Bild von Benedikt XVI. - „Ein Einzelkämpfer gegen den Missbrauch“

In Deutschland werde ein zu negatives Bild des verstorbenen Benedikt XVI. gezeichnet, beklagt der Autor und Theologe Manfred Lütz. Sogar längst widerlegte Falschbehauptungen zu Ratzingers Lebenswerk würden kolportiert. Vor allem in der Missbrauchskrise habe Papst Benedikt mehr gegen den Missbrauch unternommen als jeder andere Katholik.

Der Leichnam des verstorbenen Benedikt XVI. in der Petersbasilika /dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Manfred Lütz ist ein deutscher Psychiater, Psychotherapeut und römisch-katholischer Theologe. Unter anderem ist von ihm erschienen: „Der Skandal der Skandale: Die geheime Geschichte des Christentums“.

Herr Lütz, in Rom wird der Leichnam von Benedikt XVI. öffentlich aufgebahrt. Manche Menschen irritiert das Vorgehen. Wie bewerten Sie es?

Geburt und Tod der Großen waren immer schon von größtem öffentlichem Interesse. Die Geburt des mittelalterlichen Kaisers Friedrich II. fand öffentlich auf dem Marktplatz von Jesi statt, sogar die Hochzeitsnacht zum Beispiel des 16-jährigen Königs Philipp II. von Spanien fand unter Zeugen statt. Und so sollte auch die öffentliche Aufbahrung von toten Herrschern Gerüchten, dass da nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein könnte, die Grundlage entziehen. Aber natürlich gibt es auch das ganz natürliche Bedürfnis, den Verstorbenen noch einmal zu sehen, das in verschiedenen Kulturen dazu führt, dass man den Toten aufbahrt. 

Das Begräbnis wird ähnlich wie bei Queen Elisabeth zum medialen Großereignis. Wie erklären Sie sich dieses Interesse der säkularen Öffentlichkeit?

Ein Papst ist natürlich immer noch eine fast mystische öffentliche Figur. Ich fürchte aber, dass die öffentliche Erwartung da etwas enttäuscht werden wird. Papst Benedikt XVI. selbst wollte offensichtlich ganz seiner Mentalität gemäß ein schlichtes Begräbnis, und so wird es wohl auch geschehen. All die jahrhundertealten Üblichkeiten beim Tod eines Papstes werden hier nicht zur Anwendung kommen, da Benedikt eben kein regierender Papst mehr war. Ganz im Gegenteil werden wir möglicherweise Zeugen der Begründung einer ganz neuen Tradition, nämlich der ersten feierlichen Beerdigung eines „emeritierten Papstes“. 

Als Papst, Präfekt und Theologe war Joseph Ratzinger in Deutschland so umstritten wie kein Zweiter. Kommen Ihnen nun manche Nachrufe unehrlich, verlogen vor?

Leider wird bei Nachrufen oft die Unwahrheit gesagt, vielleicht auch, weil heute viele Menschen kein Latein mehr können. „De mortuis nihil nisi bene“ heißt eben nicht, dass man über Tote nur Gutes sagen soll. Bene ist Adverb und daher heißt dieser Spruch, dass man das, was man über Tote sagt, gut sagen soll. Ein Nachruf sollte vor allem ehrlich sein, es sollte also alles stimmen, was da gesagt wird. Man kann gewiss auch Kritisches erwähnen, aber es ist eine Frage des Anstands, beim Tod eines Menschen nicht vor allem seine Fehler ins Licht zu stellen. Ich finde die internationalen Nachrufe auf Benedikt XVI. zumeist sehr angemessen und würdevoll und in Deutschland auch die Nachrufe aus der Politik. Die französische Zeitung Le Figaro hat acht ausgesprochen wertschätzende Seiten über Benedikt gebracht. Nur manche innerkirchlichen Nachrufe in Deutschland scheinen ein wenig geprägt von der Angst des Nachrufenden um seinen eigenen guten Ruf. Wenn da sogar längst widerlegte Falschbehauptungen als kritische Anfragen an Ratzingers Lebenswerk kolportiert werden, ist das schon etwas peinlich. 

Welche Falschbehauptung meinen Sie?

