erst in der retrospektiven Untersuchung fällt ins Auge, wie extrem zeitnah die Analogie zur Klimafrage auf die Tagesordnung kam. Bereits am 11.3.2020, also wenige Tage nach dem ersten Todesfall in Deutschland, schrieb die SZ in einem Kommentar, man müsse „das Virus auch als kleine gesellschaftliche Übung ... begreifen, als Übung im gegenseitigen Umgang, in Solidarität“, denn „auch in der Klimadebatte … werden wir uns alle gegenseitig ertragen müssen“. 

„Gesundheit, Finanzen, Klima – wie viele unsolidarische Systeme kann und will sich diese Gesellschaft noch leisten?“, sekundierte Bernd Ulrich in der Zeit einige Tage später. Für den Leopoldina-Präsidenten (und Klimaforscher) Gerald Haug war sofort klar, dass es sich bei Corona um eine „Krise mit wissenschaftlichem Hintergrund” handele, die Leopoldina müsse „ähnlich dem Weltklimarat“ den Weg weisen

Der hochprominente Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber sah Corona und Klima gleichermaßen als „Anthropozän-Dramen“, um gleich ganz unverblümt zu dozieren, „die wesentlichen Charakteristika der Corona-Krise lassen sich ohnehin auf die globale Klimakrise übertragen: die unerbittliche Gültigkeit der Naturgesetze, die kritische Bedeutung der Rechtzeitigkeit, … die Bereitschaft, das Leben über das Geld zu stellen.“ Am gleichen Tag fragte Petra Pinzler in der Zeit (16.4.2020): „Und was ist mit dem Klima?“ Sie sah durch Corona große Chance für den Klimawandel, nämlich Wachstum einstellen und die Globalisierung zurückfahren (14.5.2020). 

Jasper von Altenbockum brachte es Ende April in der FAZ in einem Kommentar auf den Punkt („Corona-Pest und Klima-Cholera“), man müsse einen Klima-Lockdown anstreben, auch wenn er erschreckt konstatieren musste: „... auf Dauer hieße das aber, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.“ Für die Physikerin Viola Priesemann ist das alles allerdings kein Problem, sie fragte rhetorisch: „Wenn wir das auf den Klimawandel übertragen: Wäre es möglich, eine Art Lockdown durchzuführen, um eine stabilere Situation zu erreichen?“ 


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Es kam, auch das fällt nur im Rückblick auf, sogar zu einer regelrechten Empörungs-Konkurrenz, Klima sei „die vergessene Katastrophe“, denn „während die Welt im Bann der Pandemie steht, schreitet der Klimawandel ungebremst voran“. Die Autorin Maja Göpel und der Politologe Christian Felber bemängelten im Spiegel („Letzte Ausfahrt Corona“), dass man zwar wegen Corona die Grundrechte eingeschränkt habe, für das Klima geschehe jedoch nichts. 

So schaukeln sich Corona und Klima gegenseitig hoch. Caspar Hirschi fasst es prägnant zusammen: „Die Klimakrise ist zum dominanten Deutungsrahmen für die Covid-19-Pandemie geworden. Es begann damit, dass die Gesellschaft bereits kurz nach dem Ausbruch der Seuche in Sehende und Geblendete aufgeteilt wurde. Man setzte den Klimaleugnern die ,Coronaleugner‘ oder ,Covid-Idioten‘ zur Seite. Die Vielfalt an Motiven, die Menschen zur Ablehnung der Eindämmungsmaßnahmen bewogen, reduzierte sich in vorauseilender Anwendung des schlimmstmöglichen Verdachts auf jenes der Realitätsverweigerung.“  

„Der lange Schlaf“ fürs Klima, so darf man konstatieren, ist also durch die Corona-Maßnahmen, speziell durch die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und durch die Lockdowns, der Wirklichkeit deutlich näher gerückt. 

