Pandemie-Aufarbeitung - Schluss mit den Corona-Mythen!

Die Corona-Aufarbeitung droht im Konsenskitsch unterzugehen. Die Verantwortlichen für die damaligen Fehlentscheidungen bringen die immer gleichen Ausreden vor: Man hätte es ja nicht besser wissen können. Doch, man hätte. Jetzt ist es Zeit, auch tatsächlich Verantwortung zu übernehmen.

Dass Kinder keine „Wirtstiere“ sind, war Wissenschaftlern seinerzeit schon bekannt / dpa
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Autoreninfo

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).

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Erfreulich, dass die Aufarbeitung der Corona-Krise jetzt in Gang kommt. Aber es darf nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben. Denn: Gerade bei tief eingreifenden Entscheidungen z.B. zu den Grundrechten stehen die politischen Akteure in der Pflicht, sich umfassend zu informieren. Verzeihen ist wichtig, aber wenn zentrale fachliche Standards missachtet wurden, ist die Verantwortung für daraus resultierende Fehlentscheidungen klar zuzuordnen. Nochmals zur Erinnerung hier einige besonders gravierende Beispiele.

Man konnte es ja nicht anders wissen. Diese Hoffnung auf die Generalabsolution stirbt zuletzt, aber nein – alle Informationen waren vorhanden: eine aerogen übertragene Infektion mit einem stark ausgeprägten Altersbezug, die auch von symptomlosen Personen übertragen wird. Damit war bereits im Februar 2020 klar, dass man allein mit Kontaktbeschränkungen bzw. -nachverfolgung der Epidemie nicht Herr werden konnte (denn man konnte die meisten Überträger nicht erkennen) und dass man gezielt die besonders Gefährdeten in den Blick nehmen muss. Verantwortung übernehmen!

Bergamo zwang zum Handeln. Nein, Bergamo stellte nicht eine ebola-ähnliche Epidemie (so wie man es mit den berühmten Leichen-LKWs andeuten wollte), sondern den Zusammenbruch eines regionalen Gesundheitssystems dar. So etwas kommt dann vor, wenn man seine eigenen Pandemiepläne nicht befolgt. Fälschlicherweise wurde Bergamo als Startpunkt für eine Angstkampagne genutzt, wäre aber Anlass gewesen, zu einer besonnenen Politik aufzurufen: Unser Gesundheitssystem ist stabil, wir sind gut organisiert und wissen, was zu tun ist. Verantwortung übernehmen!

Grundrechte einschränken ohne sichere Datenbasis – ein Unding

Die Zahlen stiegen von Tag zu Tag. Nein, die Zahlen waren gar nicht dazu tauglich, die infektions-epidemiologische Situation zu beschreiben, denn sie beruhten auf Zählungen, die den Epidemieverlauf nicht von der Testfrequenz differenzieren konnten. Besonders der sogenannte R-Wert war ungeeignet, weil er diesen Messfehler noch potenzierte (der Vergleich zweier nicht zuverlässig gemessener Zeiträume ergibt nie einen reliablen Wert). Da half es auch nichts, dass man alarmistisch von „exponentiellem Wachstum“ sprach, denn ein solches lag praktisch nie vor, und man hätte es mit der angewandten Messmethode auch gar nicht erkennen können. In der Kommunikation wäre also ein durchaus ernstes, aber nicht angsteinflößendes Vorgehen sinnvoll gewesen, anders als viele infektiologisch Fachfremde (wahrscheinlich aufgrund eigener Angstzustände) es empfahlen. Verantwortung übernehmen!

