Ordensverleihung an Angela Merkel - Absolution für verfehlte Politik

Russlandpolitik, Grenzöffnung, Kürzung des Wehretats: Angesichts ihrer zahlreichen Fehlentscheidungen wird die Verleihung des höchsten Verdienstordens der Bundesrepublik an Angela Merkel vor allem in Osteuropa sehr kritisch gesehen.

Angela Merkel während der Ordensverleihung / dpa
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Als der britische Premier Neville Chamberlain am 30. September 1938 von der Münchner Konferenz nach London zurückkehrte, wurde er auf dem Flughafen von einer begeisterten Menschenmenge als „Retter des Friedens“ empfangen. Als Angela Merkel im Dezember 2021 das Kanzleramt für Olaf Scholz räumte, rühmten wohl die meisten Leitartikler ihre 16 Jahre im Amt als Zeit der erfolgreichen Krisenbewältigung, die den Deutschen ihren Wohlstand gesichert und ganz Europa Stabilität gebracht habe. So wie mit dem 1. September 1939 offenbar wurde, dass Chamberlain völlig falsch gelegen hatte, setzt auch der 24. Februar 2022 ein großes Fragezeichen hinter die Kanzlerschaft Angela Merkels. Die heutige Verleihung des höchsten Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland durch den Bundespräsidenten kommt viel zu früh und wird zu Recht von vielen Seiten kritisiert.

Es ist zu offensichtlich, dass sie ihren Teil zur schweren Krise beigetragen hat, in der sich ganz Europa heute befindet, beginnend mit ihrer Russlandpolitik. Im Jahr 2015 gab es zwei Ereignisse, die aufzeigten, wie widersprüchlich ihr Kurs war: Im Mai flog sie aus Anlass des 70. Jahrestags des Kriegsendes nach Moskau, um am Denkmal des unbekannten Soldaten einen Kranz niederzulegen. Nach der Zeremonie trat sie gemeinsam mit Putin vor die Presse. Zur Überraschung aller Anwesenden sprach sie von der „verbrecherischen und völkerrechtswidrigen Annexion der Krim“, der Kremlchef konnte seinen Ärger nur schlecht überspielen. Bei Treffen mit Regierungschefs aus den Partnerländern erklärte sie zudem: „Putin will die EU zerstören.“

Doch im Dezember 2015 verbat sie sich auf dem EU-Gipfel jegliche Zweifel an der Zuverlässigkeit Russlands als Rohstofflieferant und widersprach allen, die vor der geplanten Pipeline Nord Stream 2 warnten. Merkel beharrte darauf, dass es sich um ein privatwirtschaftliches Projekt handle. Allerdings wusste sie sehr wohl, dass diese Begründung schlicht falsch war, denn die russischen Erdgas- und Erdölkonzerne stehen unter Kontrolle des Kremls. Es war ein weiterer großer Widerspruch: Als Oppositionsführerin hatte sie die Russlandpolitik Schröders kritisiert, doch als Bundeskanzlerin setzte sie dessen Energiepolitik nicht nur fort, in ihrer Amtszeit nahm der Import russischer Rohstoffe sogar kräftig zu.

Die Deutschen werden von sämtlichen europäischen Nachbarn für Inflation und Teuerungswelle verantwortlich gemacht

Kurz nach der Annexion der Krim hatte sie in der EU Sanktionen gegen Russland durchgesetzt, die allerdings kaum Wirkung zeigten. Sie erstreckten sich lediglich auf einige Banken sowie auf Erdölunternehmen, für die der Ankauf westlicher Technologieprodukte blockiert wurde. Doch die Übereinkunft über den Bau von Nord Stream 2 hob die Sanktionen faktisch auf, das deutsch-russische Handelsvolumen wuchs weiter. Merkel vermittelte so Putin fatalerweise den Eindruck, dass die Annexion der Krim und die russische Invasion im Donbass von ihr hingenommen würden.

Westliche Russlandexperten aber waren ebenso wie Politiker aus den osteuropäischen EU-Staaten schockiert, dass sie sich einerseits im Klaren über den kriminellen Charakter der Politik Putins war, andererseits aber Geschäftsabschlüsse mit ihm förderte, die die Deutschen wirtschaftspolitisch erpressbar machten. Und nicht nur das: In einem weiteren Akt der Kurzsichtigkeit überzeugte sie 2021 sogar den neuen US-Präsidenten Joe Biden, seinen Widerstand gegen Nord Stream 2 aufzugeben, da die Russen sich als zuverlässige Partner erwiesen hätten. Am selben Abend rief sie bei Putin an, um ihm davon zu berichten. Der polnische Präsident Andrzej Duda sagte später dazu: „Ich war fassungslos. Das musste man als Akt nicht nur der Gleichgültigkeit, sondern geradezu als feindlichen Akt gegenüber unserem Teil Europas verstehen.“

 

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Nicht anders sah es der frühere polnische Premier und EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk, der eigentlich ihr treuester Verbündeter in Brüssel gewesen war: „Nord Stream 2 war ihr größter Fehler.“ Die Abhängigkeit vom angeblich „sauberen“ russischen Erdgas verstärkte noch der überhastete Ausstieg aus der Atomenergie, auch dies ein überraschender Beschluss, hatte sich die Bundeskanzlerin bis dahin doch für eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten starkgemacht. Heute werden die Deutschen von sämtlichen europäischen Nachbarn für die Inflation und die Teuerungswelle, die Folgen des kriegsbedingten abrupten Umbruchs im Energiemarkt sind, verantwortlich gemacht.

