Titelgeschichte im April - Mythos Merz

CDU-Vorsitzender Friedrich Merz könnte der nächste Bundeskanzler werden. Sein Profil passt eigentlich auf die Krisen der Zeit. Doch seine kantige Art könnte ihn auch zu Fall bringen.

Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

So erreichen Sie Volker Resing:

Anzeige

In Cadenabbia ist Friedrich Merz Kanzler geworden, fast zumindest. Im vergangenen Mai, unter strahlendem norditalienischem Himmel. Hoch über dem Comer See liegt die Villa von Konrad Adenauer. Draußen im Garten gibt es eine Bocciabahn. Schon der erste Kanzler hat dort unter südlicher Sonne gespielt. Beim Boccia muss man mit den eigenen Kugeln eine kleine Zielkugel treffen oder die Kugeln der Gegner wegschießen. Training für die Politik. 

Rund 35 CDU-Politiker und Berater trafen sich dort. Einige davon wird man nächstes Jahr mutmaßlich in Berlin als Bundesminister wiederfinden. Es wurde das neue CDU-Grundsatzprogramm besprochen. Alles ganz leger, Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn mit Pulli in leuchtendem Azurblau, CDU-Integrationsexpertin Serap Güler in Jeans und weißen Turnschuhen. Die Mitglieder der Fachkommissionen waren dort. Keinesfalls alles in der Wolle gefärbte Freunde und Unterstützer von Merz. Auch sogenannte Merkelianer waren angereist.

Die CDU ist keine Programmpartei. Regieren ist wichtiger als Philosophieren. Manche hatten deswegen das Arbeiten am neuen Grundsatzprogramm zunächst als netten Zeitvertreib für die Führungsreserve Carsten Linnemann angesehen. Mit seinem Motivationstalent hat er seine Partei aber in die inhaltliche Arbeit getrieben. Im vergangenen Jahr wurde er dann zum CDU-Generalsekretär berufen. 

Merz will mehr

Manchen CDU-Akteuren dämmerte es langsam: Friedrich und Carsten meinen es ernst. Merz will mehr. Das neue Programm würde an einigen Stellen einen doch klaren Bruch mit der Merkel-­Ära bedeuten. In der Migrationspolitik, in der Energiepolitik und in der Wirtschafts- und Sozialpolitik (Bürgergeld!) standen plötzlich Formulierungen im Raum, die bislang bei vielen in der Union allergische Ausschläge verursacht hätten.

Begriffe wie der der „Leitkultur“ werden neu entdeckt, die Adjektive „bürgerlich“ und „konservativ“ stärker betont. Asylverfahren in Drittländern, das war bis vor kurzem noch Teufelszeug. Bis in die Nacht wurde in Cadenabbia über den Islam und Religionsfreiheit diskutiert. Merz beugte sich selbst in den frühen Morgenstunden über den Text, feilte mit an Formulierungen, schlichtete den Streit bei Themen der sozialen Gerechtigkeit. Auf den Sozialflügel-Chef Karl-Josef Laumann lässt er nichts kommen. 

Schließlich ist das Paket fertig. Es kam nicht zu gravierenden Abstoßungsreaktionen. Die Dosis war offenbar gut gewählt, dem CDU-Programm wurden neue (alte) Elemente in die DNA implantiert, die vom Parteikörper bis auf Weiteres angenommen wurden. Es ist auch Symbolpolitik dabei. Die Schnappatmung auf der liberalen Seite im CDU-Spektrum und das diffuse Wohlgefühl am anderen parteiinternen Beckenrand sind wohlkalkuliert. Der Publizist und Ex-CDUler Andreas Püttmann schreibt, „die Christdemokraten driften nach rechts“, und wirft dem neuen Grundsatzprogramm eine „Relativierung des C“, also des Christlichen vor. Doch auf viel Resonanz stößt er mit den Vorwürfen in der Partei nicht mehr. 