Die vielen Modellierer sagten uns genau, wo wir stehen. Nein, die Modellierer waren fast durchweg fachfremde Theoretiker, die in keiner Weise in die Dynamik einer Epidemie eingedacht waren. Besonders wurde viel zu spät zur Kenntnis genommen (was für Infektiologen eine Binse darstellt), dass sich solche Epidemien nicht homogen sondern herdförmig entwickeln (Cluster), also an einer Stelle plötzlich auftreten und auch wieder verschwinden. Für fachlich Eingeweihte war das Ende der „ersten Welle“ daher keine Überraschung, allgemeine Lockdown-Maßnahmen nicht indiziert (gezielte Maßnahmen dagegen schon, aber dafür hätte man sich differenziert um das Erheben epidemiologischer Daten bemühen müssen). Außerdem wurden die relevanten Fragestellungen gar nicht angedacht, so hätte man dringend wichtige Personengruppen (z.B. Lehrer, Supermarkt-Mitarbeiter) oder die Frage der Stadt-Land-Dynamik untersuchen müssen. Verantwortung übernehmen!

Das Gebot der Stunde: Maßnahmen gezielt einsetzen 

Ein Schutz der vulnerablen Gruppen war doch gar nicht möglich. Nein, diese Ansicht vor allem der damaligen Bundeskanzlerin war grundlegend falsch. Wenn sie sagte, man könne doch nicht alle Alten „einsperren“, dann war das eine fachlich falsche und absichtsvoll (so muss man unterstellen) irreführende Bemerkung, denn Fachleute würden niemals anhand eines einzelnen Kriteriums vorgehen. So gibt es natürlich gesunde 70-Jährige, die kaum ein erhöhtes Risiko aufweisen, ganz anders aber als 70-Jährige mit Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen, die zusätzlich auch noch in Pflegeheimen betreut werden. Man nutzt dazu sogenannte Score-Systeme, die von Fachleuten auch vorgeschlagen worden waren und den Entscheidern vorlagen. Analyse von im Längsschnitt untersuchten Kohortengruppen hätten, wenn sie denn nicht aktiv verhindert worden wären, Anhaltspunkte für weitere Hochrisikogruppen ergeben können. 

Und zum Schluss war die Ansicht der Bundeskanzlerin falsch, weil sie sich als wirkungslos herausgestellt hat: Ende 2022, als das RKI bemerkenswerterweise die entsprechende Berichterstattung einstellte, waren 85 Prozent der mit/an Corona Verstorbenen 70 Jahre alt oder älter (insgesamt 130.000 Personen) – zynisch ist derjenige, der hier davon spricht, Deutschland sei „gut durch die Pandemie gekommen“. Verantwortung übernehmen!

Der einzige Weg, die Vulnerablen zu schützen, war Kontaktbeschränkung der gesamten Bevölkerung. Nein, gezielte Maßnahmen unter Zuhilfenahme der dezentralen, kommunalen und zivilgesellschaftliche Kompetenzen waren zu jedem Zeitpunkt möglich. Allerdings hätten dazu gesetzliche Rahmenbedingungen erlassen werden müssen, die die sofortige allgemeine Verfügbarkeit erfolgreicher Maßnahmen genauso sicherstellen wie den Haftungsausschluss bei (unvermeidlich auftretenden!) Fehlschlägen. Solche Fehlschläge in abgegrenzten Szenarien wären gegenüber den mit Sicherheit vorherzusehenden „Kollateralschäden“ z.B. in der bundesrepublikanischen Gesamtheit der vom Schulunterricht ausgeschlossenen Kinder in jedem Fall vorzuziehen gewesen. Ein solcher, auf die Identifikation des „besten Weges“ ausgerichteter gesellschaftlicher Suchprozess hätte als Ausdruck souveränen, modernen Regierungshandelns auch international Eindruck gemacht. Leider blieb es beim Konjunktiv, und man fiel in ein Top-down-Verständnis zurück, das an das 19. Jahrhundert erinnert. Verantwortung übernehmen!