Politiker in Roben – das Patt auf hohem Niveau

Nach einem kurzen Atemholen (Impfung stand an) brachten dann im Jahr 2021 zwei zentrale Urteile des Bundesverfassungsgerichts eine neuerliche Belebung der Debatte zur Parallelität von Corona und Klima. Hatte das Gericht noch mit dem Sterbehilfe-Urteil vom 26.2.2020 dem individuellen Selbstbestimmungsrecht gegenüber dem staatlichen Eingriff klar das Vorrecht eingeräumt, ermöglichte es jetzt dem Staat und legte ihn sogar darauf fest, die individuellen Freiheitsrechte des Einzelnen dann einzuschränken, wenn es notwendig sei: zur Einschränkung des CO2-Ausstoßes, soweit sonst eine Einschränkung künftiger Generationen eintreten könnte (sog. intertemporale Freiheitssicherung, Urteil vom 24.3.2021), oder soweit es zur Eindämmung einer Epidemie notwendig erscheine („äußerste Gefahrenlage“, Urteil vom 19.11.2021). 

Natürlich weist der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio mit Recht auf die Unterschiede beider Urteile bzgl. der Bindungskraft für das staatliche Tun hin: „In dem einen Fall wird der Gesetzgeber mit recht harter Hand auf einen klimapolitischen Pfad gesetzt, im anderen Fall verständnisvoll sein großer demokratischer Einschätzungsspielraum bei der Pandemie betont.“ Aus Sicht der Freiheitsrechte des Einzelnen gehen beide Urteil jedoch in die gleiche Richtung. 

Allerdings lassen einige Aspekte der Argumentation aufhorchen, so kommentiert die für das Klima-Urteil zuständige Berichterstatterin im BVerfG, Gabriele Britz, die Argumentation in der FAZ mit einem bemerkenswerten Dreiecks-Schluss: Ausgehend von der inhaltlich irritierenden Feststellung „Freiheitsgebrauch setzt Energie voraus“, folge daraus (da das Energie-Restbudget endlich ist) „eine Pflicht der Politik, Freiheit und auch eine gewisse Verteilung von Freiheit sicherzustellen“, dazu „kommen natürlich auch Verbote in Betracht“. Freiheit – Energie – Politik, eine direkte Verantwortung der Politik für Freiheit scheint nur noch vermittelt über die Energiefrage denkbar zu sein.

Durchmarsch der Klimafrage

In dieser Konstellation hätte man eigentlich einen Durchmarsch der Klimafrage erwarten müssen: Bei Corona machte man Erfahrungen in der Krisenbewältigung und lernte für die „große Aufgabe“ beim Klima. Erstaunlicherweise trat diese Entwicklung nicht ein, sondern beide Urteile lösten erheblichen Widerspruch aus. Beim Corona-Urteil war es vor allem das Abendessen des Gerichtes mit der Bundesregierung, einer der beiden Prozessparteien, wenige Wochen vor Urteilsverkündigung, was wegen des Verdachts der Parteinahme für Unmut sorgte.  

Breiter noch war der Widerspruch beim Klima-Urteil, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde die fehlende thematische Eingrenzung kritisiert, das Prinzip der intertemporalen Freiheitseinschränkung könne man zu leicht auch auf andere gesellschaftliche Phänomene anwenden. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte z.B. die weitere Entwicklung der Rentenversicherung oder die Verschuldungsproblematik im Blick, ähnlich dem Präsidenten des Bundesozialgerichtes Rainer Schlegel (FAZ 7.5.2021) und dem Verfassungsrechtler Gregor Kirchhof (FAZ 23.9.2021) aus Augsburg: „Die Mehrzahl der sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik Deutschland ist schon jetzt sofort [also nach dem Urteil, MS] verfassungsrechtlich voll überprüfbar.“

Zweitens wurde kritisiert, dass das Gericht seinen Kompetenzbereich übertrete: „Das Bundesverfassungsgericht verdankt sein hohes Ansehen ganz wesentlich dem Umstand, dass es nicht als Wettbewerber im politischen Gestaltungsprozess auftritt", so N. Lammert (ebd.) ,„je mehr es mit einem Beschluss als politischer Akteur wahrgenommen wird, desto mehr strapaziert es seine Autorität.“ Selbst das Grünen-Mitglied Ralf Fücks vom Liberalen Zentrum kam zu einem abwägenden Urteil über den intertemporalen Freiheitsbegriff und betont die Eigenständigkeit der politischen Entscheidung

Karl-Heinz Ladeur, emeritierter Professor für Öffentliches Recht der Universität Hamburg, steigerte die Kritik noch deutlich: Es folge ein „Notstandsregime, das die Beschränkung aller Freiheiten erlaubt. Einen Vorgeschmack hat uns das Corona-Notstandsregime vermittelt, das immerhin auf eine beschränkte Dauer angelegt ist.“ Der Wissenschaftsjournalist und Bioökonom Jan Grossarth sah eine „Apokalypse nach Karlsruhe“ und kritisiert die „Hypermoral der Emissionsfreiheit“, ähnlich wie der Bonner Staatsrechtler Dietrich Murswiek und der Politologe Peter Graf Kielmannsegg („Bankrotterklärung der Demokratie“) in der SZ, beide nur knapp einen Totalverriss vermeidend. 