Friedrich Merz stand in sandfarbener Hose und in abendrosazartem Hemd im frühen Mai des Jahres 2023 auf der Bocciabahn von Adenauer. Nach den intensiven Diskussionen und auch Rangeleien im Konferenzzimmer wurde draußen mit den Kugeln gespielt. Und er gewann. Merz gewann das Spiel und die Kanzlerschaft, im Prinzip zumindest. Es würden noch viele Debatten folgen, um die Kanzlerkandidatur, um seine Eignung, um Chancen und Risiken seiner Person. Es würden Wahlkämpfe und Wahlen folgen, alles ist natürlich noch offen. Doch auf dem Weg der Kanzlerwerdung war schon Cadenabbia eine Etappe, die manche ihm gar nicht zugetraut hätten. Er hat in der CDU mehr Leute für sich gewonnen, als manche gedacht haben. 

Eine Art Merz-Frieden in der Partei

Als Anfang Januar dieses Jahres dann der CDU-Bundesvorstand in Heidelberg im komfortablen, aber etwas altmodischen Marriott-Hotel tagte, kam es endgültig zum Schwur. Was in Cadenabbia begann, musste nun vom höchsten Partei­gremium vor dem Bundesparteitag im Mai gebilligt werden. Es wurde wieder diskutiert und gestritten, bis Mitternacht. Die Formulierung, wonach nur diejenigen Muslime „zu Deutschland gehören, die unsere Werte teilen“, stieß zunächst auf Ablehnung. Und um den Wiedereinstieg in die Kernenergie wurde gerungen. Aber schließlich stimmten alle zu, sogar die stellvertretende CDU-Vorsitzende und als liberal geltende schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien. Auch der Umweltpolitiker Andreas Jung, ebenfalls Merz-Stellvertreter und MdB, hob die Hand. 

Es gibt derzeit eine Art Merz-Frieden in der Partei. Das bedeutet, am Ende ist die CDU die alte Machtmaschine, die anders oft als die anderen Parteien sich geschlossen und treu um die jeweilige Führung versammelt, egal, wer das ist. Einzige Bedingung: Sie muss eine Machtoption verheißen. So gilt der Streit mit NRW-Chef Hendrik Wüst vorerst als beigelegt. Auf dem Mai-Parteitag könne es noch etwas Gerangel um einzelne Formulierungen geben, so Prien in Interviews. Aber sie sagt auch: „Merz kann Kanzler“ und versichert ihre „volle Unterstützung“. Und auch der einstige Widerpart aus Kiel hat andere Sorgen. Nach den Beratungen in Heidelberg wollte Daniel Günther, Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, vor allem noch feiern.

Das sind die alten JU-Gewohnheiten, die Günther pflegt: Party statt Protest, so galt es immer. Doch die Berliner CDU-Orga-Leute hatten daran glatt nicht gedacht. Die hoteleigene Bar am Neckar wollte keine Tanzmusik mehr auflegen. Alkohol gab es auch nicht genug. Daniel Günther zog mit einigen Gefolgsleuten von dannen und feierte anderswo weiter, so berichten es die Partei­freunde. Widerstand gegen den Sauerländer oder das „konservative“ Grundsatzprogramm: Fehlanzeige. Merz hat die CDU verändert und ziemlich geschlossen hinter sich gebracht. Sichtbares Zeichen: Das Logo ist jetzt schwarz, nicht mehr rot. 

Drei Anläufe bis zum ersten Ziel

Friedrich Merz will Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden. Daran gibt es keinen Zweifel mehr, auch wenn er sich selbst explizit dazu noch nicht geäußert hat. Und die Chancen, tatsächlich in anderthalb Jahren in die „Berliner Waschmaschine“ einzuziehen und Nachfolger von SPD-Mann Olaf Scholz zu werden, sind derzeit so gut wie noch nie. Selbst Widerstand von CSU-Chef Markus Söder ist derzeit nicht mehr zu erwarten. Damit hatte in dieser Weise tatsächlich kaum einer gerechnet, als Merz am 22. Januar 2022 nach jahrelangem Streit Vorsitzender der CDU Deutschlands wurde. 