Kinder waren wichtige „Wirtstiere“. Nein, ganz abgesehen von der menschenverachtenden Wortwahl eines ZDF-„Comedians“ war es bereits sehr früh klar, dass Kinder weder selbst einem relevanten Risiko ausgesetzt sind noch für andere Personen ein Risiko darstellen. Studien mit anderem Ergebnis z.B. aus der Charité waren methodisch korrumpiert und wurden national sowie international „verrissen“. In keinem Fall war es gerechtfertigt, mit Kindergarten- und Schulschließungen zu reagieren und dieser Generation von Kindern den zusätzlichen Druck eines lebenslang wirksamen Bildungsrückstands und einer zunehmenden sozialen Spaltung zuzumuten. Das Ausmaß, in dem heute die entsprechenden Pisa-Daten verleugnet werden, ist ein beschämendes Detail. Das Ausmaß, mit dem gerade aufseiten der sich „links“ nennenden Parteien und Strömungen die sozialen Folgen negiert werden, macht sprachlos. Verantwortung übernehmen!

Die Versorgung wurde nicht aktiv gestaltet

Die Überlastung des Gesundheitssystems stand bevor. Nein, eine Überlastung stand zu keinem Zeitpunkt bevor, allerdings war zu befürchten, dass durch den völligen Verzicht auf sinnvolle Maßnahmen der Versorgungssteuerung eine kritische Situation hervorgerufen wird. In erster Linie wurde darauf verzichtet, die Einweisung von Patienten in die stationäre Versorgung aktiv zu gestalten. Statt dass man Infizierte regelmäßig und nach bundesweit gültigen Kriterien regelmäßig auf ihren Zustand untersucht (bei stabilem Zustand telefonisch, sonst durch Praxis- oder Hausbesuche mit entsprechenden Schutzmaßnahmen), setzte man das Personal für Büroarbeiten (z.B. Kontaktnachverfolgung, Auswertung von digitalen Meldeinstrumenten) und für Kontrollen auf Parkbänken ein. Die Folgen bestanden in der zu langen Hinauszögerung der stationären Einweisung und gleichzeitig in der Blockade stationärer Kapazitäten durch Patienten, die auch hätten ambulant versorgt werden können. 

Weiterhin gab es keine bundesweit erhobenen Daten zum Zustand, zur Komorbidität und zu den basalen demographischen Daten der hospitalisierten Patienten, sodass letztlich keine klare Beurteilung der Situation möglich war. Wohlgemerkt: Daran waren nicht die „alten“ Faxgeräte schuld, genauso wenig wie die fehlende Digitalisierung, sondern allein das fehlende Fachwissen und der mangelnde Initiativgeist der handelnden Personen. Verantwortung übernehmen!

Die Intensivstationen waren überfüllt. Nein, die Intensivstationen waren zu keinem Zeitpunkt überfüllt. Allerdings wurden in Deutschland durch die Strategie der prophylaktischen Frühintubation die Beatmungsplätze verknappt, obwohl eine nicht-invasive Beatmung das Überleben positiv beeinflusst hätte (die Schätzungen der durch die invasive Beatmung verursachten Übersterblichkeit gehen in die Zehntausende). Ganz zentral war der Umstand, dass während der ersten zwei Jahre weder bekannt war, ob jemand mit oder wegen Sars2 auf die Intensivstationen aufgenommen wurde (und dort eventuell verstarb) und welche Begleiterkrankungen und andere klinische Merkmale diese Patienten aufwiesen. 

Weiterhin wurde eher Personal abgebaut, aber auf eine wirksame Kampagne zur Reaktivierung besonders von Pflegekräften wurde verzichtet. Fördermittel zu Schaffung von zusätzlichen Beatmungsplätzen wurden zwar verausgabt, jedoch wurden diese Plätze nicht in Betrieb genommen. Die finanzielle Unterstützung für die Krankenhäuser wurde nicht für die Versorgung Infizierter eingesetzt. Außerdem wurde durch unsinnig rigide Auslegungen der Isolations- und Quarantäneregeln der Personalmangel verstärkt, obwohl z.B. gesundes Personal mit grenzwertigen PCR-Befunden ohne weiteres in der Versorgung (von Sars-Infizierten) hätten eingesetzt werden können. Verantwortung übernehmen!

