Postkolonialismus - „In aller Freundschaft von Israel emanzipieren“

Der Historiker Per Leo erhält Zuspruch für seine Kritik an Robert Habecks Rede gegen Antisemitismus. Dabei ist Leo Vertreter einer postkolonialen Linken, die sich eine Parteinahme gegen Israel und die Verharmlosung von muslimischem Judenhass zum Programm gemacht hat.

Zum Schweigen gebrachte palästinensische Stimmen? Anti-Israel-Protestierer vor dem Weißen Haus in Washington / dpa
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Ingo Way ist Chef vom Dienst bei Cicero Online.

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Dieser Text ist eine Erwiderung auf den Artikel „Das amerikanische ,Ja, aber…‘“ von Mathias Brodkorb.

Israel erlebt das schlimmste antisemitische Pogrom seiner Geschichte, wird seit vier Wochen vom Gazastreifen, aus Syrien, dem Libanon und dem Jemen beschossen; die Israelis sind verängstigt, traumatisiert, trauern um ihre ermordeten und bangen um ihre entführten Angehörigen, sind teilweise selbst auf der Flucht und wissen nicht, wann wieder ein normales und sicheres Leben für sie möglich sein wird.

In Deutschland gehen derweil tausende und abertausende Muslime auf die Straße, skandieren anti-israelische und Pro-Hamas-Parolen und wünschen Israel und den Juden den Tod; deutsche Juden und hier lebende Israelis sind in ständiger Angst, wagen sich nicht mehr in bestimmte Stadtteile, trauen sich kaum, ein Taxi zu rufen, um nicht an einen „pro-palästinensischen“ Fahrer zu geraten, sprechen in der Öffentlichkeit nicht mehr Hebräisch und sorgen sich um ihre Kinder, die in jüdische Schulen und Kitas gehen. Auf Synagogen werden Anschläge verübt, Häuser, in denen Juden wohnen, werden mit Davidsternen markiert, Israelflaggen heruntergerissen; Abonnenten der Jüdischen Allgemeinen bitten darum, ihre Zeitung im neutralen Umschlag zugesandt zu bekommen.

In dieser Situation wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass deutsche Politiker sich klipp und klar und ohne Wenn und Aber auf die Seite Israels und auf die Seite der Juden in Deutschland stellen. In aller gebotenen Klarheit tat das aber nicht etwa der Bundeskanzler, sondern der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck. „Die Verantwortung unserer Geschichte bedeutet genauso, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland frei und sicher leben können“, sagte er am 1. November in seiner Videoansprache. Und er nannte Ross und Reiter: „Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und anderen Städten ist inakzeptabel.“ Von Muslimen forderte er, sich sich „klipp und klar von Antisemitismus (zu) distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen“. Richtige und notwendige Worte zur rechten Zeit.  

„Einseitige Parteinahme für Israel“

Das scheint aber nicht jedermann so zu sehen. Etwa der Historiker und Buchautor („Mit Rechten reden“) Per Leo. Für ihn ist Habecks Rede nichts anderes als „ein machiavellistisches Meisterstück“, das zeige, wie sich „die Anerkennung deutscher Schuld in einen neuen Sündenbockmythos verwandelte“. Der Sündenbock, das sind für ihn die Muslime, die er als die eigentlichen Opfer der vergangenen vier Wochen betrachtet – nämlich Opfer der „deutschen Erinnerungskultur“, mit der Leo ausweislich seines jüngsten Buches „Tränen ohne Trauer“ (2021) ohnehin ein Problem hat.

Darin beklagt Leo eine „Entgrenzung des Antisemitismusbegriffes“, der eine „begriffspolitische Kampagne“ zur „einseitigen Parteinahme für Israel“ sei. Diese Parteinahme sei nichts anderes als „Entlastungszionismus“ bzw. „post-arischer Streberzionismus“. Leo beklagt ein „um ‚Juden‘ zentriertes Weltbild“ sowie eine „breite Mitte der Holocaustbetroffenheit“ die in Verbindung mit einer „links-rechten Verstrickung in den zionistischen Mythos“ und einer „historisch tief verwurzelten Feindseligkeit gegen ‚den‘ Islam“ zu einer neuen „deutschen Ideologie“ geworden sei.

Leo verteidigt in seinem Buch die israelfeindlichen Aussagen des kamerunischen Historikers Achille Mbembe und nimmt die Israelboykottbewegung BDS gegen Kritik in Schutz. Wenig Toleranz empfindet er hingegen für den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein. Der ist ihm lediglich „ranghöchster Anti-Antisemit im Nachfolgestaat des Dritten Reiches“.