Subtile Erosion der Demokratie

So befand sich die Gesellschaft in der zweiten Jahreshälfte 2021 in einem Zwischen- oder Wartestand. Die unsägliche Diskussion über die tief in das Persönlichkeitsrecht eingreifende Impfpflicht ließ zwar eine weitere Polarisierung erkennen, wurde aber in ihrer allgemeinen Form letztlich doch nicht umgesetzt. Allerdings wurde die Ruhepause nicht zur „heilenden Diskussion“ genutzt, die Mauern nicht rückgebaut. 

Gut erkennen kann man es am Medienmarkt, es grassierte weiter der Haltungsjournalismus, die Kluft zwischen den „Qualitätsmedien“ und den „alternativen Medien“ nahm zu. Der sog. Satiriker Jan Böhmermann tönte mit fraglichem Vokabular Sätze wie „Was die Ratten in der Zeit der Pest waren, sind Kinder zurzeit für Covid-19: Wirtstiere“ (Casino Royale 28.1.2022), und erwartungsgemäß konnten solche abwegigen Aussagen die gesellschaftlichen Spaltungen ganz und gar nicht abmoderieren, was ja wohl auch nicht intendiert war.

Wenn man analysiert, aus welchen Gründen ein Rückbesinnen in dieser kurzen Zeit (n.b., im Februar 2022 beginnt der Ukraine-Krieg) ausblieb, muss man den Kontext in den Blick nehmen. Einerseits gab und gibt es eine erregte Debatte über den Zustand „der Politik“ und über die Leistungsfähigkeit des demokratischen Systems, andererseits war die Gesellschaft schon länger von einer identitären Regression erfasst. Zur Demokratie-Debatte gab es nicht nur bedenkliche Umfrageergebnisse (die Lösungskompetenz, die man dem demokratischen System zuschrieb, hatte in der Bevölkerung abgenommen), sondern auch auf der politischen Ebene war der Umgang mit den verschiedenen Krisen umstritten. Bereits 1990 hatte Fedor Mesinger, Präsident der Weltorganisation für Meteorologie (WMO), gewarnt: „Das Problem ist, dass Politiker nur in Wahlperioden denken, während wir Klimaforscher eben auch die Entwicklung in den nächsten 20 oder 50 Jahren im Auge halten müssen“ (FR 28.4.1990). 

Die Demokratie muss schneller werden“, so Bernd Ulrich im Jahr 2007 in der Zeit, um fortzufahren: „Und selbst einmal angenommen, Diktaturen könnten das Klima besser schützen als Demokratien – es wäre egal. Denn in den westlichen Gesellschaften würde sich niemals eine politische Kraft durchsetzen, die ein grüne Diktatur anstrebt. Gott sei Dank, denn die Freiheit wäre ein zu hoher Preis für eine gesunde Natur.“ Auch der Kulturwissenschaftler Nico Stehr warnte in der FAZ vom 1.12.2015 unter dem Titel „Prima Klima ohne Demokratie“ davor, dass Klima zu einer „Frage der politischen Regierbarkeit moderner Gesellschaften“ wird, und konstatiert eine „Verkennung des sozialen Charakters von Wissen im Allgemeinen und der umstrittenen Natur des politischen Wissens im Besonderen“. 

Der Berliner Politologe Wolfgang Merkel warnt 2020: „Wenn Deutschland in der Viruskrise vergleichsweise gut abschneidet, lässt sich argumentieren, dass es dann auch für die größere Krise, die Klimakrise, einen entsprechenden Notstandsmodus braucht. Dass störende Vetospieler, auch die Parlamente, teilentmachtet werden. Das wäre ein Programm zur subtilen Erosion auch etablierter Demokratien.“ Zu diesem Zeitpunkt gab es also noch Hemmungen. Die aber bald über Bord gehen. 

