Postenkrake SPD - Wie Olaf Scholz aus minimalem Wählerzuspruch maximale Macht generiert

Dass die Sozialdemokraten die fünf wichtigsten Verfassungsorgane beanspruchen, lässt sich nicht einmal mehr mit viel Wohlwollen begründen. Ein analytischer Blick auf die SPD-Wahlergebnisse der vergangenen 20 Jahre zeigt, wie sehr die demokratische Legitimation geschrumpft ist, auf die sich die Genossen bei ihren Ansprüchen auf Spitzenpositionen noch stützen können.

Olaf Scholz hat das Finanzministerium mit viel Steuergeld zum Schattenkanzleramt ausgebaut und die Machtposition seiner Partei vorbereitet / dpa
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Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Am vergangenen Dienstag ging die Präsidentschaft des Bundesrates von Bodo Ramelow aus Thüringen auf Hamburgs Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher über. Damit sind erstmals seit genau 20 Jahren die vier obersten Verfassungsorgane wieder in den Händen der SPD. Zuletzt war dies zwischen dem 1. November 2001 und dem 31. Oktober 2002 der Fall, als Johannes Rau als Bundespräsident amtierte, Wolfgang Thierse dem Bundestag vorsaß, Kurt Beck und Klaus Wowereit jeweils ein Jahr lang Präsidenten des Bundesrates waren und Gerhard Schröder im Kanzleramt wirkte.

Zu verdanken hat die Partei die neuerliche Machtkonzentration maßgeblich dem Absturz der Union als Folge von 16 Jahren Angela Merkel mit ihrem allumfassenden Arbeitsprinzip „gigantischer Aufwand, miserables Ergebnis“, Thema egal. Ohne diese historische Wahlpleite hätten die Sozialdemokraten vor einem Jahr weder zusätzlich Anspruch auf das Amt der Parlamentspräsidentin noch auf das des Bundeskanzlers erheben können. Der Umstand, dass sich die CDU nach der Bundestagswahl 2021 als paralysiert, demoralisiert, führungslos und weitgehend handlungsunfähig darstellte, sich nicht einmal traute, der FDP ungeachtet einer alternativen Mehrheit auch nur ein Gesprächsangebot zu unterbreiten, wussten Olaf Scholz und seine Genossen in der Folge maximal auszunutzen. Zumal sie sich gut auf diese Situation vorbereitet hatten.

Die Besetzung der vier wichtigsten Machtpositionen der Bundesrepublik mit dem turnusmäßigen Übergang im Vorsitz der Länderkammer von Erfurt nach Hamburg stellt dabei nur einen Höhepunkt und das augenfälligste Ergebnis dieser rigorosen Vorgehensweise dar, wie ein Blick auf die Details und hinteren Reihen zeigt. Hinzu kommt im Vergleich zur klar solideren Beschaffenheit der Sozialdemokratie vor 20 Jahren, dass sich Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholz und Peter Tschentscher durch ihre früheren Amtsführungen drängenden Fragen nach ihrer politischen und moralischen Integrität ausgesetzt sehen, Ausgang offen. Scholz steht darüber hinaus immer wieder ohne eigene Mehrheit da; seine Ampelkoalition ist in elementaren innen- und außenpolitischen Fragen zerstritten und wird jetzt bereits lediglich durch den Willen der maßgeblichen Akteure zusammengehalten, das Ampel-Projekt nicht bereits nach einem Jahr scheitern zu lassen, wobei die Frontverläufe zum Glück für Scholz von Thema zu Thema wechseln.

Erratische Personalentscheidungen

Wäre es anders, gäbe es längst ernsthafte Gespräche mit Oppositionsführer Friedrich Merz bezüglich eines Partnerwechsels in laufender Wahlperiode. Dass sechs Ministerien – zuletzt weitgehend vergeblich – unisono Protest einlegen gegen einen normalerweise nachrangigen Verkaufsplan eines Containerhafens, der über Nacht in Berlin zur Chefsache wurde, hat es in der Kanzlerdemokratie Deutschland zuvor noch nie gegeben.   

