Bildungspolitik - Berlin braucht das Gymnasium ab Klasse 5

In Berlin gibt es noch ein Relikt aus der Nachkriegszeit: das Gymnasium ab Klasse 7. Der von der SPD geführte Senat hält eisern an der sechsjährigen Grundschule fest, um die Gleichheitssehnsüchte der Genossen zu befriedigen. Lernbegabte Schüler haben das Nachsehen. Es ist Zeit für einen Wandel. Denn im neuen IQB-Bildungstrend schneiden Berliner Schüler am schlechtesten ab.

In Mathematik verfehlen 34,5 Prozent der Berliner Grundschüler den Mindeststandard, weniger als zehn Prozent erreichen das höchste Level / dpa
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Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Dass Berlin anders tickt als der Rest der Republik, konnten die Deutschen zuletzt bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 erleben. Die Pannen in den Wahlbüros erinnerten eher an eine Bananenrepublik als an die Hauptstadt einer gefestigten Demokratie. Die Landtagswahl und in Teilen auch die Bundestagswahl müssen im Frühjahr 2023 wiederholt werden. Der grüne Bürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, witzelte schon vor Jahren, in Berlin verlasse man den „funktionierenden Teil Deutschlands“. Den ruppigen Umgangston, die langen Wartezeiten auf den Bürgerämtern und die Vermüllung des öffentlichen Raumes nehmen die Berliner mit stoischer Gelassenheit hin: „Dit is eben Berlin!“

Auch im Schulsystem gibt es Besonderheiten, die im Rest der Republik allerdings eher Befremden als Schmunzeln hervorrufen. So beginnen in Berlin die Gymnasien in der Regel mit der 7. Klasse. Von insgesamt 91 staatlichen Gymnasien ist es nur 36 Schulen erlaubt, grundständige Züge ab Klasse 5 einzurichten. Von den 23 privaten Gymnasien beginnen auch nicht alle mit der 5. Klasse. Über diese bildungspolitische Marotte könnte man hinwegsehen, wenn die Grundschulen der Hauptstadt vorbildliche Arbeit ablieferten. Dem ist jedoch nicht so. 

Schwachstelle Grundschule

Der Bildungstrend 2021 des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin zeichnet von den Leistungen der Berliner Grundschüler ein düsteres Bild: Von den getesteten Viertklässlern verfehlten beim Lesen 27,2 Prozent den Mindeststandard, beim Zuhören waren es 27,1 Prozent, in der Orthografie 46,1 Prozent und in der Mathematik 34,5 Prozent. In allen vier Kompetenzbereichen erreichten weniger als 10 Prozent der Grundschüler das optimale Level. Im Klartext heißt das, dass knapp die Hälfte der Viertklässler in der Rechtschreibung völlig versagte und dass etwas mehr als ein Drittel einfachste Rechenaufgaben nicht lösen konnte. Im Vergleich mit Bayern und Sachsen haben Berlins Grundschüler einen Rückstand von einem ganzen Schuljahr. Dass sich Berlin mit Bremen die Rote Laterne im Ranking der Schülerleistungen teilt, erübrigt sich fast zu erwähnen. Seit über zehn Jahren kennt man diese beiden Kellerkinder.

Was sind die Ursachen für das Versagen der Berliner Grundschüler? In Berlins Schulen ist der Anteil fachfremd erteilten Unterrichts besonders hoch, vor allem in den Grundschulen. Bildungsforscher Olaf Köller, der 2020 eine vielbeachtete Studie über die Qualität der Berliner Schule vorgelegt hat, sieht darin eine der Ursachen für die schlechten Schülerleistungen, vor allem in Mathematik. Fachfremd erteilter Unterricht habe „signifikant negative Effekte auf Mathematikleistungen“. Eine weitere Ursache liegt darin, dass in Berlin viele Kinder eingeschult werden, die große Entwicklungsdefizite, vor allem bei der Sprachentwicklung, aufweisen. Diese konnten nicht entdeckt werden, weil viele Eltern ihre Kinder nicht zum verpflichtenden Sprachtest geschickt haben. Und wenn Kinder wegen erkannter Defizite zum Sprachförderunterricht verpflichtet wurden, sind sie einfach nicht erschienen. Berlins Schulverwaltung lässt die Eltern gewähren, weil es bei den linken Parteien nicht populär ist, den Versäumnissen mit Sanktionen entgegenzuwirken.