„Das ist keine Meinung. Das ist eine Tatsache“

Bereits vor Corona schlägt die SZ (7.12.2018) den neuen Ton an, indem sie „Klimaleugner“ mit Namen und Bild an den Pranger stellt, alles wie auch später immer wieder verkleidet in einen „investigativen Journalismus“, der vor allem, das muss man leider sagen, der Bestätigung der eigenen Parteilichkeit dient. Später, bereits während Corona, sekundiert die Klimaaktivistin Greta Thunberg, die ökonomischen und politischen Systeme von heute hätten sich als unfähig erwiesen, die Krise zu lösen, dazu brauche es keine Diskussion, denn „das ist keine Meinung. Das ist eine Tatsache“. 

„Im Grunde genommen ist in einer Pandemie eine gutmütige Diktatur eine gute Art und Weise, die Pandemie zu bewältigen“, sagt Peter Indra, der Chef des Zürcher Amtes für Gesundheit, und am 23.1.2023 schlussfolgert der Klima-Aktivist Tadzio Müller im Doppelinterview mit der FDP-Politikerin Linda Teuteberg: „Es gibt eine einzige in der Marktwirtschaft im Rahmen des demokratischen Kapitalismus durchgeführte Politik, die eine deutliche Senkung des CO2-Ausstoßes bewirkt hat. … Der erste Corona-Lockdown 2020, eine Zeit, auf die niemand von uns mit großer Freude zurückschaut. Das ist das einzige politische Werkzeug, das zu relevanten Emissionsreduktionen führt. … Es muss auf jeden Fall etwas runtergefahren werden.“  

Identitärer Rückzug

Letztlich ist die Krise der Staatsform ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Verfasstheit. Denn bei allen berechtigten oder unberechtigten Zweifeln an der Funktionalität der Demokratie lautet die drängende Frage: Wie soll es mit der gesellschaftlichen Erhitzung und Spaltung weitergehen? Fast könnte man an ein streitendes Ehepaar denken, das auf seinen Streit zur Fortexistenz angewiesen ist, weil es sonst vor dem Nichts steht. 

Insbesondere das um sich greifende lineare Verständnis von Politik und Gesellschaft, so wie wir es bei Corona und Klima kennengelernt haben, stellt sich als ein großes Problem heraus. Die Gesellschaft ist nichts als ein Maschinenraum, so lautet die hierarchische Lesart, aber auch wenn ein solches Verständnis auf den ersten Blick ganz praktisch erscheint (endlich mal durchregieren, „die Not kennt kein Gebot“), ist es letztlich fehleranfällig (siehe die Habeck’schen Heizungsgesetze), unflexibel und irrtumsbehaftet, aber fast immer getragen von einer ungemeinen Selbstüberhöhung.

Diese Inflexibilität und Fehleranfälligkeit fällt dem interessierten Publikum natürlich dann besonders auf, wenn man sie auf die überlebensgroßen und überlebenswichtigen Aufgaben bezieht, die fortwährend beschworen werden. Fritz Vorholz hatte im Klima-Zusammenhang bereits vor 15 Jahren die große „Gesellschaftliche Transformation“ gefordert: „Die Herausforderung in so kurzer Zeit zu bewältigen, verlangt weit mehr als normalen Strukturwandel“, es „fällt der Startschuss für eine gesellschaftliche Transformation, die allenfalls fundamentalen Umbrüchen wie der Sesshaftwerdung der Menschheit nahekommt“. 

Wenn es drunter nicht geht, in der Umsetzung aber die einfachsten handwerklichen Grundsätze nicht beachtet werden, dann legt sich die „schwere Decke“ der Unglaubwürdigkeit und Aussichtslosigkeit über das Land. Es nützt dann auch nichts, wenn der Klimaforscher Schellnhuber schon in den ersten Tagen der Corona-Krise kundtut: „Corona-Krise markiert tatsächlich den Beginn einer neuen Zeit.“ Er glaubt zu wissen, „dass wir gerade Zeugen eines speziellen Erstversuchs an der Menschheit durch die Menschheit“ werden. Vielleicht liegt dem seine gleichsam erstaunliche wie falsche Einsicht zugrunde, dass Corona „einen eher simplen Fall von komplexer Dynamik darstellt“, eine geradezu groteske Fehleinschätzung – die aber System hat: dick auftragen, nichts dahinter.