Hinzu kommt: Bundeskanzler und Bundesratspräsident müssen angesichts einer hoch prekären Indizienlage jederzeit damit rechnen, dass die Cum-Ex-Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft auf sie ausgedehnt werden. Steinmeier hat es als Staatsoberhaupt mit einer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Situation zu tun, die er als ehemaliger Kanzleramtsminister und Bundesminister des Auswärtigen selbst herbeigeführt hat, was ihn in jene unmögliche Position brachte, aus der er augenscheinlich keinen Ausweg mehr findet. Elf Tage nach seiner mit übergroßer Mehrheit erfolgten Bestätigung im Amt durch die Bundesversammlung, mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und allen Folgen auch für Deutschland, zerbröselte vor aller Augen im Zeitraffer seine Autorität.

Vergleichsweise harmlos, aber immer noch fragwürdig genug ist die Entscheidung des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, eine unbedarfte Frau namens Bärbel Bas als Parlamentspräsidentin durchzusetzen, als Nachfolgerin eines Wolfgang Schäuble mit 50 Jahren Bundestagserfahrung. Auch ein Jahr später ist schleierhaft, was ausgerechnet sie als besonders geeignet erscheinen lassen sollte. Warum hat Mützenich das getan? Weil er es konnte. Nicht mehr und nicht weniger. Ein gängiges Muster in den vielen erratischen Personalentscheidungen der SPD bis hin zu einem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.

Kein Widerspruch in den Qualitätsmedien

Aber damit nicht genug. Die eigentlichen Einwände kommen erst noch. Denn selbst wenn man die personenbezogenen Zweifel an der Eignung dieser führenden Sozialdemokraten außer Acht ließe, beweist ein analytischer Blick auf die SPD-Wahlergebnisse der vergangenen 20 Jahre, wie sehr seither die demokratische Legitimation geschrumpft ist, auf die sich die Genossen bei ihren Ansprüchen auf Spitzenpositionen noch stützen können – wie im Folgenden aufgezeigt werden soll.

Das durchgehend erfolgreiche Verlangen der Sozialdemokraten bis weit in die politisch gelenkten Hierarchien, in die vierten und fünften Reihen hinein, das weder in den anderen Parteien noch in den Qualitätsmedien bisher auf nennenswerten Widerspruch oder gar Widerstand stößt, wofür die Unterstützung Steinmeiers durch die Union in der Bundesversammlung an jenem unseligen 13. Februar 2022 wiederum nur das schlagendste Beispiel darstellt, steht längst in keinem plausiblen Verhältnis mehr zur tatsächlichen Unterstützung dieser ältesten Partei des Landes durch die wahlberechtigte Bevölkerung.

SPD-Ergebnisse mit Abstürzen vielerorts

Um festzustellen, wie es um den Wählerzuspruch zugunsten der SPD in Bund und Ländern aktuell bestellt ist, wurden für diese Untersuchung neben der Bundestagswahl vom 26. September 2021 die Ergebnisse der Wahlen zu den 16 Landtagen in ihrer derzeitigen Zusammensetzung herangezogen, ins Verhältnis zur Anzahl der Wähler sowie der Wahlberechtigten bundesweit insgesamt gesetzt und bewertet.

So hatten wir es seit 2018 in den 16 Bundesländern bis zuletzt in Niedersachsen mit insgesamt 61.138.281 Wahlberechtigten zu tun. Tatsächlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten in diesen 16 Landtagswahlen im bundesweiten Durchschnitt 64,47 Prozent der Wahlberechtigten, also nicht einmal mehr zwei Drittel, wobei die Unterschiede erheblich sind mit einer Wahlbeteiligung von zuletzt 75,4 Prozent in Berlin als Maximum – wo nun allerdings eine peinliche Wahlwiederholung ansteht – und 55,5 Prozent in Nordrhein-Westfalen, der einstigen angeblichen „Herzkammer der SPD“, als Minimum. Das waren im bevölkerungsreichsten Bundesland am 15. Mai 2022 noch einmal zehn Prozentpunkte weniger als 2017, ein Interesse an der Zusammensetzung des nächsten Landtags so gering wie nie seit Bestehen des Bundeslandes. Befund der Rheinischen Post: „Auf jeden der 128 Wahlkreise entfielen durchschnittlich 101.500 Wahlberechtigte. Daraus ergibt sich, dass in jedem Wahlkreis im Schnitt mehr als 45.000 Wahlberechtigte nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten.“
 