Drei Anläufe brauchte er, um gegen erheblichen Widerstand des Partei-Establishments (so seine damals als skandalös beschriebene Wortwahl) mit einem eindeutigen Mitgliederentscheid (62,1 Prozent) an die Spitze seiner Partei befördert zu werden. Friedrich Merz hat mit einer kleinen Truppe von Vertrauten, mit einigen Altvorderen in der Hinterhand, im Wege eines, wenn man so will, Guerillakriegs die CDU (zurück)erobert. Dass dabei die Partei substanziell Schaden nehmen würde, nachdem Angela Merkel seit dem Jahr 2000 die CDU geführt und geprägt hatte, war nicht völlig auszuschließen. Und in den dezentralen Macht­eliten der Partei war der Argwohn nicht gering. 

Nach dem Rückzug der Kanzlerin vom Parteivorsitz 2018 gab es in der Partei durchaus einen Konsens, dass nach 16 Jahren Merkel eine Neuaufstellung notwendig sein würde. Diesen Aufbruch hatte zunächst die Saarländerin Annegret Kramp-Karrenbauer durchaus mit Eigenständigkeit auch gegen Merkel versucht. Dann hatte NRW-Mann Armin Laschet, ausgestattet mit viel Erfahrung und ebenso keinesfalls schlichter Vasall der Kanzlerin, den Kampf um die Zukunft der CDU und die Bundestagswahl aufgenommen – und auch verloren. Merz kam nun als Dritter und zum dritten Mal, griff erneut an – und doch immer noch eigentlich aus dem Off – und schaffte es mit dem fulminanten Basisvotum ins höchste Parteiamt.

Da machte dann das etwas böse und zynische Gedankenspiel Anfang 2022 die parteiinterne Runde: Fritz, der Volksheld, könne nur besiegt werden, wenn er eben nun Vorsitzender würde, dann aber die Bundestagswahl 2025 gewiss krachend verlöre. So zumindest kalkulierten manche Spindoktoren und Parteistrategen. Erst mit einem geschlagenen Merz beginne der echte Neuanfang der CDU – mit einer neuen, jüngeren Generation, so die Lesart. Denn nach zwölfjähriger Politikabstinenz und mit seinem allseits bekannten übergroßen Ego würde Merz einen Machtwechsel gegen Amtsinhaber Olaf Scholz nicht hinbekommen, so die Mutmaßung mancher damals. Doch es kam ganz anders.

Die persönlichen Sympathiewerte

Es sind drei Faktoren, die das Unwahrscheinliche Wirklichkeit werden lassen könnten. Friedrich Merz könnte, in einer so noch nie da gewesenen zweiten Karriere als Politiker, Kanzler werden. Zum einen, weil die amtierende Regierung und der sie führende Regierungschef eine derart miserable Performance abliefern, dass das Wahlvolk geradezu verzweifelt nach einem alternativen Kanzler sucht. Da werden, wie die Umfragen zeigen, Konzessionen gemacht, und die Zustimmung fliegt Merz bisweilen mehr zu, als die persönlichen Sympathiewerte steigen – und mehr als manche das vermutet oder auch nur für möglich gehalten haben. 

Zum Zweiten bekommt Friedrich Merz einen kräftigen Rückenwind von den Zeitläuften. Noch vor fünf Jahren wäre ein Kanzler Merz deutlich schwerer vorstellbar gewesen, weil sein Profil und seine Themen sich nicht in der Weise aufgedrängt hätten, wie sie es jetzt tun. Corona- und Klimakrise hätten Merz weitaus weniger gelegen. Die Fragen der aktuellen Agenda aber – nach der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und einem drohenden Sicherheits- und Wohlstandsverlust – passen auf die Kompetenzzuschreibung und die Selbstverortung von Friedrich Merz geradezu schicksalhaft. Auch insgesamt fühlt sich der Kosmopolit Merz in einer Zeit, die die Geopolitik wiederentdecken muss, deutlich mehr zu Hause, als wenn der innenpolitische Fokus die Debatten beherrschen würde. 

In seinem Büro hängt ein großes Bild, das zunächst von Urlaub kündet. Ein Sandstrand mit blauem Meer und strahlendem Himmel. Bunte Strandkörbe lassen an Erholung denken. Ablenkung vom Politikstress? Keineswegs: Das Foto wurde am Strand von Tel Aviv aufgenommen. Der Fotograf heißt Jörg Wanderer, stammt aus dem Hochsauerland, ihm hat Merz das Kunstwerk abgekauft. Es ist eine politische Botschaft. Der CDU-Partei- und -Fraktionschef war unter anderem schon bei Israels Premier Benjamin Netanjahu und hat Frankreichs Staatspräsidenten Emmanuel Macron besucht. Er war lange vor Scholz zu Besuch bei Wolodymyr Selenskyj in der Ukraine. Dem langjährigen Vorsitzenden der Atlantik-Brücke gefällt das internationale Parkett, und diese Vorliebe scheint derzeit mehr gebraucht zu werden denn je. 
 