Außerhalb des grünen Spektrums

Allerdings sollte man nicht bei den „Experten“ stehen bleiben, die ganze Gesellschaft befindet sich mitten in einer identitären Umformung. Charakteristisch sind Bücher wie „Bleibefreiheit“ von Eva von Redecker, die mit Ausrufen wie „Nicht fliehen müssen, an einem Ort bleiben können, das ist Freiheit“ wahrscheinlich unwissentlich die zentralen Aussagen von Gesellschaftsforschern wie z.B. Richard Sennett bereits aus den 70er Jahren bestätigt, dass sich das Bürgertum selbstverloren und zugleich selbstvergewissernd in abgeschiedene Schutzräume zurückzieht. 

Bemerkenswert die Beobachtung, dass die SZ dieses Buch unter „Mit den Schwalben tanzen“ allen Ernstes als „links“ bezeichnet, nichts könnte von politisch-ökonomischen Argumentationen einer linken Gesellschaftsanalyse weiter entfernt sein. Sogar der Klimaforscher Schellnhuber konstatiert in einer für einen Physiker seltsam erscheinenden idealistisch-metaphysischen Überhöhung einen „Verlust von seelischer Geborgenheit in der Natur“ und will eine „biobasierte Kreislaufwirtschaft durchsetzen“. Bei so viel Esoterik liegen eben die sozialen Folgen der Corona-Maßnahmen oder der Klimabeschlüsse („Klimageld“, das wohl nie Wirklichkeit werden wird) völlig außerhalb des grünen Spektrums identitärer Politik.

„Impfgegner“ – „Klimaleugner“ – „Coronaleugner“

Die vier Kernelemente der identitären Ideologie jedwelcher Couleur sind Angst, Konformismus, moralische Überhöhung und Szientismus. Zur Angst gehören nicht nur die Bilder von Bergamo während Corona, sondern auch die fortgesetzten Horrormeldungen über abschmelzende Permafrostböden und Tipping Points (Kipppunkte), die zwar zutreffend sein, aber in dieser Aneinanderreihung kaum den gewünschten Effekt (nämlich überlegtes, koordiniertes Handeln) haben dürften. Durch diese Angst wird ein Konformismus erzwungen, der strikt nach innen und außen, nach Freund und Feind unterscheidet, wodurch eine produktive Diskussion verschiedener Meinungen nicht mehr möglich ist. Hinzu kommt der Hyper-Moralismus, der den offenen Diskurs durch interne Werte ersetzt und die identitäre Gemeinschaft stabilisiert: „Wir sind die Guten.“

Zentral für die Herstellung dieses moralgesättigten Konformismus sind die Medien. Bereits 2012 erschien in der Zeit ein Artikel in einer neuartigen suggestiven Sprache, „Die Klimakrieger“, in dem in einem investigativen Habitus unliebsame Klima-Experten an den Pranger gestellt werden (z.B. Fritz Vahrenholt). Gefolgt wird dieser Artikel drei Jahre später durch einen SZ-Titel „Im Feuer“, in dem (ähnlich wie später bei Corona) von ihren mit Photoshop bearbeiteten Schwarzweiß-Porträts leidend herabschauende Klimaforscher von ihrer Verfolgung durch anders denkende Kollegen („Aggressoren“) berichten. 

Interessant: Bereits hier findet sich (fünf Jahre vor Corona) der Verweis auf ähnlich arbeitende „Impfgegner“. Schließlich wird ebenfalls von der SZ in einem Artikel 2018 der Begriff „Klimaleugner“ geprägt, der dann in der Corona-Zeit als „Coronaleugner“ seine Wiederauferstehung erlebt. Die Trennlinie zwischen Journalismus und Aktivismus verschiebt sich weiter und weiter, denn Klima durchdringt alle Bereiche, „ein bisschen wie Corona, das ja auch alle Lebensbereich betrifft – nur langfristiger“. Und der Bezug auf den Appell des Ur-Journalisten Hanns Joachim Friedrichs, sich nicht mit einer Sache gemein zu machen, auch nicht mit einer guten, erscheint nur wie ein Ruf aus der fernen Vergangenheit.

Szientistische Wissenschaftsfeindlichkeit

Das letzte Element der Identitäts-Tetralogie, die Wissenschaftsgläubigkeit in ihrer positivistischen Färbung (Szientismus) und die sich darunter verbergende Wissenschaftsfeindlichkeit (Einengung des Diskurses), rundet das Bild ab, gleichermaßen für Corona und das Klima. Schon 2007 beschreibt der Wissenschaftsjournalist Axel Bojanowski die Situation mit den Worten „Die Beratenden sind letztlichen mit den Beratenen identisch“.  