Zum Beispiel die Behauptung, er habe als Erzbischof von München nicht mit Opfern gesprochen oder gar Missbrauch vertuscht. In akribischen Bemühungen über viele Monate und in über 8000 Seiten Dokumenten hat die Münchner Kanzlei in Wahrheit keinen einzigen klaren Beweis gefunden, dass er überhaupt von einem einzigen Fall gewusst habe. Man kann dann höchstens die Frage diskutieren, warum seine Mitarbeiter ihn nicht voll informiert haben, aber was man nicht gewusst hat, kann man nicht vertuschen, und man kann nicht mit Opfern sprechen, wenn man von den Taten nichts weiß. 

Sie kannten Benedikt persönlich, was wird von ihm dauerhaft in Erinnerung bleiben?

Seine großartige auf das Wesentliche des christlichen Glaubens zielende Theologie, seine beeindruckende Demut und seine unglaubliche Liebenswürdigkeit. 

 

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Einige rufen schon: „Santo Subito“. Sollte Benedikt heiliggesprochen werden?

Ich muss offen gestehen, dass ich bei meinen Begegnungen mit ihm immer irgendwie den „Geruch der Heiligkeit“ gespürt habe. Er war selbst in heftigstem Gegenwind nie verbittert, aggressiv oder unduldsam. Nie verlor er seinen Humor. Es war berührend, wie liebevoll er in meinem letzten Gespräch mit ihm über Hans Küng redete. Ich war damals zusammen mit Markus Lanz bei ihm. Das Gespräch war so eindrucksvoll, dass wir es demnächst als Buch veröffentlichen werden. Aber ob er heiliggesprochen werden sollte, da wäre er selber wahrscheinlich eher dagegen gewesen. Es gibt die gut begründete Auffassung, dass Päpste am besten gar nicht heiliggesprochen werden sollten, weil sie in ihrer Amtszeit schmerzliche Entscheidungen fällen müssen, die manche Menschen verletzen, auch weil eine solche Heiligsprechung politische Implikationen hat, wie man bei der Frage der Seligsprechung Papst Pius XII. sehen kann, und schließlich, weil sie gar nicht nötig ist. Eine Heiligsprechung erhebt nicht selten das vorbildliche Leben eines wenig bekannten Menschen für alle Katholiken weltweit zur „Ehre der Altäre“, wie zum Beispiel des Altöttinger Klosterpförtners Bruder Konrad, das ist bei einem Papst gar nicht nötig. 

Manfred Lütz / dpa

Der Missbrauchsskandal der Katholischen Kirche ist mit seinem Namen verknüpft, weil und obwohl er die Krise früh erkannte. Was ist sein Versäumnis und was seine Leistung?

Ich konnte persönlich Ende der 1990er-Jahre erleben, wie Kardinal Ratzinger gegen massive Widerstände an der Kurie quasi als Einzelkämpfer das Problem des Missbrauchs sah und entschieden dagegen vorgegangen ist. Ohne seine engagierte Hilfe hätte ich den ersten Missbrauchskongress im Vatikan 2003 nicht organisieren können. Es gibt nach meinem Eindruck bis heute keinen Katholiken, der mehr gegen den Missbrauch unternommen hat als Joseph Ratzinger. Deswegen finde ich manche diesbezügliche Kritik uninformiert und ausgesprochen ungerecht. Natürlich hat auch Benedikt Fehler gemacht, wie jeder Mensch. Er hat über sich selber immer gesagt, dass ihm die Verwaltung nicht sehr liege, und deswegen hat er sie mit aller Konsequenz Mitarbeitern überlassen, die er dann durch Dick und Dünn verteidigt hat. Das hat dazu beigetragen, dass seine Mitarbeiter in seiner Zeit als Erzbischof von München offenbar völlig frei agierten und ihn noch nicht einmal über die Missbrauchsfälle unterrichteten. Allerdings war er auch bei der Abfassung seiner Antworten auf die Münchner Fragen offensichtlich nicht gut beraten. 

Sein Pontifikat hat verschiedene Krisen erlebt, manche sagen nun, nicht er, sondern eben dieses Umfeld habe eigentlich regiert. Welche Versäumnisse sind ihm zuzuschreiben, was hat die Kurie beigetragen?

