Schulden- und andere Krisen - Die Notlage als Normalzustand

Nach Artikel 115 GG kann in Notsituationen die Schuldenbremse außer Kraft gesetzt werden. Eine heikle Formulierung. Denn mit Notständen lassen sich auch restriktive Maßnahmen legitimieren. Etwa in der Klimapolitik. In einer Demokratie darf es daher keine auf Dauer gestellten Notlagen geben.

Nur Notlagen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen, wie etwa Naturkatastrophen, berechtigten zum Umgehen der Schuldengrenze / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, heißt es bekanntlich bei Carl Schmitt. Den Gutmeinenden gilt dieser Satz als Beleg für das Toxische in Schmitts Denken. Denn in dieser Formulierung schwingt unüberhörbar eine gewisse Gewaltandrohung mit. Etwas Gemäßigtere sehen in Schmitts Zitat lediglich einen nüchternen Realismus. Wer in einer Gesellschaft bestimmt, wann ein Ausnahmezustand herrscht und wie man ihn durchsetzen kann, der ist der eigentliche Souverän.

Zynischere Zeitgenossen können Schmitts Diktum aber auch als Handlungsanleitung verstehen. Wer es anstrebt, Souverän zu sein, der muss in eine Position kommen, die es ihm ermöglicht, über den Ausnahmezustand zu bestimmen.

Bis vor gut zwei Wochen konnte man solche Überlegungen als abstrakte Debatten für Staatsrechtsseminare abtun. Doch dann kam das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse, und die Bundesregierung sah sich schlagartig vor gewaltigen Finanzierungsproblemen.

Nun sind Finanzprobleme für einen Staat zwar keine Kleinigkeit. Den Ausnahmezustand muss man wegen ihnen aber dennoch nicht ausrufen. Das wäre vielleicht etwas übertrieben. Aber die kleine Variante in Form eines Notstandes oder einer Notlage tut es ja auch. Auf friedlichere Zeiten runtergebrochen könnte man daher formulieren: Durchregieren kann, wer über die Notlage befindet.

Eine Notsituation ist nicht im Ansatz erkennbar

Und so ist in den letzten Tagen eine ziemlich bizarre Diskussion darüber entbrannt, ob sich Deutschland derzeit in einer Notlage im Sinne des Grundgesetzes befindet, die es erlaubt, die Schuldenbremse außer Kraft zu setzen und liebgewonnene Projekte weiterhin nach Herzenslust zu finanzieren.

Dabei ist die Regelung des Artikels 115 des Grundgesetzes ziemlich klar. In Absatz 2 ist ziemlich eindeutig formuliert: „Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Diesem Grundsatz ist entsprochen, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten.“

Ausnahme: „Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden.“

 

Mehr aus der Grauzone:

 

Da haben wir sie, die Notlage, hier Notsituation genannt. Ist die aktuelle Lage der Bundesrepublik eine solche Notsituation? Die Antwort ist einfach: eindeutig nein. Zwar gibt es diverse Krisen, aber die gibt es immer, eine Notsituation ist nicht im Ansatz erkennbar.

Man beachte zudem die Formulierung „Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“. Denn die aktuelle Haushaltskrise entzieht sich weiß Gott nicht der Kontrolle des Staates. Im Gegenteil. Sie ist durch ihn verursacht, genauer: durch den vormaligen Finanzminister und heutigen Bundeskanzler und die aktuelle Koalition.

Müssen wir nicht viel stärker in das Leben der Bürger hineinregieren?

Eine Notsituation ist eine Notsituation, weil sie sich der Kontrolle des Staates entzieht. Finanzprobleme aufgrund von Buchungstricks fallen nicht in diese Kategorie. Gleichwohl kurbelt die Formulierung von den „außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“, die Fantasie all jener an, die gerne mit Geld um sich schmeißen.

Ist nicht der Klimawandel – den man neuerdings (ein Schelm, wer Böses dabei denkt) „Klimakrise“ nennt – nicht genau eine solche Notsituation? Müssen wir vor dem Hintergrund nicht in den Umbau unserer Wirtschaft investieren, in Nachhaltigkeit und das, was Politiker gerne „Zukunftstechnologien“ nennen?

Und wenn wir schon mal dabei sind: Erzwingt diese Notsituation nicht auch eine ganz andere, autoritäre und direktivistische Politik? Müssen wir nicht viel stärker in das Leben der Bürger hineinregieren? Hat Corona nicht gezeigt, wie das geht? Wäre es nicht sinnvoll, beispielsweise Autokilometer zu begrenzen, Flugmeilen, Heizungskontingente und andere Konsumgewohnheiten? Ist es nicht Zeit, in einer solchen Notsituation die Freiheit der Bürger zu beschränken?

Eine politisch willfährige Judikative ersetzt die demokratisch gewählte Legislative

Womit wir wieder bei Carl Schmitt und dem Ausnahmezustand wären. In einer Demokratie ist das Volk der Souverän. Gewählte Regierungen dürfen allenfalls kurzfristig und für sehr begrenzte Zeit über Notlagen, Notsituationen oder Ausnahmezustände befinden. Eine auf Dauer gestellte Ausnahme oder Notsituation darf es nicht geben.

Im Übrigen auch nicht durch die Hintertür mittels der Klagepraxis irgendwelcher Lobbyverbände. Das gefährliche Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom Donnerstag zeigt, dass es auch andere Methoden gibt, eine Art Dauernotstand zu suggerieren. Etwa mittels einer politisch willfährigen Judikative, die im Namen höherer Ziele die demokratisch gewählte Legislative ersetzt.

Wehret den Anfängen. Eine strikte Einhaltung der Schuldenbremse und ein Kippen der Verbandsklage ist dabei ein erster Schritt. Sonst wird der Ausnahmezustand zur Normalität.

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