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Hamburgs. Im aktuellen IQB-Bildungstrend wird dem Stadtstaat „die größte Erfolgskurve“ bescheinigt. Das Land habe sich gegenüber den Schlusslichtern Bremen und Berlin „weit nach oben abgesetzt“. Als Grund nennen die Autoren der Studie die „Strategie einer datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung“, die seit über 20 Jahren im Hamburger Schulsystem etabliert ist. Hamburg praktiziert mit KERMIT eine engmaschige Kompetenzmessung, wie sie kein anderes Bundesland aufweisen kann. In den Jahrgangsstufen 2, 3, 5, 7, 8 und 9 werden die Wissensstände aller Schüler in den Kernfächern ermittelt. Dies ermöglicht es der einzelnen Schule, sofort gegenzusteuern, wenn sich fachliche Defizite bemerkbar machen. In Berlin wäre ein solches System undenkbar, weil hier das Leistungsprinzip immer noch verteufelt wird.

Bei der frühen Sprachförderung versagt Berlin

Am hohen Anteil von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache können die schlechten Leistungen der Berliner Grundschüler nicht liegen, da Großstädte wie München, Frankfurt/M., Stuttgart und Köln einen noch höheren Anteil solcher Kinder in den Schulen aufweisen. Olaf Köller bestätigt diese Auffassung: „Diese Zahlen lassen insgesamt zwei Schlussfolgerungen zu: Zum einen ist der Anteil der sehr schwach lesenden Schülerinnen und Schüler in Berlin sehr hoch; zum anderen erreichen Länder mit einer vergleichbaren Zusammensetzung der Schülerschaft im Mittel höhere Leistungsniveaus ihrer Schülerinnen und Schüler.“ Der richtige Umgang mit Schülern mit Migrationsgeschichte wird immer wichtiger. 2021 betrug der Anteil der Viertklässler, die zu Hause nur Deutsch sprechen, nur noch 62 Prozent. 2016 waren es noch 73 Prozent, 2011 sogar 84 Prozent. Die sprachliche Förderung vor der Einschulung ist deshalb die wirksamste Methode, dem späteren Schulversagen vorzubeugen. Hier liegt in Berlin vieles im Argen.

 

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Wie die aktuellen Leistungsdaten zeigen, haben Berlins Grundschulen seit Jahren kein Rezept gefunden, mit der großen Heterogenität in den Klassen so umzugehen, dass sich die Lernergebnisse aller Schüler verbessern. Wenn sich in einer diversen Grundschulklasse die Schüler bei den Lernvoraussetzungen – Sprachvermögen, Auffassungsgabe, Lerneinstellung – stark unterscheiden, fällt es den Lehrkräften schwer, mit ihren Lernangeboten jeder Begabung gerecht zu werden. 

Deshalb sind die Schüler, die nach der vierten Klasse aufs Gymnasium wechseln können, eindeutig im Vorteil. Durch das anregende intellektuelle Milieu und die homogenen Lerngruppen in der gymnasialen Unterstufe lernen sie so gut, dass sie schon in kurzer Zeit einen Wissensvorsprung gegenüber den Schülern haben, die an der Grundschule verbleiben. Die „Element-Studie“ der Humboldt-Universität zu Berlin aus dem Jahr 2008 belegt am Ende von Klasse 6 in den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik einen Lernvorsprung von bis zu einem vollen Schuljahr. Wenn Berlins Grundschüler seit Jahren von allen Bundesländern am schlechtesten abschneiden, hat die SPD-geführte Schulverwaltung die Berechtigung verloren, den Kindern das Gymnasium ab Klasse 5 vorzuenthalten.