Er hat persönlich erlebt, wie sehr Papst Johannes Paul II. in seiner letzten Phase die Fäden der Kirchenregierung aus der Hand glitten. Gerade weil Ratzinger einen so großen Respekt vor dem Papstamt hatte, wollte er so eine Situation offensichtlich für sich ausschließen und ist wohl nicht zuletzt deswegen zurückgetreten. Ich bin aber überzeugt, dass er die wesentlichen Entscheidungen seines Pontifikats selber getroffen hat. 

Kritiker sagen, Benedikt sei kein „Brückenbauer“ gewesen, sondern habe in der modernen Welt den Feind gesehen. Inwieweit trifft das Ihrer Meinung nach zu?

Er war unbestritten Brückenbauer zu den Traditionalisten, obwohl sie ihn hassten, was kaum jemand weiß, er war Brückenbauer nach Lateinamerika, wo ausgerechnet die linken Regime ihm durchaus verbunden waren, er war Brückenbauer zu den amerikanischen Bischöfen, die sich von der Kurie in ihrem Kampf gegen den Missbrauch alleingelassen fühlten. Er war Brückenbauer nach Afrika, hatte einen besonders herzlichen Kontakt zu afrikanischen Kardinälen, und die Polen schätzen ihn mehr als die Deutschen. Er war aber niemand, der unterschiedliche Auffassungen durch Formelkompromisse überdeckte. Und was die Moderne betrifft, stammt solche Kritik nicht selten im Kern von Theologenkollegen aus der zweiten Reihe, die selber als Gesprächspartner der Moderne gar nicht ernst genommen wurden. Ich habe ganz im Gegenteil den Eindruck, dass Joseph Ratzinger wie kaum ein anderer Theologe illusionslos die Moderne kannte und durchdacht hat. Aber er hat sie nicht einfach paraphrasiert, wie manch andere Theologen, die sich auf diese Weise in die Irrelevanz hineinschrieben, sondern er hat der Moderne so intellektuell wach und kraftvoll geantwortet, dass diese Antworten Interesse fanden, nicht nur bei Jürgen Habermas

Was erwarten Sie von Papst Franziskus? Wird er nun anders agieren können, da sein Vorgänger verstorben ist? Wird es zu Reformen kommen, die in Deutschland ersehnt werden?

Man kann die Reaktionen von Papst Franziskus viel weniger vorhersagen als die von Papst Benedikt. Ich glaube aber nicht, dass Franziskus nun noch einmal ganz umsteuern wird. Auch er ist mittlerweile 86 Jahre alt und inzwischen auch gebrechlich. Man sollte einen Papst nie mit Erwartungen überfordern, das gilt für Papst Benedikt, aber auch für Papst Franziskus. 

Zum Schluss: Durch den Rücktritt vor zehn Jahren hat Benedikt XVI. das Papstamt entmystifiziert. War das richtig?

Ich glaube, dass er selber das viel unspektakulärer gesehen hat. Die moderne Medizin lässt Menschen trotz Gebrechen viel älter werden als früher, außerdem ist das Papstamt heute viel anspruchsvoller. Früher brauchte eine Anfrage aus Deutschland nach Rom einige Wochen oder Monate, bis sie überhaupt ankam, dann wurde in Rom alles lange hin und her bedacht. Schließlich brauchte der Transport der Entscheidung nach Deutschland wieder ein paar Wochen – und dann war der Antragsteller nicht selten verstorben. Das ist heute anders. 

Und wird vom Papst auch in Zukunft eine vergleichbare Faszination ausgehen und ausgehen sollen?

Die katholische Kirche ist nach wie vor die größte internationale Wertegemeinschaft. Dass sie mit weit über einer Milliarde Menschen zusammenbleibt, ist keineswegs ein Selbstläufer, das verlangt viel Arbeit. Dieser Arbeit hat sich Benedikt als „bescheidener Arbeiter im Weinberg des Herrn“ gestellt. Mit Erfolg. Die anglikanische Kirche ist inzwischen international de facto über die Fragen auseinandergebrochen, die die katholische Kirche in Deutschland gerade für vordringlich hält. 

Das Gespräch führte Volker Resing.

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