Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel - Im Brennpunkt der Probleme

Der Bürgermeister von Neukölln ist nicht abgebrüht – sondern lässt sich von der harten Realität in seinem Problembezirk noch beeindrucken. Für seine SPD hält Martin Hikel eine Lektion bereit.

„Neukölln hält der deutschen Gesellschaft bei Konflikten immer wieder den Spiegel vor“, sagt Hikel / Thomas Meyer
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Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Der Neuköllner Bezirksbürgermeister ist das Spiel mit den Medien schon gewohnt. Immer wenn es in seinem Bezirk mal wieder knallt, wird Martin Hikel landesweit zu einem der gefragtesten Gesprächspartner. Auch er weiß: Es gehört zu seiner Jobbeschreibung, denn der 37 Jahre alte Sozialdemokrat steht der bekanntesten Problemgegend Deutschlands vor.

In Berlin-Neukölln leben Menschen aus mehr als 150 Nationen, viele von ihnen kommen wie die rund 30000 Arabischstämmigen aus muslimischen Ländern. Normenkonflikte gehören in Neukölln zum gelebten Alltag. Die berüchtigte Sonnenallee mit ihren Shishabars und Wettbüros ist längst zu einem Synonym für Kriminalität und misslungene Integration geworden.

Neukölln als das Spiegelbild Deutschlands

„Ich mag es nicht, Menschen vorzuverurteilen, anders wäre ich in Neukölln mit all seiner Vielfalt auch falsch“, sagt Hikel. Der 2,08 Meter große Politiker ist eine imposante Erscheinung, aufgesetztes Machtgehabe ist ihm fremd. Die Worte sind bei ihm wohlüberlegt und stets bedacht. Übereilte Entscheidungen sind nicht der Stil des ruhig wirkenden Hikel. Ein Kontrastprogramm, das im chaotischen und lauten Problembezirk bisher gut funktioniert.

Neukölln ist für ihn nicht die dunkle Ecke der Republik, sondern vielmehr ein prominentes Beispiel dafür, was auch anderswo falsch läuft. Aus seiner Sicht müssen von Berlin alle lernen. „Neukölln hält der deutschen Gesellschaft bei Konflikten immer wieder den Spiegel vor. Das hatten wir bei Integrationsfragen, bei gescheiterten Bildungsbiografien, und so ist es nun auch beim Thema Antisemitismus“, sagt Hikel.

 

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Der in Neukölln aufgewachsene Hikel leistete nach seinem Abitur Zivildienst in einem Wohnheim für geistig behinderte Menschen. Bis zu seiner Wahl zum Bezirksbürgermeister im März 2018 arbeitete er als Politik- und Mathematiklehrer an der amerikanisch geprägten John-F.-Kennedy-Schule im bürgerlichen Berlin-Zehlendorf. Eine andere Welt.

Als seine Vorgängerin Franziska Giffey als Familienministerin in die Bundespolitik ging, hatten ihn wohl nur wenige Insider als möglichen Nachfolger auf dem Radar. Selbst für Hikel kam der Schritt überraschend, wie er im Gespräch mit Cicero verrät. Es waren Mitglieder seiner Fraktion, die ihn zur Kandidatur motivierten.

Die Sonnenallee ist für Juden zu einer No-go-Area geworden

Mit offenem Antisemitismus sorgte Neukölln zuletzt abermals für Negativschlagzeilen. Wieder war es die berüchtigte Sonnenallee, die sich von ihrer hässlichsten Seite zeigte. Nach dem barbarischen Terror der Hamas am 7. Oktober gegen Israel kam es auf der Neuköllner Hauptverkehrsachse zu spontanen Freudenbekundungen des radikal-palästinensischen Netzwerks Samidoun. Wenige Tage später skandierten Demonstranten judenfeindliche Parolen und griffen die Polizei in ungehemmter Aggressivität mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern an.

Die Sonnenallee ist für Juden mitten in Neukölln längst zu einer No-go-Area geworden. „Ich kann alle Juden verstehen, die Vorbehalte haben und nicht mit dem Davidstern über die Sonnenallee laufen möchten“, sagt Hikel nachdenklich. Arabischsprachiges Fernsehen trägt den Israelhass aus dem Nahen Osten ungefiltert in die Wohnzimmer des Bezirks. Antisemitismus ist unter arabischstämmigen Menschen in Neukölln weit verbreitet. Hikel scheut sich nicht, die Dramatik offen zu benennen. „Zu lange haben wir das Problem gesamtgesellschaftlich ignoriert“, erklärt er.

In Neukölln demonstrieren Bio-Deutsche auf propalästinensischen Kundgebungen seit Wochen Seit an Seit mit den Islamisten. Auch Teile des links-intellektuellen Milieus trügen mit ihrer postkolonialistisch begründeten Ablehnung gegen Israel zur Eskalationsspirale bei. „Wir müssen dem Hass in unserem Bezirk den Kampf ansagen“, sagt der Familienvater. Neulich war er bei einer Diskussion mit Schülern – und war entsetzt: „Mir sind Dinge um die Ohren geflogen, die mich fassungslos gemacht haben.“

Der Pragmatiker Hikel ist an Lösungen interessiert

Martin Hikel lässt sich noch beeindrucken von der Realität. Doch es gibt andere in seiner Partei. So forderte 2020 die Arbeitsgruppe Migration der Berliner SPD die Abschaffung des Begriffs der „Clankriminalität“. Dieser stigmatisiere die migrantische Community, lautete der in einem Antrag formulierte Vorwurf. Damit kann der Bezirksbürgermeister nur wenig anfangen: „Was nützt es, über Begriffe zu streiten, wenn die Probleme für die Menschen in unserem Bezirk bereits unübersehbar auf der Straße liegen?“

Der Pragmatiker Hikel ist an Lösungen interessiert, an einem politischen Rezept, das sich die SPD auf allen Ebenen zu Herzen nehmen solle: „Die Sozialdemokratie muss wieder die Interessen der einfachen Leute vertreten.“

 

 

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