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Um sich nun ein möglichst zutreffendes Bild von der tatsächlich noch gegebenen Legitimation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bund und Ländern machen zu können, wurde für diese Untersuchung die Anzahl der Wahlberechtigten für die 16 Landtage insgesamt bis auf drei Stellen hinter dem Komma in Relation gesetzt zur Anzahl der Wahlberechtigten bei der jüngsten Landtagswahl in jedem einzelnen Bundesland.

Beispiel: Von den insgesamt 61.138.281 Landtagswahlberechtigten bundesweit entfielen am jüngsten Wahltag 12.965.858 Wahlberechtigte auf Nordrhein-Westfalen. Das entspricht einem prozentualen Anteil von 21,195 Prozent. Die SPD konnte dort zuletzt noch 1.905.002 Zweit- beziehungsweise Landesstimmen erringen, was laut amtlichem Endergebnis einem Stimmenanteil von 26,7 Prozent entspricht. Den Relevanzfaktor, der den Weg zum Gewicht dieses SPD-Ergebnisses auf Bundesebene eröffnet, erhält man, wenn man 100 durch jene 21,195 teilt, was 4,718  ergibt. Je größer diese Zahl, die naturgemäß einen Minderungsfaktor darstellt, desto geringer die Bedeutung dieses Landeswertes für die Gesamtbetrachtung.

Die 26,7 SPD-NRW-Prozent sind also durch 4,718 zu teilen, um den zutreffenden Bundesanteil dieses Landtagswahlergebnisses zu erhalten, in unserem Fall 5,6590. Das ist der Wert in Prozentpunkten, mit dem NRW zum Bundeswert der SPD für alle 16 Länder beiträgt. Da NRW so groß ist, handelt es sich trotz des miserablen Abschneidens der Partei dort um den größten Wert, den Wählerzuspruch ausdrückend.

Repräsentationslücke an der Saar

Demgegenüber holte die SPD zuletzt im Saarland eine absolute Mehrheit, wozu 43,5 Prozent der Zweitstimmen genügten. Mehr als jede fünfte abgegebene Stimme fiel bei der Sitzverteilung unter den Tisch: Grüne, FDP und Linke sowie weitere zwölf Parteien scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde, unter ihnen 9,9 Prozent der „Sonstigen“.

Insgesamt blieben 22,3 Prozent der abgegebenen Stimmen ohne Entsprechung im Landesparlament, was eine ebenfalls problematische Entwicklung darstellt: Die hier aufgerissene Repräsentationslücke ist rekordverdächtig hoch. Ob diese 98.504 Wähler in fünf Jahren ungeachtet dieser Erfahrung wieder zur Wahl gehen werden, muss sich zeigen. Alleine die „Tierschutzpartei“ holte am 27. März beachtliche 2,3 Prozent, während die Grünen den Einzug in den Landtag um 23 Stimmen verpassten und die FDP um einige hundert.
 
Bei bundesweiter Betrachtung ist das Saar-Ergebnis aber auch für die SPD nur von geringem Wert, bietet das Saarland doch lediglich 746.307 Wahlberechtigte auf, trägt also nur 1,220 Prozent zum Gesamtwert aller SPD-Landesergebnisse bei, was sich in einem Relevanzfaktor von 81,978 ausdrückt. Am Ende steigt der Bundeswert durch diesen Wahlerfolg um lediglich 0,5307 Prozentpunkte. Berücksichtigt man dann noch die Saar-Wahlbeteiligung von lediglich 61,4 Prozent, bleibt eine faktische Unterstützung der SPD durch 26,7 Prozent der Wahlberechtigten übrig.