Weitere Merkel’sche Kehrtwenden wurden ebenfalls vom Kreml ausgenutzt, um die EU unter Druck zu setzen: So war es offenkundig eines der Ziele des massiven russischen Militäreinsatzes in Syrien, eine weitere Flüchtlingswelle hervorzurufen. In Moskau hatte man sehr genau beobachtet, dass 2015 die Entscheidung Merkels, die Grenzen offen zu halten, enorme politische Auswirkungen hatte: Das Thema brachte den Befürwortern des Austritts der Briten aus der Europäischen Union die nötigen Prozente für ihren Sieg beim Brexit-Referendum, und in Polen errang die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), geführt von Jarosław Kaczyński, bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit.

Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei standen unter starkem Migrationsdruck

Noch fünf Jahre zuvor hatte sie die Zahl der Einwanderer strikt begrenzen wollen und zur Begründung erklärt: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert.“ Mit ihrem Vorstoß vom Sommer 2015, die Migranten, die Deutschland als Ziel angegeben hatten, auf alle EU-Länder zu verteilen, irritierte sie die Mehrheit der Wähler in den anderen EU-Staaten, namentlich in den osteuropäischen. Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei standen damals bereits unter starkem Migrationsdruck von Osten: Mehrere Hunderttausend Ukrainer strebten an, sich in diesen Ländern vorübergehend oder gar dauerhaft niederzulassen. Diese Einwanderungswelle hatte der Krieg im Donbass ausgelöst.

Nicht minder war die Aufmerksamkeit, die man im Kreml der Rolle Merkels in der Nato widmete: Um Putin nicht zu reizen, blockierte sie gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy 2008 eine Zusammenarbeit der Nato mit der Ukraine und Georgien, die nach den Plänen des Weißen Hauses in Beitrittsverhandlungen münden sollten. Sie stellte sich damit auch gegen die osteuropäischen EU- und Nato-Staaten, die eindringlich vor den imperialen Ambitionen Putins warnten. In Moskau wurde die Position Merkels als Freibrief aufgefasst, die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken zu destabilisieren, um sie letztlich wieder unter Kontrolle zu bringen. Wenige Monate nach dem „Nein“ Merkels zu den Nato-Ambitionen der prowestlichen Regierungen in Kiew und Tiflis marschierte die russische Armee im August 2008 in Georgien ein.

Gegen starken Widerstand aus der eigenen Partei setzte Merkel drei Jahre später eine Aussetzung der Wehrpflicht durch. Als Oppositionsführerin hatte sie der rotgrünen Regierung vorgeworfen, den Wehretat zu kürzen, nun machte sie es selbst. Die unter den Nato-Staaten getroffene Vereinbarung, zwei Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, wurde von der Bundesregierung missachtet. Die osteuropäischen Nato-Länder warfen ihr vor, die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses durch die Kürzungen zu schwächen.

Die Kehrtwenden der Kanzlerin haben die EU geschwächt

Darüber hinaus hatte der Wegfall der Wehrpflicht für diese Länder schwerwiegende Folgen, denn gleichzeitig entfiel ja auch der Ersatzdienst. Gerade bei der Kranken- und Altenpflege hatten Zivildienstleistende das Gros der Arbeiten übernommen, die keine Fachausbildung erfordern. Ihre Plätze hat Personal aus Mittelosteuropa eingenommen, das nun an den Heimatorten fehlt. So hat in Polen das Krankenhauspersonal im Durchschnitt mehr als doppelt so viele Patienten zu betreuen wie in der Bundesrepublik.

Die Kehrtwenden der Bundeskanzlerin haben also keineswegs zur Stärkung der EU beigetragen, sondern sie geschwächt. In den osteuropäischen EU-Staaten wird ihr vorgeworfen, Putin ungewollt den Weg zum Angriff auf die Ukraine geebnet zu haben.

Vom weiteren Verlauf dieses Krieges wird auch ihr Bild in der künftigen Geschichtsschreibung abhängen. Zur Zeit spricht leider viel dafür, dass sie durchaus in eine Reihe mit Neville Chamberlain und Édouard Daladier gestellt werden könnte, die ebenfalls geglaubt hatten, mit Zugeständnissen an einen aggressiven Diktator den Frieden zu retten.

Dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihr nun das „Großkreuz in besonderer Ausfertigung“ verlieh, das vor ihr nur die Langzeitkanzler Konrad Adenauer und Helmut Kohl bekommen hatten, wirkt allerdings als Versuch, ihr und sich selbst die Absolution für die gemeinsam zu verantwortende verfehlte Russlandpolitik zu geben, eine Politik, die zudem das Vertrauen der EU- und Nato-Partner in die Deutschen schwer erschüttert hat.

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