Klar ist, Per Leo hat ein Problem mit Israel, während er Antisemitismus – ob autochthonen oder zugewanderten – eher locker sieht. Wovon Leo, dessen Großvater waschechter SS-Sturmbannführer war (worüber er in seinem Roman „Flut und Boden“ recht offen schreibt), sich persönlich entlasten will, bleibt in seinen Ausführungen zur „Holocaustbetroffenheit“ und zum „Entlastungszionismus“ leider unreflektiert.

Die Zumutung, sich von Antisemitismus zu distanzieren

Mathias Brodkorb fasste in seiner Cicero-Kolumne am Sonntag Leos aktuelle Kritik an Robert Habeck folgendermaßen zusammen: „Man müsse Habecks Rede am Ende wohl so verstehen, dass sie zugewanderte Muslime auffordert, sich mit ganzem Herzen in die Erinnerungspolitik des Tätervolkes einzugliedern. Das allerdings hält Leo letztlich für eine „erpresserische Leitkultur, für einen Zwang zu Assimilation“ und fragt dann: „Was soll denn mit jenen geschehen, die sich nicht als Nachgeborene von Tätern fühlen können, weil sie es nicht sind?“ Habeck drohte zumindest mit dem möglichen Verlust von Aufenthaltstiteln und Abschiebungen, wenn bestimmte Grenzen überschritten würden. „Das vertieft Misstrauen und bestehende Gräben. Zur Integration trägt es jedenfalls nicht bei“, so Leo.

 

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Es sind gleich drei sehr seltsame Voraussetzungen, von denen Leo hier ausgeht. Erstens, dass es in irgendeiner Weise problematisch wäre, von Zuwanderern zu verlangen, die hier geltenden Regeln und Grundwerte zu respektieren. Zweitens, dass es eine Zumutung sei, sich von Antisemitismus zu distanzieren oder zumindest Aufforderungen zum Judenmord zu unterlassen. Und drittens, dass man ein „Nachgeborener von Tätern“ oder Angehöriger eines „Tätervolkes“ sein müsse, um den Mord an 1400 Israelis zu verurteilen, sich an die Seite Israels zu stellen oder hier lebende Juden vor Übergriffen schützen zu wollen. Dass das Entsetzen über ein antijüdisches Pogrom eine normale menschliche Regung ist und eine Solidarisierung mit Israel und mit von Antisemitismus bedrohten deutschen Juden eine politisch angebrachte Positionierung ist und nicht Ausdruck einer spezifisch deutschen Neurose, scheint ein Per Leo nicht nachvollziehen zu können.  

Deutsche Neurosen

Der Ort, an dem Leo seine Warnung verkündet, zu viel Anti-Antisemitismus könne Muslime verschrecken, ist seine öffentlich zugängliche Facebook-Seite, auf der er wohl frisches Material für sein nächstes Buch vor dem kleinen Publikum seiner Bubble ausprobiert. Dass das oben Zitierte keine Ausrutscher sind, zeigen weitere Äußerungen, die Leo nach dem Massaker vom 7. Oktober dort getätigt hat. Zu den Hamas-Demonstrationen in Berlin, auf denen Freude über das Massaker an Israelis zum Ausdruck gebracht wurde – lange bevor die israelische Armee in irgendeiner Weise darauf reagiert hat – fiel ihm ein:

„Hier überwiegt eine skandalisierende Berichterstattung über pro-palästinensische Demonstrationen als Ausdruck von ,importiertem Antisemitismus‘, die ich mittlerweile als moral panic bezeichnen würde. … ,Die Straße‘ teilen sich hierzulande pro-israelische und pro-palästinensische Demonstrationen (wobei in der Wahrnehmung oft nicht zwischen legitimer Solidarisierung mit der Zivilbevölkerung in Gaza und intolerablem Judenhass unterschieden wird); ... Deutsche Neurosen.“

Zwar sei, so Leo,

„menschliche Anteilnahme mit Juden und Israelis unbedingt geboten, aber es fällt schwer, wenn sie nicht von politischer Solidarität mit Israel unterschieden werden kann. Das deutsche Verhältnis zu Israel ist hochgradig neurotisch. … Solange Deutschland sich nicht in aller Freundschaft von Israel emanzipiert hat, wird unser Verhalten von Triebkräften gesteuert, die wir selbst nicht durchschauen.“

Diese „Neurose“ hieß bei dem Kommunarden Dieter Kunzelmann, dem Drahtzieher des Bombenanschlags auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin im Jahr 1969, seinerzeit noch „Judenknacks“, von dem es sich zu emanzipieren gelte. Dass Per Leo selber Bomben legt, steht natürlich nicht zu befürchten. Aber vermutlich würde er, wenn andere das tun, vor einer „moral panic“ warnen.