Überbleibsel aus der Besatzungszeit

Unter dem Besatzungsregime der vier Siegermächte beschloss die Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin Ende 1947 ein Schulgesetz, das deutlich die Handschrift der kommunistischen SED trug. Es sah eine gemeinsame achtjährige Grundschule und eine zwölfjährige Einheitsschule vor. Nach der sowjetischen Blockade West-Berlins 1948 und der staatlichen Teilung Deutschlands 1949 gab es in den vier Sektoren der Alliierten keine gemeinsame Schulpolitik mehr. In West-Berlin wurde das dreigliedrige Schulsystem, das auch in der BRD galt, eingeführt. Die Grundschule wurde auf sechs gemeinsame Schuljahre reduziert. Einige wenige altsprachliche Gymnasien wurden ab Klasse 5 genehmigt, um Berliner Gymnasiasten gegenüber den Schülern in den westdeutschen Bundesländern nicht zu benachteiligen. Zu den Ausnahmen zählten das Gymnasium Steglitz, das Arndt-Gymnasium in Dahlem, das Goethe-Gymnasium in Wilmersdorf und das Schadow-Gymnasium in Zehlendorf. Alle anderen Gymnasien begannen mit Klasse 7.

Die Eltern aus dem Bildungsbürgertum wollten sich mit diesem Relikt aus der Besatzungszeit nicht abfinden. Ihnen ist nicht verborgen geblieben, dass sich intelligente Kinder in den beiden letzten Klassen der Grundschule langweilen, weil sie dort nicht mehr ausreichend gefördert werden. Elterninitiativen setzten sich für mehr grundständige Züge an den Berliner Gymnasien ein und hatten Erfolg. Heute gibt es an 36 Gymnasien Züge, die mit Klasse 5 beginnen. Die Schüler, die dort lernen, gehören zu den besten Abiturienten, was das Modell „Gymnasium ab Klasse 5“ rechtfertigt.

Gleichheitssehnsucht der SPD

Die Berliner SPD hat ihren Frieden mit dem grundständigen Gymnasium bis heute nicht gemacht. Sie hält eisern an einem Beschluss aus den 1980er-Jahren fest, in jedem Berliner Bezirk nur ein Gymnasium ab Klasse 5 zuzulassen. Ihr Blick geht nostalgisch zurück in die unmittelbare Nachkriegszeit, als die Gleichheit in der Bildung das alleinseligmachende Paradigma war. Die moderne Forderung nach „längerem gemeinsamen Lernen“ schließt an das Gleichheitspathos der Nachkriegsjahre an. Den Nachteil haben die Schüler, die in der Nähe ihres Wohnortes kein grundständiges Gymnasium finden und weite Wege auf sich nehmen müssen, um eine solche Schule in einem anderen Bezirk zu erreichen.

Oft sind die grundständigen Klassen so nachgefragt, dass es einem Lottogewinn gleicht, einen der begehrten Plätze zu ergattern. 2019 beantragte das Carl-Friedrich-von-Siemens-Gymnasium in Berlin-Siemensstadt einen grundständigen Zug, der den Schwerpunkt auf die MINT-Fächer legen sollte. Diese Profilierung hätte sehr gut zum geplanten „Siemens-Campus Siemensstadt 2.0“ gepasst. Die von der SPD geführte Schulverwaltung lehnte den Antrag ab. Mit dem Freiherr-vom-Stein-Gymnasium und dem Kant-Gymnasium gebe es im Bezirk Spandau schon zwei Gymnasien mit Profilzügen ab Klasse 5. Damit seien auch die MINT-Fächer ausreichend repräsentiert.

Die Begründung lässt außer Acht, dass sich an diesen beiden Schulen auf 124 freie Plätze 162 Schüler bewarben. Es gab also einen Bedarf an weiteren grundständigen Klassen. Die zweite Begründung gewährt Einblick in die ideologische Denkweise der Schulverwaltung: Die Einrichtung weiterer grundständiger Gymnasialklassen würde die Grundschulen schwächen. Die intelligenten Grundschulkinder werden von der Politik für schulpolitisches Versagen in Haftung genommen. Sie sollen das Niveau der Grundschule heben und dafür ihr eigenes schulisches Fortkommen opfern.

Affront gegen Neuberliner

Seit Jahren ist Berlin eine wachsende Stadt. Vor der Corona-Pandemie zogen jährlich ca. 30.000 Menschen dauerhaft nach Berlin. Das entspricht der Einwohnerzahl einer Kleinstadt. Darunter sind viele Menschen aus dem – auch internationalen – Bildungsbürgertum, vor allem Akademiker, die für ihre Kinder die bestmögliche Ausbildung wünschen. Auch die vielen Erfinder und Tüftler, die die üppige Hochschullandschaft und die zahlreichen Gründungszentren bevölkern, sind nicht erfreut, wenn sie erleben müssen, dass in Berlin eine leistungsfeindliche Schulpolitik das Kommando führt. Es grenzt an Ignoranz, diesen Neubürgern, die zum Wirtschaftsboom und zum Steueraufkommen Berlins beitragen, die Gymnasialform vorzuenthalten, die in allen anderen Bundesländern (Ausnahme: Brandenburg) zum Erfolgsmodell geworden ist.