Das könnte Sie auch interessieren:


Ein Kanzler Merz wäre ein Amerikafreund. „Zwei meiner Lieblingsorte in den USA sind das Getty Museum in Los Angeles und die Ronald Reagan Presidential Library im Simi Valley“, sagt er. Er sei in den Vereinigten Staaten auf einen besonderen Selfmadegeist gestoßen und auch auf eine Energie, nach einer Niederlage und einer Pleite wieder aufzustehen, wieder anzufangen, erzählt er. „Diese Grundhaltung und diesen Grundoptimismus, das habe ich in Amerika kennen- und schätzen gelernt.“ Vielleicht wird ihm das helfen beim Umgang mit Washington nach den Wahlen dort. 

Dritter Faktor für den möglichen Kanzler-Erfolg ist schließlich die Persönlichkeit Merz und sein persönlicher Lebensweg. Seine Widerborstigkeit und seine Unwahrscheinlichkeit sind eine Art Antwort auf die allgemeine Frustration über die Politik und ihr politisches Personal. Merz ist natürlich nicht wirklich Antiestablishment, aber tatsächlich kann er mit diesem Image spielen. Von 1998 bis 2009 war er bereits Bundestagsabgeordneter, davon zwei Jahre Unions-Fraktionsvorsitzender. Zuvor war er von 1989 bis 1994 Mitglied im Europäischen Parlament. Doch nach seinem Zerwürfnis mit Merkel und seinem Ausstieg aus der Politik ging er in die Privatwirtschaft, wirkte unter anderem als Aufsichtsratsvorsitzender des deutschen Ablegers von BlackRock, des größten Vermögensverwalters der Welt. Ein wahrlich anderer Kosmos. 

Ein Unikum in der deutschen Politik

Was er in der Zeit, in der er nicht in der Politik tätig war, gelernt habe, sei vor allem eine noch stärkere internationale Sicht der Dinge, so Merz im Gespräch mit Cicero. „In den zwölf Jahren war ich ein Drittel meiner Zeit nicht in Deutschland und habe die Hälfte meiner Zeit nicht deutsch gesprochen.“ Das habe auch seinen Blick auf unser Land verändert. Tatsächlich macht es ihn zu einem Unikum in der deutschen Politik. 
Ein Multimillionär mit Privatflugzeug, der englisch sprechend in Schanghai und Midtown die angesagten Restaurants besser kennt als im Prenzlauer Berg und in Kreuzberg, sei zu abgehoben für die Deutschen, kolportieren seine Gegner. Aber mit diesem radikalen Gegenentwurf zur real existierenden Berliner Blase lässt sich vielleicht eben doch auch punkten. Olaf Scholz musste erst Kanzler werden, um erstmals New York kennenzulernen. Merz hat in Manhattan sein Vorstellungsgespräch bei BlackRock-Boss Larry Fink gehabt und dort einen Arbeitsvertrag unterschrieben. 

Wird Merz gegen ihn antreten? Der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz / dpa

Wenn Friedrich Merz an den Dienstagen der Sitzungswochen im Reichstag hoch unters Dach fährt und in den Fraktionssitzungssaal läuft, um dort mit den 256 Abgeordneten seiner Fraktion zusammenzukommen, dann muss er noch einen kleinen Flur passieren, in dem die Porträts seiner Vorgänger links und rechts an den Wänden hängen. Sie bilden so etwas wie ein Spalier der Ahnen. Dort erblickt er dann, eingerahmt zwischen Schäuble und Merkel, sich selbst. Das ist eine so ungewöhnliche Konstellation, die es noch nie gab und die zugleich sein ganzes Handeln, sein Auftreten und auch seine Erfolgsaussichten bestimmt. Merz gehört nicht dazu und war zugleich immer schon da. So einen Mythos muss man erst mal hinkriegen.