Prävention sinnvoll einsetzen: Zwei Beispiele

Ausgangsbeschränkungen sind ein probates Mittel. Nein, Ausgangsbeschränkungen sind kein zu rechtfertigendes Mittel, da das in der Öffentlichkeit (Spazierengehen, Kinderspielplätze, Parkbänke) nachweisbare Infektionsrisiko minimal ist und vor allem deutlich unterhalb des Risikos in Innenräumen liegt, dem die Personen bei einer Ausgangssperre vermehrt ausgesetzt sind. Das indirekte Argument, dass mittels Ausgangssperre die Kontaktfrequenz zu reduzieren war, zählt insofern nicht, als dass weniger die Zahl als die Intensität der Kontakte eine Rolle spielt (selbst bei Haushaltskontakten liegt die Ansteckungsrate je nach Virusstamm nur bei 15 bis 20 Prozent). Durch Ausgangssperren setzt man nicht-infizierte Personen also einem erhöhten Infektionsrisiko aus (ganz abgesehen von den sozialen Folgen). Verantwortung übernehmen!

 

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Masken zu tragen, das war doch zumutbar. Nein, eine Maskenpflicht draußen war nicht sinnvoll, ebenso wenig wie Masken für Kinder z.B. im Unterricht. Masken verhindern zwar aerogen übertragene Infektionen, haben in Situationen ohne oder mit extrem niedrigem Infektionsrisiko jedoch keine relevante Wirkung, da Infektionen hier nicht in messbarem Umfang auftreten. Insofern waren sie auch nicht zumutbar bzw. verhältnismäßig. Man könnte sonst auch Fußgängern gesetzlich vorschreiben, einen Sturzhelm zu tragen, da deren Wirksamkeit bei herunterfallenden Dachziegeln statistisch klar bewiesen ist, aber man tut es trotzdem nicht, weil solche Ereignisse im Alltag nur extrem selten auftreten. Stattdessen wäre ein gezielter Einsatz von Masken z.B. in überfüllten Nahverkehrszügen zu empfehlen gewesen. Durch ein solches differenziertes Vorgehen hätte man auch Beschaffungsprobleme und die überbordende Korruption sowie die wegen Verfallsdatum angeordneten Verbrennung von Millionen von Masken vermeiden können. Verantwortung übernehmen!

Impfkampagne ist mehr als Impfen 

Man konnte sich „aus der Pandemie herausimpfen“. Nein, man kann sich nie durch Impfung einer Epidemie entledigen, sondern nur durch eine konsistente Impfkampagne. Dies gilt umso mehr, als dass für eine Verringerung der Infektiosität keinerlei Studien vorlagen und sich sehr rasch die Fälle häuften, die zeigten, dass die Impfung nicht vor Infektion schützt. Eine komplette Impfkampagne umfasst dagegen neben der Gabe des Impfstoffes zahlreiche nicht-medikamentöse Maßnahmen (Aufklärung, sinnvolle Barrieremethoden, Verteilung des Impfstoffes, Ziel der Kampagne und deren Beendigung etc.) und weitere Maßnahmen, die das Vertrauen der Bevölkerung in die Impfung stärken. Verantwortung übernehmen!

Die Impfung ist garantiert nebenwirkungsfrei. Nein, keine Impfung ist nebenwirkungsfrei, und auch nicht die zur Sars2-Impfung. Die Aussagen involvierter Wissenschaftsvertreter und Politiker, es gebe keine Nebenwirkungen (und wenn, dann seien sie völlig harmlos), waren nicht nur medizinisch und impfpolitisch falsch, sondern erwiesen sich als wahrer Bärendienst an allen Impfkampagnen im Lande. Da bekannt ist, dass in Deutschland rund 15 Prozent der Bevölkerung Impfungen gegenüber skeptisch eingestellt sind, hätte ein fachlich professionelles Vorgehen darin bestanden, durch eine sensible Kommunikationspolitik erst einmal Vertrauen zu bilden und dabei insbesondere auf die Neuartigkeit der größtenteils verwendeten Impfstoffe einzugehen.