Das Ergebnis wird sein, dass in Berlin noch mehr Privatschulen gegründet werden als ohnehin schon. Sie werden dann den Bedarf an leistungsstarken Gymnasien ab Klasse 5 decken. Schon jetzt besucht in Berlin jedes zehnte Kind eine Privatschule. Deren Zahl ist 2021 auf 146 Schulen angewachsen. Mit ihrer egalitären Schulpolitik erreicht die Berliner SPD das Gegenteil dessen, was ihr vorschwebt: Sie fördert neben dem staatlichen Sektor einen florierenden privaten Zweig. 

Spielwiese für Ideologen

Es gibt kaum noch einen politischen Bereich, in dem sich das Handeln der Akteure nicht an wissenschaftlichen Kriterien orientierte. Während der Corona-Pandemie hat es die medizinische Wissenschaft sogar in die oberste Etage der Politikberatung geschafft. Einzig in der Bildung hält die Politik daran fest, die Ziele am politisch Wünschenswerten auszurichten und dabei wissenschaftliche Befunde zu ignorieren. 

Bei linken Bildungspolitikern spukt immer noch die Idee in den Köpfen herum, qua Bildung den besseren Menschen schaffen zu können: den solidarischen, nachhaltig denkenden, das Klima schützenden Zeitgenossen. Dabei vergessen die Bildungsplaner gerne, dass Schule in erster Linie dafür da ist, bei den Schülern die Grundlagen für eine optimale berufliche Zukunft zu legen. Dafür bieten gute Schulabschlüsse die beste Gewähr. Wenn Elterninitiativen die Genehmigung von Gymnasialklassen ab Jahrgangsstufe 5 fordern, haben sie genau dieses Ziel vor Augen. Sie wollen die bestmögliche Ausbildung für ihre Kinder.

Dass die Ablehnung von Gymnasialklassen ab Klasse 5 rein ideologisch motiviert ist, kann man daran sehen, wie mit der Wahlfreiheit der Eltern sonst umgegangen wird. Wo sie erwünscht ist, z.B. beim Zugang möglichst vieler Schüler aufs Gymnasium ab Klasse 7, wird sie selbst dann großzügig gewährt, wenn der Elternwunsch der Grundschulempfehlung für das Kind widerspricht. Für die Öffnung des Gymnasiums hat Berlins Schulverwaltung 2009 sogar ein Losverfahren eingeführt – ein krasser Verstoß gegen das Eignungsprinzip. Wenn die Eltern aber an einem beliebten Gymnasium einen grundständigen Zug ab Klasse 5 wünschen, wird ihnen dies verwehrt.

Das Schulgesetz ändern

Die Weigerung der Berliner Schulbehörde, weitere Gymnasien ab Klasse 5 zuzulassen, wirft die Frage auf, ob die Politiker, die für die Schulpolitik zuständig sind, tatsächlich eine Legitimation dafür besitzen, so tiefgreifend in die Lebenschancen von Kindern einzugreifen, wie sie es tun. Die bildungsbürgerlichen Schichten Berlins – ob Alteingesessene oder Neubürger – sollten sich für das Gymnasium ab Klasse 5 einsetzen, weil es die beste Möglichkeit für begabte Kinder bietet, ihre intellektuellen Anlagen optimal zu entfalten. Das Berliner Schulgesetz sollte in einer Novelle festschreiben, dass jedes Gymnasium grundständige Klassen einrichten darf, wenn es Lehrerkollegium und Elternvertretung wünschen. Das geltende Schulgesetz formuliert als „Auftrag der Schule“, „alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen“. Das schließt die Begabungen derer mit ein, denen das Lernen leichtfällt und die deshalb auf eine anspruchsvolle, fördernde Lernumgebung angewiesen sind.

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