Doch dieser Merz-Mythos, wie weit trägt er? Dreimal mindestens hat Friedrich Merz, so seine Kritiker, schon die Kanzlerschaft (fast) verspielt. Immer dann, wenn sein rhetorisches Talent mit ihm durchgegangen und die von seinen Fans gerühmte Klartext-Fähigkeit aus dem Ruder gelaufen sei. Einmal prangerte er einen vermeintlichen „Sozialtourismus“ der ukrainischen Kriegsflüchtlinge an, ein anderes Mal klagte er in einer Talkshow über die „kleinen Paschas“ – gemeint waren Kinder mit migrantischer Herkunft, die Lehrerinnen terrorisieren und es so an Integrationswillen fehlen lassen. Schließlich gab es noch das Beispiel mit den Zahnärzten, die Zuwanderern auf Steuerzahlerkosten „die Zähne machen“ würden, während deutsche Normalos keine Termine bekämen. Für den „Sozialtourismus“ hat er sich entschuldigt, an den „kleinen Paschas“ hält er fest, über die Zähne wird geschwiegen. 

Das mediale Deutungsmuster

Aus diesen sogenannten „Ausrutschern“ ist zunächst einmal medial das Deutungsmuster erwachsen, Merz habe sich nicht im Griff, offenbare im Eifer des Gefechts seine wahre Geisteshaltung, so sagen es die bisweilen erbitterten Gegner. Er reiße leicht mit dem Rock ein, was er mit den Händen aufgebaut habe, beschreiben es hingegen manche seiner Freunde. Gerade in der Migrationsfrage sei ein neuer Kurs wichtig, doch dürfe man nicht durch rüde Wortwahl eine richtige Politik diskreditieren, heißt es in seinem Umfeld. Wäre Merz also kanzlerfähig, wenn seine Getreuen bei jeder Talkshow hinter den Kulissen zittern müssten, ob der Chef wieder mal danebenlangt?

Merz’ größter „Fehler“ in dieser Sichtweise und Reihung war im vergangenen Jahr seine Einlassung zur Zusammenarbeit mit der AfD. In einer etwas gedrechselten Formulierung hatte er erklärt, dass es eine Art von Miteinander auf kommunaler Ebene geben könne. Dies sorgte für Empörung. Würde Merz in Wahrheit doch die sogenannte Brandmauer schleifen, die jegliche Kooperation und Koalition mit den Rechtspopulisten ausschließt? Dass der politische Gegner in diese Kerbe schlug, war erwartbar, dass aber mit Boris Rhein (Hessen) und Kai Wegner (Berlin) wichtige Länder-Regierungschefs und CDU-„Parteifreunde“ sich gegen Merz stellten, war eine veritable Krise auf seinem Weg nach oben

Im Festsaal der Brauerei in der schmucken Kleinstadt Apolda herrschte das, was man gemeinhin nicht in Südthüringen, sondern in Bayern vermutet: Bierzeltstimmung. Das Volk hockt auf Bänken, eine Blaskapelle spielt auf. Und weil Aschermittwoch ist, servieren Kellnerinnen zum Gerstensaft schmackhaftes Matjesfilet mit Kartoffeln. Katholische Vorschrift und religiöser Brauch in ansonsten doch recht atheistisch geprägten Ost-Landen. Den politischen Aschermittwoch hatte sich die ostdeutsche Freistaat-Union vom großen süddeutschen Vorbild abgeschaut, in einer Zeit, als das Land noch fest in CDU-Hand war. Lange ist es her.

Friedrich Merz trat auf die Bühne, nachdem die Kreisvorsitzenden und der Landesvorsitzende Mario Voigt gesprochen hatten. Es war offenbar eine Steigerung der rhetorischen Kanonade vorgesehen, eine christdemokratische Stimmungseskalation schien sich anzubahnen. Doch was passierte, war etwas anderes. Nachdem Voigt gegen die Ampel argumentiert, gegen die Grünen gegiftet und gegen die Linken-Regierung unter Bodo Ramelow ausgeteilt, aber auch im AfD-Schreckgespenst Björn Höcke den Hauptfeind ausgemacht hatte, trat ein anderer Merz auf, als viele im Saal es erwartet hatten. 