Zentral wäre die Einrichtung eines niedrigschwelligen Melderegisters mit verlässlicher Rückkopplung und (lege artis bei Meldesystemen) deutlich erkennbarer sozialer Erwünschtheit der Meldung gewesen. Stattdessen wurden nicht nur die Meldungen administrativ erheblich erschwert, sondern die Meldung durch beunruhigte Kollegen und Patienten durch persönliche, sprachlich wie soziale Herabsetzungen und Beschimpfungen sanktioniert. Die Stiko, deren Impfpolitik in der Bevölkerung einen gewissen Vertrauensvorschuss genoss, wurde nicht nur politisch unter Druck gesetzt, sondern auch nach der Epidemie grundlegend umgestaltet, personell „erneuert“ und vermehrt einer politischen Kontrolle unterworfen. 

Man kann es gar nicht klar genug sagen: Dieses Vorgehen verdient keine andere Bewertung als „katastrophal“, sie widerspricht allen fachlichen Standards in umfassender Form. Die nachfolgende unsägliche Debatte um die 2G-Regelungen und den Impfzwang sei hier nur am Rande erwähnt, ebenso wie die allen klinischen Erfahrungen widersprechende Ansicht, die Impfung sei einer natürlich erworbenen Immunität durch eine durchgemachte Infektion überlegen. Welch Desaster auf der ganzen Linie. Verantwortung übernehmen!

Aktivistische Medien sind großes Hindernis

Die „Qualitätsmedien“ haben umfassend berichtet. Nein, gerade die Qualitätsmedien haben auf breiter Front versagt. Wenn der SZ-Wissenschaftsredakteur Werner Bartens in der TV-Sendung „Talk im Hangar 7“ am 4.4.2024 im Brustton der Überzeugung erklärt, dass seine Zeitung breit über alle Aspekte und Optionen berichtet habe, dann entspricht dies gerade nicht der Realität, denn ganze wissenschaftliche Disziplinen und fachliche Standards wurden überhaupt nicht dargestellt, sondern zum Teil sogar offen diffamiert. Meldung und Kommentar wurden aktiv vermengt, Personen wurden in schlechtes Licht gerückt, die meisten Presseorgane einschließlich TV befleißigten sich eines in Aktivismus abgleitenden Duktus und ließen jegliche kritische Distanz zum Geschehen und erst recht zu den handelnden Politikern vermissen. 

Natürlich berichtete man über Profilierungskämpfe wie den zwischen Söder und Laschet, aber man griff nicht die grundlegende Ausrichtung der Corona-Maßnahmen auf, ebenso wenig wie man sich der Verächtlichmachung weiter Teile der Bevölkerung als Covidioten, Querdenker und Wissenschaftsleugner widersetzte – nein man initiierte und forcierte sogar diese Herabsetzungen. Die Ergebnisse sehen wir heute in den Wahlumfragen. Verantwortung übernehmen!

Politische Institutionen sind gerade im Notfall wichtig

Die weitgehende Außerkraftsetzung der politischen Institutionen war unumgänglich. Nein, gerade nicht. Wenn man als eine Funktion des politischen Prozesses das Aushandeln von Lösungsmöglichkeiten in Konfliktsituationen versteht, dann ist darin die gesellschaftliche Integrationsfunktion ein zentraler Bestandteil. Ein ausdiskutierter Konflikt beruhigt nicht nur die Fronten, sondern gibt den Bürgern das Gefühl, Gehör gefunden zu haben. Ein nicht-ausdiskutierter, gleichwohl explizit bestehender Konflikt, der à la TINA („there is no alternative“) entschieden wird, hinterlässt weder Frieden noch Kooperationsbereitschaft für zukünftige Konflikte. Hier sind normative Fragen wie nach der Kompetenz eines Gremiums wie der Ministerpräsidentenkonferenz einschließlich Bundeskanzlerin noch gar nicht mit einberechnet (aggravieren aber die Dissonanz). Verantwortung übernehmen!