Ein Viertel genügt zur Alleinregierung

Für eine absolute Mehrheit der Mandate im Landtag von Saarbrücken genügten Anke Rehlinger also die Stimmen von gerade einmal einem guten Viertel der Wahlberechtigten. Stephan Weil benötigte in Niedersachsen lediglich jeden fünften Gewählthabenden, um Regierungschef zu bleiben und eine neue Regierung nach seinem Geschmack zu bilden, hat aber natürlich dafür keine absolute Mehrheit.  

Der nächstgrößere Beitrag zum SPD-Landesgesamtergebnis stammt damit aus Niedersachsen mit 3,3293 Prozentpunkten. Dort gab es am 9. Oktober 2022 zwar lediglich 6.064.738 Wahlberechtigte, also nicht einmal halb so viele wie in NRW, doch da die SPD deutlich besser abschnitt, trägt die niedersächsische SPD ansehnlich zum Bundeswert bei.

Zurück nach Nordrhein-Westfalen: Berücksichtigt man die dortige Wahlbeteiligung, also die absoluten Stimmen, bleiben lediglich 14,81 Prozent der Wahlberechtigten übrig, die tatsächlich am 15. Mai 2022 für die NRW-SPD votierten – gerade noch gut die Hälfte. Das wiederum relativiert die durch diesen Urnengang erzeugte demokratische Legitimation für alle Parteien doch erheblich. Nicht einmal jeder sechste Wahlberechtigte hat an jenem Wahlsonntag zwischen Rhein und Ruhr für die SPD gestimmt.

Böser Absturz seit 2002

Im Hinblick auf ihre Wählerbasis steht die SPD im Herbst 2022 somit ungleich schlechter da als in den Jahren 2001 und 2002, als sie zuletzt alle vier Spitzenpositionen laut Grundgesetz innehatte. Nordrhein-Westfalen war vor 20 Jahren mit 42,8 Prozent der Zweitstimmen und Wolfgang Clement als Regierungschef noch fest in Genossenhand. Gerhard Schröder stützte seinen Machtanspruch seit 1998 mit 40,9 Prozent auf einen ähnlich hohen Wert, zumal er die Union und ihren Helmut Kohl mit einem Vorsprung von beinahe sechs Prozentpunkten hatte hinter sich lassen können.

Vier Jahre später schrumpfte sein Vorsprung vor CSU-Herausforderer Edmund Stoiber zwar auf gerade einmal 6000 Zweitstimmen. Diese genügten Schröder aber, um das Kanzleramt zu verteidigen. Und seine 38,5 Prozent von 2002 sind immer noch Lichtjahre entfernt von jenen 25,9 Prozent, mit denen 19 Jahre später Olaf Scholz eine völlig derangierte Union knapp übertreffen konnte.

7,4 Millionen SPD-Wähler weg

Noch krasser fällt der Vergleich der absoluten Zahlen aus: Während Schröder im Schnitt der beiden für ihn siegreichen Bundestagswahlen 19,3 Millionen Zweitstimmen auf sich vereinigen konnte, reichte es mit dem Kanzlerkandidaten Scholz 2021 nur noch für 11,9 Millionen. Das entspricht einem Verlust an Wählervertrauen von fast 40 Prozent in 20 Jahren.

Ganz düster für die SPD in jenem Zeitraum auch die Entwicklung in einer ganzen Reihe von Bundesländern. In Bayern und Baden-Württemberg sind die Sozialdemokraten weiter entfernt denn je von jeder Machtoption. Ähnliches gilt für Hessen. CDU und Grüne scheinen sich dort für alle Zeiten ein Eheversprechen gegeben zu haben, eine Liaison, die die Genossen ratlos an der Seitenlinie zurücklässt. Das gleiche gilt umgekehrt – Grüne in der Staatskanzlei, CDU als treuer Juniorpartner – für eine hoffnungslose SPD von Baden-Württemberg.