Die AfD ist des Teufels

Im thüringischen Apolda hatte CDU-Chef Friedrich Merz drei zentrale Botschaften für sein Publikum: Die AfD ist des Teufels, zur Not muss man auch mit den Grünen regieren. Und schließlich: Die Zukunft wird hart. Alle müssten mehr arbeiten, es gebe weniger Geld zu verteilen, und für die Sicherheit Deutschlands brauche es enorme Investitionen. Das sagt der vom Volk so geliebte Klartext-­Merz. Doch mancher im Saal hätte gern das Gegenteil gehört: Die Grünen sind des Teufels, die AfD ist nicht ganz so schlimm, und es wird schon alles gut, wenn die CDU regiert. Stattdessen aber diese fritz’schen Zumutungen – nur garniert mit wenigen Schenkelklopfern. Es war eine Art Test für einen möglichen Merz-Wahlkampf, der dann doch überraschend wäre. 

Die grundsätzliche Sympathie für seine Person trug ihn durch den Abend in Apolda. Nur bei seiner Milde mit den Grünen gab es Buhrufe. Er nehme das in Kauf, sagte Merz seinem Publikum. Aber mit ihm gebe es keine falschen Versprechungen, dabei bleibe er, auch wenn das die Stimmung drücke. Es war wirklich eine Fastenpredigt, die Merz da in Apolda am Aschermittwoch hielt. Mancher verschluckte sich fast beim Matjes ob diesem Anti-Wohlfühl-Merz. Es gibt immer wieder kleine und größere Veranstaltungen mit ihm, bei denen er eben nicht genau das serviert, was manche sich als Menü wünschen. Auch das ist Merz. 

Das Problem von Merz sind nicht zuvorderst seine „Ausrutscher“, sondern es ist die Wahrnehmungsschere zwischen dem echten Merz und jenem Merz, der jahrelang als Projektionsfläche der Merkel-Frustrierten und Vorzeigekonservativen durch die Säle und Hinterzimmer der Republik gegeistert ist. Wer ist dieser Merz, der Kanzler werden will, eigentlich wirklich? Vor allem ist er nicht so berechenbar. In seiner Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit erinnert er mehr an Gerhard Schröder als an Angela Merkel. Mit seinem Pragmatismus und seiner Liebe für Kontinuitäten erinnert er mehr an Helmut Kohl, als seine Fans wie seine Feinde es sich wünschen würden: als wahlweise neue „konservative“ beziehungsweise „rechte“ und „neoliberale“ Licht- oder Finstergestalt, die nun endlich den Bogen der Geschichte zurück biegt oder überspannt in die wahlweise schreckliche oder gute alte Zeit. 

Friedrich Merz / dpa

Merz’ Jünger wünschen sich einen Heiland, der die von Helmut Kohl 1982 versprochene geistig-­moralische Wende endlich vollzieht, der endlich den Linkstrend der 68er zurückführt in eine wie auch immer geartete bürgerliche Normalität und die Grünen als Verirrung der Geschichte wieder vertreibt. Doch das ist der real existierende Merz so nicht. Das merken gerade manche mit Schrecken, andere mit Erleichterung. Und ob dieser Real-Merz die AfD schrumpft und für die CDU Wahlen gewinnen kann, ist letztlich natürlich noch offen. 

Die Merz-Mail

Jedes Wochenende schreibt Friedrich Merz die Merz-Mail. Meistens zu Hause in Arnsberg, manchmal vielleicht in seinem Wohnsitz am Tegernsee. Und eigentlich immer alleine, wie es heißt. Die Merz-Mail ist ein Newsletter, der an alle Interessierten kostenlos bundesweit verschickt wird. Die Abonnentenzahl steige gerade, wird erzählt, genaue Zahlen sind nicht zu bekommen. Aufregend ist die elektronische Depesche nicht immer. Neulich wurde die Merz-Mail bundesweit bekannt. Die Welt hatte daraus zitiert mit dem Tenor, der CDU-Vorsitzende könne sich nach der nächsten Bundestagswahl eine Koalition mit den Grünen vorstellen. Es war ein Stich ins Herz seiner treuen Fans, sind doch die Grünen für viele nicht nur der „Hauptgegner“ (Merz), sondern auch der emotionale Fluchtpunkt aller politischen Sortierungen. 