Nicht nur werden in den Jahren 2007 bis 2013 zahlreiche Klimaforscher (z.B. Hans von Storch, ehemaliger Direktor des Instituts für Küstenforschung in Geesthacht und Autor zahlreicher internationaler Klimaberichte) aus der Diskussion hinausgedrängt, sondern selbst die Direktoren des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg, Jochem Marotzke und Bjorn Stevens, sind vor dem Furor nicht gefeit und müssen sich rechtfertigen, wenn sie bestimmte Positionen wie z.B. die der Klima-Kipppunkte nicht in ihrer absoluten Form mittragen

Ähnlich geschieht es bei Corona, wo die „feine Minderheit von „Corona Centrists“, so der Schweizer Historiker Caspar Hirschi, keine Chance haben, wenn sie fachlich begründete, von der Meinung der Hohepriester abweichende Ansichten vertreten. Die Schlinge wird immer enger gezogen, jetzt unterscheidet man bei Youtube schon „old denial“ (die altmodischen „Klimaleugner“) von „new denial“, wo man nicht den Klimawandel leugnet, sondern „nur“ Zweifel streut – Zweifel, das Salz der Wissenschaft, sollen also unterbunden werden.  

Anfeindungen und Ausschlussdrohungen

Dabei ist die Existenz ungelöster Fragen sowohl bei Corona als auch in der Klimathematik nicht zu leugnen, es sind tatsächlich also Zweifel nicht nur angebracht, sondern dringend notwendig. So kann nach den Worten des Klimaforschers Anders Levermann aus dem Potsdam-Institut die derzeitige Erwärmung des Nordatlantik nicht schlüssig erklärt werden. Es ist unklar, welches Klima-Modell sinnvoll einzusetzen ist (das aggressive PCP8.5 oder das moderatere RCP4.5). 

In der Ökonomie gibt es erhebliche Auseinandersetzungen mit persönlichen Anfeindungen und Ausschlussdrohungen, der Altvordere Hans-Werner Sinn stellt die Grundannahmen der Klimamaßnahmen umfassend in Frage. Und wenn man mal auf einen amerikanischen Intellektuellen hören möchte (es müssen ja nicht alle Leute mit einer anderen Meinung Volltrottel, New-denial-Vertreter oder Rechtsradikale sein), dann könnte man sich die Analyse z.B. von Jonathan Franzen in der Zeit vom 30.1.20 anschauen, der bezüglich der Umsetzbarkeit der Klima-Strategie begründete Zweifel formuliert.  

Wie weit sich diese Misstrauenskultur schon in die wissenschaftlichen Betrieb hineingefressen hat, zeigt die Offenlegung des kalifornischen Klimaforschers Patrick Brown, der nach Erscheinen seiner Nature-Publikation über den Zusammenhang von Klimaerwärmung und Waldbrandgefahr bekannte, dass er willentlich keine anderen Faktoren als nur das Klima (und nicht z.B. die Form der Waldbewirtschaftung) in die Analyse der Waldbrand-Ursachen mit aufgenommen habe, weil er davon ausging, dass die Herausgeber dieser Top-Zeitschrift und deren Reviewer seinen Artikel sonst nicht veröffentlicht hätten

Albträume und Kriegslust

Bringt nun der „lange Schlaf“ Erlösung? Können wir mit dem Klima-Lockdown und anderen, während Corona verwendeten Verfahren (z.B. Mobilitätskontrolle) die Klima-Problematik ins Positive drehen? Die Antwort liegt auf der Hand: Nein. Selbst wenn die Demokratie abgeschafft würde, wird es nicht klappen, man kann eine Weltbevölkerung nicht einsperren. Aber das ist nicht das tiefere Problem. Der lange Schlaf scheint zwar Ruhe und Entspannung zu versprechen, aber tatsächlich ist er nicht der des Friedens, sondern er ist durchsetzt von Albträumen. 