Nordrhein-Westfalen haben die Sozialdemokraten, wie dargelegt, für mindestens eine Generation verloren. In Schleswig-Holstein fehlt ihnen bereits das Personal für einen halbwegs ernstzunehmenden Angriff auf die CDU, von einem Plan zu schweigen. In Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt kratzen sie in absoluten Zahlen teils an der Fünf-Prozent-Hürde. Ihre kleinen Regierungsbeteiligungen haben sie alleine dem ubiquitären Ekel vor der AfD zu verdanken.

Giffey in Berlin akut in Gefahr

In Berlin hat der für die Wahlen zum Bundestag und zum Abgeordnetenhaus verantwortliche SPD-Innensenator am 26. September 2021 offensichtlich alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Ausgerechnet dieser Andreas Geisel gilt aber als wichtigste Stütze der Chefin. Franziska Giffeys Tage als Regierende Bürgermeisterin scheinen gezählt zu sein, denn in der anstehenden Wiederholung könnte ihre SPD auf den dritten Platz abstürzen. Da sie für ihren vorsichtig bürgerlichen Kurs aber nicht einmal in der eigenen Partei ausreichende Unterstützung bekommt und im Juni gerade so mit 58,9 Prozent als Landesvorsitzende bestätigt wurde, wäre ihr Scheitern auch ohne diesen historisch einmaligen Eklat nur eine Frage der Zeit.

Stabil ist die SPD in Ostdeutschland alleine noch in Mecklenburg-Vorpommern mit einer unverändert kreml-freundlichen Regierungschefin Manuela Schwesig, nach Plan in einem Jahr dann Präsidentin des Bundesrates, sowie mit Einschränkungen in Brandenburg, wo der SPD ein weiteres Erstarken der AfD droht. Früher oder später wird in Ostdeutschland, vermutlich zuerst in Sachsen oder in Thüringen, das Konzept mit inhaltlich und personell eher inkompatiblen Vielparteienkoalitionen zur verzweifelten AfD-Abwehr an sein Ende kommen.

Auch Malu Dreyer unter Druck

In Rheinland-Pfalz brennt nach dem Scheitern des Innenministers wegen Totalversagens in der Flutnacht erst recht die Hütte von Malu Dreyer. Roger Lewentz, obgleich hinreichend diskreditiert, macht keine Anstalten, nun auch den SPD-Landesvorsitz aufzugeben, und der Flutwellen-Untersuchungsausschuss kommt nach zwei von ihm in vorbildlicher Detailarbeit erzwungenen spektakulären Rücktritten jetzt erst so richtig in Form. Dass ein SPD-Oberbürgermeister nicht nur wegen Korruptionsverdacht vor Gericht steht, sondern auch soeben per Bürgerentscheid aus dem Amt entfernt werden musste, vollendet das trostlose Bild der Genossen im Städtedreieck Wiesbaden-Mainz-Frankfurt am Main. Derweil betrachtet es die SPD als unveränderliches Naturrecht, die Besetzung von sechs der 16 Richterposten in Karlsruhe zu bestimmen.

Diese Studie zeigt, dass sich der Anteil der abgegebenen Stimmen zugunsten der SPD in Bund und Ländern auf im Durchschnitt noch 23,2 Prozent beläuft. Die kommen heraus, wenn man die 20,72 Prozent der Länder und die 25,7 Prozent des Bundestags addiert und durch zwei teilt. Berücksichtigt man dann noch die Wahlbeteiligung mit im Durchschnitt 70,5 Prozent, verbleiben 16,36 Prozent der Wahlberechtigten, die die SPD zwischen 2018 und heute noch von sich überzeugen konnte. Das ist nicht einmal jeder sechste Wahlberechtigte zwischen Lindau und Flensburg, Görlitz und Aachen. Alleine die Länder und deren im Ganzen deutlich geringere Wahlbeteiligungen (im Schnitt 64,5 Prozent) betrachtet, sind es in der Fläche sogar nur 13,4 Prozent, also nicht einmal jeder siebte Wahlberechtigte.

Der ehrliche SPD-Länderwert lautet: 13,4 Prozent

Ein Recht zur Inbesitznahme der wichtigsten Machtpositionen resultiert aus diesen eindeutigen Willensbekundungen des Souveräns, diesem flächendeckenden Vertrauensverlust nicht. Der Schwund ist auch kein Argument für das Bestreben der SPD, ihren politischen Einfluss auch durch immer neue Stellen für beamtete und parlamentarische Staatssekretäre auszuweiten. Wofür die mittlerweile 41 oder 42 Beauftragten der Bundesregierung gut sein sollen, deren Aufgabenbeschreibung – soweit vorhanden – sich oft überschneidet mit denen von anderen Bediensteten, Staatssekretären und sogar Ministern, bleibt der Öffentlichkeit in vielen Fällen verborgen.

Die Grünen nutzen diese weitgehend gesetzlosen und per schlichter Pressemitteilung geschaffenen Zusatzposten zur Provokation der Öffentlichkeit und Ruhigstellung ihrer fundamentalistischen Basis, die SPD zur Versorgung aufstrebender Nachwuchskräfte, gerne explizit divers und mit Migrationserfahrung, sowie Sicherstellung von Loyalität, auch in den Bundestag hinein, der die Regierung kontrollieren soll, womit die Gewaltenteilung ein weiteres Stück verwässert und aufgehoben wird. Es überzeugt nicht.

Wehe, wenn der Deckel vom Topf fliegt  

Die Gesamtstimmenanteile in allen Bundesländern nach den jeweils letzten Landtagswahlen belaufen sich zum Vergleich für CDU und CSU auf 29,8 Prozent, für die Grünen auf 17,5 Prozent und für die AfD auf 11,1 Prozent, wobei die Stimmen für die AfD wie jene für Parteien, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, machtpolitisch wirkungslos bleiben, was die Repräsentationslücke noch einmal vergrößert und gerade in den aktuellen krisenhaften Zuspitzungen gefährlich werden dürfte, denn wenn der Deckel erst einmal vom Topf fliegt, wird es endgültig unübersichtlich.

Dass es nicht gelungen ist, ja gar nicht erst von den anderen Parteien versucht wurde, die AfD durch Einbindung in die Verantwortung zu mäßigen, einen Selbstreinigungsprozess anzustoßen und für das parlamentarische Prinzip zu gewinnen, wie es vor allem die CDU in Gestalt von Schäuble (in einem spektakulären Fall auf Kosten der SPD) in den 1990er Jahren mit den Grünen tat, könnte sich dereinst als entscheidender Fehler der Berliner Republik erweisen. Der Paria-Status der AfD und dessen Konservierung war und ist einfach zu praktisch und hilfreich für SPD und Grüne, liegt hier doch ein wesentlicher Grund für das Gelingen der oben beschriebenen Postenstrategie von Olaf Scholz, die ohne das Schreckgespenst AfD und deren De-facto-Ausschaltung in allen machtstrategischen Fragen nicht funktionieren könnte.

AfD als nützliche Idioten

Die AfD-Leute sind die nützlichen Idioten speziell der SPD, helfen sie doch maßgeblich, deren Schwäche auszugleichen. Inzwischen ist aber mit der in Richtung Kreml abgedrifteten AfD wohl kein Staat mehr zu machen; das Zeitfenster einer theoretisch denkbaren Resozialisierung, das mit einem Alexander Gauland eventuell noch erkennbar gewesen wäre, hat sich zwischen 2014 und 2017 geschlossen.

Als Webfehler des Wahlrechts erweist sich darüber hinaus der Umstand, dass es für die etablierten Parteien abgesehen von den staatlichen Kostenerstattungen (die dann notfalls kurzerhand per Nachtsitzung einvernehmlich erhöht werden) nur wenig Anreiz gibt, endlich energisch den Trend zu immer geringeren Wahlbeteiligungen zu stoppen und umzukehren. Im Gegenteil: Neben der Fünf-Prozent-Hürde steigert auch jede Wahlverweigerung den Wert jeder abgegebenen und gültigen Stimme, wie das Beispiel Rehlinger/Saarland zuletzt wieder zeigte.