Warum macht er so etwas, fragen die Wahlkämpfer in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Warum ausgerechnet jetzt diese unnötige Diskussion um Schwarz-Grün? Wer den Merz-Mail-Text genau liest, stellt fest, dass nur Selbstverständlichkeiten erzählt werden. Da die CDU nicht mit der AfD zusammenarbeiten werde und es wahrscheinlich für ein Bündnis mit der FDP nicht reiche, müsse unter Umständen nach der Bundestagswahl auch mit SPD und Grünen koaliert werden. Doch solch ein Pragmatismus trifft auf eine antigrüne Gefühlslage im Osten, gegen die schwer anzuargumentieren ist. 

Im Nachhinein lässt sich dann eine Strategie hereinlesen. Es sei gut, dass Merz das einmal klargestellt habe, dass man im Fall der Fälle auch mit den Grünen könne. Im anstehenden Wahljahr müsse man das dann ja nicht dauernd wiederholen. Merz’ Kritiker sagen, die Debatte aufzumachen, sei in jedem Fall grundverkehrt gewesen. 

Merz bleibt Merz

Was aber als Ergebnis dieser medialen Welle um die Merz-Mail bleibt, ist ein Einblick in seinen Führungs- und Kommunikationsstil. Er habe einen herausragenden politischen Instinkt, erzählt ein politischer Kenner, gegen dieses merz’sche Bauchgefühl sei aber oft keine Beratung, auch keine noch so intensive Strategiesitzung oder auch kein freundschaftliches Gespräch gewachsen. Er liege aber halt auch oft richtig. Das heiße nicht, dass er nicht auch mal seine Meinung ändere, er sei durchaus ein lernendes System, so Merz-Vertraute. Doch ob da die Gespräche in der Skat-Runde im Sauerland oder der Austausch mit seiner Frau Charlotte am Frühstückstisch den Ausschlag geben oder doch die Präsidiumssitzung der CDU, das wisse man nie so genau. 

Merz telefoniere zu wenig, das ist der Nenner, auf den sich die Kritikpunkte seiner Kommunikation bündeln ließen. Er, dem die Partei eigentlich viel näher liegen müsste als der spätberufenen Christdemokratin Merkel, ist doch weniger gut vernetzt, als es die einstige Kanzlerin lange war. Überall in der CDU kommen neue Leute in die Spitzen, in den Landesverbänden, in den anderen Parteiorganisationen. Anders als es ein junger Merz vielleicht gemacht hätte, sammelt der alte Merz nun nicht eifrig Handynummern ein. Es scheint einigen manchmal so, als meine er, er habe das nicht mehr nötig. Und vielleicht stimmt das sogar. 

Arrogant wirke Merz manchmal, meinen manche, andere sagen, sein öffentliches Bild sei völlig verschieden von dem Eindruck, den man in persönlichen Begegnungen gewinne. So weit, so normal. Friedrich Merz sagt selbst über sich, er sei in allem, was er tue, sehr angewiesen auf gute persönliche Beziehungen. „Ich brauche einen emotionalen Zugang zu den Menschen, mit denen ich gerne arbeiten möchte.“ Möglicherweise erklärt das, warum er weder mit Kanzler Scholz noch mit Kanzlerin Merkel wirklich gut kann und konnte. „Ich kann mit reiner Rationalität, mit dem kompletten Abtrennen der Beziehungsebene, schwer umgehen“, sagt er. Das sei auch prägend in der Freundschaft zu Wolfgang Schäuble gewesen. 

Merz bleibt Merz. Er wird im Jahr der Bundestagswahl 70 Jahre alt, dem alten Hasen macht man so leicht nichts vor, sagen sie in der Fraktion. Und das ist natürlich Gefahr und Chance zugleich. „Friedrich Merz ist ein Gesamtkunstwerk“, meint ein ehemaliger Politiker über ihn. Das verändert man nicht mehr von außen, das gibt es auch nicht in Teilen. Sondern nur komplett, Stärken und Schwächen inklusive.

 

Die April-Ausgabe von Cicero können Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige