Reaktionen auf den Ukraine-Krieg - Realitätsverweigerung einer verträumten Generation 

In ihrem berechtigten Entsetzen über die Gräuel des Krieges verlieren allzu viele Kommentatoren und Politiker die Realität aus dem Blick. Russland wird nicht von der Landkarte verschwinden und Putin vermutlich an der Macht bleiben. Die Sanktionen bewirken das Gegenteil dessen, was sie sollen, und der Westen verrät seine eigenen Ideale. Eine verträumte Generation bringt sich selbst in Gefahr. 

„Gerade die unverbrauchte Gläubigkeit der Völker an die einseitige Gerechtigkeit ihrer Sache wurde die größte Gefahr“: Stefan Zweig in „Die Welt von Gestern“ / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Die Neigung zu einem überspannten Moralismus, die sich in den letzten Jahren in Deutschland als politische Leitkultur etabliert hat, erzeugt mit größter Monotonie immer wieder dieselben Reflexe. Ob Refugees-Welcome-Euphorie, Greta-Begeisterung oder Covid-Rigorismus, ob Diversity-Wahn oder Identitätseifer – die öffentliche Meinung wird dominiert von Komplexitätsverweigerung, messianischem Schwarzweißdenken, kleingeistiger Gesinnungsethik und der Unfähigkeit, ja dem Unwillen zu pragmatischen Lösungen mit Vernunft und Augenmaß. Und auch die Argumente gleichen sich ein ums andere Mal. Stets geht es um Humanität, um Demokratie und – natürlich, ganz wichtig – „unsere“ Werte.  

Konnte man die innenpolitischen Debatten der letzten Jahre noch als Petitessen einer übersatten Gesellschaft abtun, so hat die Debattenlage mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine eine neue Qualität bekommen. Nun geht es nicht mehr „nur“ um freie Meinungsäußerung, um Demokratieverständnis, Framing und Verbotskultur, sondern um Krieg und Frieden. Im Stakkato trommeln seit fünf Wochen fiebrige Berichte, emotionalisierende Bilder und aufpeitschende Kommentare auf die Öffentlichkeit ein und drohen die Köpfe zu vernebeln, wo kalter Verstand und nüchterne Besonnenheit erste Pflicht wären. 

Hinter einem Westwall der Meinungseinfalt verschanzt

Doch selbst jene, die noch vor wenigen Wochen mutig gegen Cancel Culture und für freie Meinungsäußerung stritten, haben sich nun hinter einem Westwall der Meinungseinfalt verschanzt. Moralbesoffen und entrüstet überschlägt man sich in immer neuen Verdammungsurteilen, zieht in einen Weltwirtschaftskrieg mit verheerenden Folgen und kokettiert auf unverantwortliche Weise mit einem Weltenbrand. Und jeder der widerspricht, ist verantwortlich für die Toten von Butscha

Solche Behauptungen sind natürlich sachlich falsch und rhetorisch infam, geben aber einen erschreckenden Einblick in die Gemütslage vieler Kommentatoren. Man hat den Eindruck, dass eine Gesellschaft, die bisher auf der Blümchenwiese tanzte und sich gedanklich nur noch mit Achtsamkeit, veganer Ernährung und queeren Toiletten beschäftigte, in die Realität gestoßen wurde und nun emotional dermaßen überfordert ist, dass sie in ihrer Hysterie jedes Augenmaß verliert. Nie wurde dramatischer dokumentiert, wie existentiell bedrohlich der herrschende Realitätsverlust in westlichen Gesellschaften tatsächlich ist. 

So kommt es, dass man auch die einfachsten Tatsachen übersieht und nicht nur in der Gegenwart zündelt, sondern auch noch die Zukunft verbaut und die Konflikte von morgen vorbereitet. Denn Russland, das kann man heute schon sagen, wird morgen nicht in der Südsee liegen. Wir werden weiterhin Nachbarn dieses riesigen Landes sein. Wir werden es auch nicht ignorieren können, wir werden im kulturellen und wissenschaftlichen Austausch stehen und Handel treiben. Deutsche Wissenschaftler werden in Russland forschen, deutsche Künstler in Russland auftreten, und wir werden Erdöl, Erdgas und alle möglichen Rohstoffe aus Russland beziehen. Auch, weil es in Deutschlands nationalem Interesse ist. Und diese Kooperation ist auch wichtig, denn nichts fördert die Verständigung zwischen den Völkern nachhaltiger als wirtschaftlicher und kultureller Austausch. 

Man hat nichts gelernt, allenfalls Betuliches

Und – böse Botschaft – auch Putin wird vermutlich nicht verschwinden. Gerade die Sanktionen haben es ihm leicht gemacht. Denn nichts bindet ein Volk und seine Elite mehr an die Herrschenden als wirtschaftliche Not und die Angst vor Chaos. Aber auch bei diesem Thema regierten hierzulande moralinsaure Hysterie und Aktionismus statt kluger und vorausschauender Politik. 

Doch langfristig kann niemand an einem isolierten, verarmten, instabilen und sich an China annähernden Russland Interesse haben. Aus US-Perspektive mag das vielleicht eine reizvolle Polarisierung sein, aus europäischer Sicht, die russische Grenze nur ein paar hundert Kilometer entfernt, ist es das nicht. 

Statt sich der Eskalationsspirale zu verweigern, verrät man im Westen jedoch lieber seine eigenen Ideale: Es herrscht Bekenntniszwang, man enteignet, man zensiert. Kein Kriegsverbrechen wird dadurch verhindert und das Töten nicht um einen Tag verkürzt. Aber man hat Zeichen gesetzt. Nur leider: Die Welt ist kein Kirchentag, sondern wir haben Krieg und es sterben Menschen. Und dieses Sterben werden keine Sanktionen aufhalten und keine Waffen, die schon mal gar nicht, sondern nur Diplomatie. 

Doch im Moment droht eine ganze Generation zu versagen, die das Lernen aus der Geschichte wie eine Monstranz vor sich herträgt. Doch man hat nichts gelernt, allenfalls Betuliches. Und so kommt es, dass die Worte Stefan Zweigs, geschrieben mit Blick auf den Sommer 1914, so bedrückend aktuell wirken: „Es war der Krieg einer ahnungslosen Generation, und gerade die unverbrauchte Gläubigkeit der Völker an die einseitige Gerechtigkeit ihrer Sache wurde die größte Gefahr.“ 

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