Der Föderalismus war schuld. Nein, die föderale Struktur wurde zwar immer wieder kritisiert, hat in Wirklichkeit aber wenigstens eine Kleinigkeit an Varianz zugelassen, sodass man unterschiedliche Verfahrensweisen vergleichen konnte. Allerdings wäre es angezeigt gewesen, hier viel planvoller vorzugehen, damit man verwertbare Kenntnisse im Sinne eines nach wissenschaftlichen Kriterien lernenden Vorgehens hätte erlangen können (s.u.). Verantwortung übernehmen!

Corona war ein gutes Beispiel, im Zeitalter der Poly-Krisen Solidarität einzuüben. Nein, Solidarität wurde gerade nicht eingeübt, denn die Schwachen und Vulnerablen wurden der Epidemie schutzlos ausgeliefert – die Zahlen sagen es deutlich. Solidarität hätte bedeutet, dass man wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen angewandt und gezielt entwickelt hätte. Solidarität gegenüber den Schwachen (nicht gegenüber den Eigenheimbesitzern mit Garten und Hauslehrer) hätte bedeutet, dass die Gesellschaft sich bereit erklärt hätte, auf der Suche nach optimalen Ansätzen für den Schutz dieser Gruppen auch das Risiko von Fehlschlägen einzugehen (s.o.). Dies wäre einer selbstbewussten, „reifen“ Gesellschaft würdig gewesen. Verantwortung übernehmen!

In einer unglücklichen Lage: „Die“ Wissenschaft

Die Wissenschaft sollte nur noch mit einer Stimme sprechen. Nein, das wäre der Tod der Wissenschaft – beschämend, dass solche wissenschaftsfeindlichen Äußerungen von prominenten Wissenschaftsvertretern erhoben werden. Aber diese Entwicklung ist im Rahmen identitätspolitischer (Fehl-)Entwicklungen heute vielfach zu beobachten („Szientismus-Paradox“). Wissenschaft wird auf diese Weise zu einem Machtinstrument und untergräbt ihren eigenen Erkenntnisprozess. Verantwortung übernehmen!

Wissenschaftliche Erkenntnisse waren während der Epidemie nicht herzustellen. Nein, das Gegenteil ist wahr, es wurden die entsprechenden Studien nur nicht initiiert. Es wurde nicht nur die Identifikation relevanter wissenschaftlicher Fragestellungen, sondern auch die Realisierung wissenschaftlicher Programme sträflich vernachlässigt. Diese Missachtung des wissenschaftlichen Zugangs ging so weit, dass nicht einmal das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), international bestens beleumundet und vernetzt, eingeschaltet oder auch nur ein einziges Mal überhaupt angesprochen wurde. Ja, leider muss man den Verdacht klar formulieren: Die wissenschaftlich-aktive Begleitung durch Studien und kontinuierlichen Erkenntnisgewinn wurde aktiv unterbunden (ausgenommen natürlich die virologische Laborperspektive). Verantwortung übernehmen!

Es ist nicht alles gut

Deutschland ist gut durch die Pandemie gekommen. Nein, Deutschland ist genauso schlecht durch die epidemische Situation gekommen wie andere Länder, wenn nicht schlechter. Schlechter jedenfalls als das vielgescholtene Schweden. Aber das ist nicht einmal der wichtigste Punkt. Deutschland ist als Gesellschaft und als politisches System katastrophal unter seiner Leistungsfähigkeit geblieben – wenn man den Maßstab einer aktiven, selbstbewussten, souveränen, sich auf die eigenen Kräfte und Fähigkeiten stützenden Demokratie zugrunde legt. Vielleicht gibt es die Hoffnung, dass man von dieser Erkenntnis ausgeht und eine ehrliche Fehleranalyse vornimmt. Dies könnte zu gestärktem Selbstbewusstsein führen. Wie man immer sagt, die Hoffnung stirbt zuletzt. Und die Forderung an die politische Ebene lautet auch an dieser Stelle unverändert, dass diese für ihr Handeln die Verantwortung übernehme.

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