Wie in dem eingangs erwähnten Schauspiel dargestellt, durch noch so viel Schlaf kann man die Probleme nicht aus der Welt räumen, die in dieser Welt existieren – Epidemien, Klimaerwärmung, mangelnde Ernährung, diese sind real. Aber noch hinzu kommt die innere Welt, neben den externen Herausforderungen melden sich im Schlaf die internen Bedingungen als diejenigen, die Albträume so quälend und furchterregend machen. Zu reden ist an dieser Stelle über Gewalt, Gewalt, die der Gesellschaft innewohnt und derzeit gewaltsam an die Oberfläche drängt. Warum ist dies der Fall? Weil latent in den gegenwärtigen Krisenerfahrungen Gewalt und Krieg nicht nur mitschwingen, sondern aktiv darauf Bezug genommen wird.

Alle Waffen, die man besitzt

Sehr früh bereits hatte die chinesische Führung von einem „Volkskrieg“ gegen das Coronavirus gesprochen, ein paar Wochen später wiederholt von Macrons „Krieg gegen das Virus“. Rasch fand das Wort der „Kriegswirtschaft“ den Weg in die Medien, man müsse sich „Kriegsanstrengungen“ unterziehen (FAZ 26.3.2020), und bereits am 14.3.2020 machte der Spiegel mit der Schlagzeile „Sind wir bereit?“ und einem Titelbild auf, das ein Feldlazarett wie im Krieg zeigte

Zum Klima sagte der UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon bereits 2007, das Klima sei so wichtig wie Kriege. Im Jahr 2009 gab Fritz Vorholz in der Zeit zu Protokoll, „neun Prozent weniger CO2 pro Jahr, das sei ,nur im Rahmen einer Kriegswirtschaft‘ möglich“. Wie nahe die Gedanken der Klimaforscher beim Krieg sind, offenbarte Schellnhuber in der FAZ vom 14.12.2015 zur Paris-Konferenz: „Der Spirit in Paris war völlig anders als in Kopenhagen. Wenn man hier morgens ankam und es begrüßte einen ein Soldat mit einer Maschinenpistole in der Hand, war deutlich: Die Weltgemeinschaft ist aufgerufen, sich zusammenzuraufen.“ Um später fortzufahren: „Der Tod wartet“ – und man erkennt die „Notwendigkeit, alle Waffen, die man besitzt, ins Feld zu führen“.  

Die Einführung einer Kriegswirtschaft

Nach Einsetzen des Ukraine-Krieges schließt sich dann der Kreis. In der SZ-Serie „Wohlstand und Verzicht“ werden Klima und Ukraine-Krieg zusammengeführt (Corona schwingt mit), es eröffne sich ein „Möglichkeitsfenster“, um die „antrainierte politische Passivität“ aufzubrechen. Bezugnehmend auf das Buch „Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens“ des Berliner Politologen Philipp Lepenies, der den starken Staat hochleben lässt, hatte die SZ bereits vorher kritisiert, dass diese Mahnung nach der breiten Zustimmung zu den Corona-Maßnahmen eigentlich ja gar nicht mehr nötig sei. Ulrike Herrmann schließt einige Wochen später an diese Argumentation an und empfiehlt zur Regelung der Klimakrise im Sinne des „grünen Schrumpfens“ die Einführung der Kriegswirtschaft, wie sie in Großbritannien im zweiten Weltkrieg praktiziert worden sei („Das Ende des Kapitalismus“). 

Diese Kriegsmetapher als Ausweg hat sich im Verlauf des Jahres 2023 stabilisiert. Pazifistische Positionen sind fast vollständig aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden, stattdessen eröffnet der Bundeskanzler Munitionsfabriken, und der Spiegel titelt: „Wie die Kommission die EU auf Kriegswirtschaft umstellen will“. Der Gesundheitsminister plant derweil die Ertüchtigung des Gesundheitswesens im Sinne der Kriegsmedizin („Lauterbachs Krieg“). 

An dieser Stelle schließt sich auch der biographische Kreis des Autors dieser Zeilen, denn diese Thematik war Grund für die Kriegsdienstverweigerung, wohlgemerkt als Arzt, vor knapp 45 Jahren. Für die Gesellschaft besteht allerdings die Gefahr, sich durch Verhärtung der eigenen Strukturen und die Einengung des Gesichtsfeldes in eine Katastrophe zu bewegen, die das Leid endlos vergrößern und die Existenz zumindest Europas zerstören wird. Von Klimawandel oder Epidemien wird man dann nicht mehr sprechen müssen, der Krieg wird diese Themen schlichtweg pulverisieren.

 

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