Kein Bekenntnis gegen Antisemitismus

Über den offenen Brief deutscher Schriftsteller, in dem das Schweigen des Kulturbetriebs zum Hamas-Massaker beklagt wird und den Leo als „Bekenntnisaufforderung aus dem germanischen Literaturbetrieb“ und als „Aufruf der post-arischen Literaturvertreter“ bezeichnet, macht er sich folgendermaßen lustig:

„Jedenfalls frage ich mich, was die Verfasser eines Aufrufs, in dem von ,in irgendeiner Form dem grassierenden Antisemitismus die Stirn bietende[n] Schweigen‘ die Rede ist, eigentlich beruflich machen. Mit der Herzen öffnenden, welterschließenden Kraft der Literatur kann es nichts zu tun haben.“

In einem kleinen Text mit dem Titel „Gegen Bekenntnisse“ zählt Leo in 20 Punkten auf, warum er gegen derartige „Bekenntnisse“ ist. Zwei der Punkte lauten:

„3. Ich solidarisiere mich nicht mit Gruppen, außer sie kämpfen für ihre Rechte oder unverschuldet um ihre Existenz. 4. Ich solidarisiere mich erst recht nicht mit Staaten, außer sie kämpfen unverschuldet um ihre Existenz.“

Juden sind demnach keine Gruppe, die unverschuldet für ihre Rechte, und Israel kein Staat, der unverschuldet um seine Existenz kämpft – sondern allenfalls verschuldet. Der letzte der 20 Punkte hat eigentlich mit Bekenntnissen gar nichts zu tun, er war Per Leo jedoch offenbar so wichtig, dass er ihn unbedingt in seine Liste mit aufnehmen musste:

„20. Im Übrigen meine ich, dass das Amt des Antisemitismusbeauftragten in Bund und Ländern ersatzlos abgeschafft werden muss.“

Eine klaffende Lücke

Aber was genau hat denn Leo nun gegen den Brief? Das erklärt er in einem weiteren Posting unter dem Titel „Context matters“:

„Ein Brief, der sich am 27. Oktober mit Israel und den Juden solidarisiert, kommt drei Wochen zu spät. Wäre die Aufforderung zur symbolischen Solidarität am 8. Oktober formuliert worden, als die Welt und insbesondere die jüdische Welt unter Schock stand, während auf der Sonnenallee gefeiert wurde, hätte man ihr nachkommen können oder nicht. Sie hätte jedenfalls keinen Anlass zur Kritik geboten. … Spätestens seit der Totalblockade des Gaza-Streifens, eigentlich aber schon, seit der israelische Verteidigungsminister dessen Bevölkerung als ,human animals‘ bezeichnete, hat sich das lokale Verbrechen untrennbar mit dem internationalen Megakontext des Nahostkonflikts verknüpft. In rasender Geschwindigkeit wurde das moralische Urteil über das Massaker vom Langzeitgedächtnis dieses Konflikts verdrängt.“

Drei Wochen nach dem Massaker war für Leo die Schonzeit für Juden also schon wieder vorbei. Solidarität darf nur erwarten, wer sich gegen seine Mörder nicht zur Wehr setzt und nicht unfreundlich über sie spricht – sonst greift unmittelbar das „Langzeitgedächtnis dieses Konflikts“ und das heißt für Leo: Israel ist selber schuld, warum liefert es seinen Todfeinden auch keine Lebensmittel und bezeichnet Massenmörder als „animals“?

Der „palästinensische Mythos“

Ferner stört es Leo, dass sich unter den Unterzeichnern dieses „von zwei post-arischen Deutschen“ initiierten Briefes

„praktisch keine Namen arabischer, muslimischer oder globalsüdlicher Herkunft befinden, ganz zu schweigen von der vollständigen Abwesenheit all jener postmigrantischen Autorinnen und Autoren, die seit Jahren die deutsche Literatur rocken: Das ist beklemmend.“

Das ist es in der Tat. Nun macht er es allerdings nicht den „globalsüdlichen“ Autoren zum Vorwurf, ihre Unterschrift unter einem Text gegen Antisemitismus zu verweigern, sondern den Autoren dieses Briefes, die nicht inklusiv genug seien. Was sich in dem Brief zeige, sei

„eine klaffende Lücke. Das Schweigen der Dritten, die Abwesenheit all jener, die sich mit der palästinensischen Sache identifizieren und ja, auch mit dem palästinensischen Mythos – dieses Schweigen ist dröhnend.“

1400 Israelis werden brutal abgeschlachtet, von Muslimen weltweit wird das gefeiert, und worüber Per Leo sich Sorgen macht, ist, dass in einem Brief, der dagegen protestiert, die „palästinensische Sache“ und der „palästinensische Mythos“ nicht vorkommen. Das ist die Eiseskälte und moralische Indifferenz des deutschen Diskursstrebers, der den Anschluss an die internationale postkoloniale Linke sucht, der seine Empathie vermeintlich gleichmäßig auf alle Seiten verteilt, in Wirklichkeit aber über gar keine verfügt. Hier gibt es kein „Ja, aber“, da fällt die Wahl nicht schwer: Team Habeck!

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