Wahlvolk auf der Flucht

Wir sehen: Was 2001 und 2002 noch in Ordnung gegangen sein mag, eine Beanspruchung der vier, einschließlich des Bundesverfassungsgerichts sogar fünf wichtigsten Verfassungsorgane durch Sozialdemokraten, lässt sich 20 Jahre später nicht einmal mehr mit viel Wohlwollen begründen. Das Personal ist nur zu oft schlecht, die Krise lauert in der Hauptstadt wie in der Fläche, das Wahlvolk ist auf der Flucht.   

Mit einer derart morschen, realitätsfremden, stellenweise sogar aus nicht wirklich geklärten Gründen moralisch auf Abwege geratenen Partei nicht nur wieder alle denkbaren Spitzenämter vom Schloss Bellevue über das Bundesverfassungsgericht bis zum Kanzleramt zu besetzen, sondern auch auf Länderebene unter dem Strich lediglich eine Staatskanzlei zu verlieren (statt neun wie 2002 sind es jetzt nur noch acht), ist schon eine Kunst – allerdings keine, die Bewunderung verdient, denn wie das Beispiel Bremen zeigt, können die Wähler gerne wählen, wie sie wollen, auch die SPD erstmals seit Menschengedenken an der Weser auf den zweiten Platz verbannen – mit Hilfe der Linken bleibt alles beim alten. Das Bündnis bedeutet die erstmalige Regierungsbeteiligung der Linken in einem westdeutschen Bundesland, dient aber nach Überzeugung des Wahlverlierers SPD einem guten Zweck, nämlich dem Machterhalt ungeachtet eines anderslautenden Wählervotums.

Scholzens Schattenkanzleramt

Olaf Scholz ist es mit geschickter Vorbereitung während seiner Zeit im Bundesfinanzministerium gelungen, das er mit viel Steuergeld und der Duldung von Angela Merkel zum Schattenkanzleramt ausbaute, aus zusehends immer geringerem Wählerzuspruch maximale Macht zu generieren, als wäre es das Normalste der Welt. Liegt hier der eigentliche Grund für die inzwischen weltweit mit Besorgnis beobachtete Nonchalance des amtierenden Bundeskanzlers im Umgang mit den Tyrannen und Autokraten in Moskau und Peking?

Man tut dem Mann hoffentlich (noch) Unrecht mit jeder Unterstellung einer gewissen Geistesverwandtschaft, aber wenn unser Regierungschef nach seinem China-Besuch völlig bedenkenlos Sätze zu Protokoll gibt, nach denen „Verlässlichkeit und Vertrauen als gemeinsame Werte in der deutschen und chinesischen Kultur eine wichtige Rolle spielen“, kommt man schon ins Grübeln, was hier eigentlich los ist. Die Bild-Zeitung fassungslos: „Da klang es so, als hätten sich Freunde getroffen.“

Gleichzeitig zeigen sich in der kurzen Amtszeit dieses Sozialdemokraten immer deutlicher großflächige Verarmungstendenzen. Die von Ehrenamtlichen in Gang gehaltenen Tafeln verzeichnen einen doppelt so großen Andrang wie zu Jahresbeginn. Medien zitieren Jochen Brühl, den Vorsitzenden des Dachverbands, mit Notrufen: Ein Drittel der Abgabestellen seien so überlastet, dass sie Aufnahmestopps verhängen mussten. Die Tafeln könnten nicht auffangen, „was der Staat nicht schafft“. Jedem altgedienten Sozi müssten solche Sätze selbst in der Opposition schlaflose Nächte bereiten. Olaf Scholz und sein Sozialminister Hubertus Heil machen aber nicht den Eindruck, als fühlten sie sich hier herausgefordert oder auch nur angesprochen.

Scholz muss sich um sein Hamburger Hafengeschäft kümmern und Heil sorgt sich um sein Prestigeprojekt, das „Bürgergeld“, das die Union zu entstellen droht. Schon gar kein Kommentar ist von den beiden überliefert zu dem Umstand, dass im Bezirk Schalke-Ost des einstigen SPD-Kernlands NRW nicht einmal mehr jeder Dritte zur Landtagswahl ging.

Der Sozialforscher Harald Rüßler spricht von einem Gefühl der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit: „Die Leute sagen: Ich habe nie erlebt, dass jemand etwas für mich tut.“
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In diesem Anhang sind die dieser Beweisführung zugrunde liegenden Zahlen und Daten aus allen Bundesländern plus Bundestagswahl 2021 einzeln aufgeführt – zwecks Nachvollziehbarkeit und als Möglichkeit zur Kontrolle auf logische oder rechnerische Fehler mit der Bitte um eine solche. Tipp- und Rechenfehler vorbehalten; begründete Änderungs-, Korrektur- und Verbesserungsvorschläge werden, soweit nachvollziehbar, berücksichtigt. Schlussfolgerungen, gerne auch abweichende, und Anmerkungen sind in den Kommentaren willkommen.

Jüngste SPD-Ergebnisse der Landtagswahlen

Erster Wert: Wahlberechtigte
Zweiter Wert: Gewicht im Bund, alle Bundesländer gleich 100
Dritter Wert: Wahlbeteiligung in Prozent
Vierter Wert: SPD-Zweit- bzw. Landesstimmenanteil
Fünfter Wert: SPD-Anteil x Wahlbeteiligung
Sechster Wert: Neg. Relevanzfaktor
Siebter Wert: Beitrag der Landes-SPD in Prozentpunkten zum Bundeswert

Baden-Württemberg 2021: 7.671.039 / 12,539 / 63,8 / 11,0 % / 7,0 % / 7,975 / 1,37929
Bayern 2018: 9.479.428 / 15,494 / 72,3 / 9,7 % / 7,0 % / 6,454 / 1,50299
Berlin 2021: 2.447.600 / 4,000 / 75,4 / 21,4 % / 15,9 % / 24,996 / 0,85600
Brandenburg 2019: 2.088.592 / 3,413 / 61,3 % / 26,2 % / 16,1 % / 29,292 / 3,41300
Bremen 2019: 475.482 / 0,777 / 64,1 / 24,9 % / 16,0 % / 128,671 / 0,19347
Hamburg 2020: 1.316.691 / 2,152 / 63,0 / 39,2 % / 24,7 % / 46,465 / 0,84358  
Hessen 2018: 4.372.788 / 13,991 / 67,3 / 19,8 % / 13,3 % / 7,147 / 1,41511
Mecklenburg-Vorpommern 2021: 1.312.471 / 2,145 / 70,8 / 39,6 % / 28,0 % / 46,615 / 0,84942
Niedersachsen 2022: 6.064.738 / 9,968 / 60,3 / 33,4 % / 20,1 % / 10,032 / 3,3293
Nordrhein-Westfalen 2022: 12.965.858 / 21,195 / 55,5 / 26,7 % / 14,8 % / 4,718 / 5,6590
Rheinland-Pfalz 2021: 3.042.414 / 4,972 / 64,3 / 35,7 % / 23,0 % / 20,109 / 1,7750
Saarland 2022: 746.307 / 1,220 / 61,4 / 43,5 % / 26,7 % / 81,978 / 0,53070 /
Sachsen 2019: 3.288.643 / 5,375 / 66,5 / 8,4 % / 5,1 % / 18,604 / 0,41387
Sachsen-Anhalt 2021: 1.788.930 / 2,923 / 60,3 / 8,4 % / 5,1 % / 34,20000 / 0,24553
Schleswig-Holstein 2022: 2.314.417 / 3,783 / 60,3 / 16,0 % / 9,6 % / 26,435 / 0,60528
Thüringen 2019: 1.729.242 / 2,826 / 64,9 / 8,2 % / 5,3 % / 35,380 / 0,23173
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Bundestag 2021: 61.181.072 Wahlberechtigte, Wahlbeteiligung 76,6 %, SPD-Zweitstimmenanteil 25,7 %, SPD-Stimmen x Wahlbeteiligung 19,7 %.   

 

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