Neujahrsansprache des Bundeskanzlers - Wunsch und Wirklichkeit

Die traditionelle Neujahrsansprache des Bundeskanzlers war diesmal mit Spannung erwartet worden: Wie äußert sich Scholz zu den vielen Krisen, von denen einige auch durch seine eigene Regierung verursacht wurden? Wir dokumentieren seine Rede – und machen den Fakten-Check.

Der Bundeskanzler Olaf Scholz während seiner Neujahrsansprache / dpa
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Die in Krisenzeiten wie diesen mit einer gewissen Spannung erwartete Neujahrsansprache des Bundeskanzlers liegt jetzt vor. Nachdem bereits einige mehr oder weniger lustige Fake-Reden von Olaf Scholz kursierten, dokumentieren wir an dieser Stelle das Original. Und erlauben uns, die Worte des Anführers der Ampel-Regierung an einigen Stellen mit Anmerkungen zu versehen.

„Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger!“

Erste Botschaft, schon gleich in der Anrede an sein Volk: Scholz gendert nicht. Das dürfte nicht allen Koalitionspartnern gut gefallen.

„Wenn ich im Land unterwegs bin, sagen mir gerade auch viele Ältere: „So geballt, so Schlag auf Schlag habe ich das alles noch niemals erlebt.“ Kaum war Corona halbwegs vorbei, brach Russland mitten in Europa einen unerbittlichen Krieg vom Zaun. Kurz darauf dreht uns der russische Präsident den Gashahn ab. Und im Herbst gab es auch noch den brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel. So viel Leid, so viel Blutvergießen. Unsere Welt ist unruhiger und rauer geworden. Sie verändert sich in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. Auch wir müssen uns deshalb verändern. Vielen von uns bereitet das Sorgen. Bei einigen sorgt das auch für Unzufriedenheit. Ich nehme mir das zu Herzen. Und zugleich weiß ich: Wir in Deutschland kommen da durch.“

Die Welt verändert sich also in atemberaubender Geschwindigkeit. Und zwar zum Schlechten, wie man der vorangehenden Aufzählung des Kanzlers entnehmen kann. „Wir“ müssen und deshalb verändern. Das ist richtig. Aber wie und in welche Richtung? Hierzu sagt Scholz nichts. Ebenso wenig, wie „wir in Deutschland“ durch diese unruhigen Zeiten kommen sollen. Kling nach Merkels „Wir schaffen das“ – und bleibt ähnlich diffus.

„Es ist anders gekommen“

„Erinnern Sie sich, wo wir vor einem Jahr standen? Drei, vier, fünf Prozent Wirtschaftseinbruch hatten uns viele Expertinnen und Experten vorausgesagt. Viele befürchteten, die Preise würden immer weiter steigen. Es gab die Sorge vor Stromausfällen und kalten Wohnungen. Es ist anders gekommen. Die Inflation ist gesunken. Löhne und Renten steigen. Die Gasspeicher sind für diesen Winter randvoll. Es ist anders gekommen, weil wir uns gegen den Wirtschaftseinbruch gestemmt haben. Weil wir Energie gespart und rechtzeitig vorgesorgt haben. Wir alle – gemeinsam.“

Stimmt, Stromausfälle und kalte Wohnungen hat es nicht gegeben. Auch die Inflation ist gesunken, wird aber dauerhaft Bestand haben – auch wegen diverser Maßnahmen der Ampel im Zusammenhang mit der Haushaltskrise. Dass die Löhne steigen, ist in dieser Verallgemeinerung unzutreffend. Viele Arbeitnehmer müssen zumindest Kaufkraftverluste hinnehmen, weil ihre Lohnerhöhungen die Inflation nicht kompensieren. Und der „Wirtschaftseinbruch“ ist keineswegs aus der Welt; im internationalen Vergleich gehört die Bundesrepublik mit ihren weiter eingetrübten Perspektiven zu den wachstumsschwächsten unter den Industriestaaten.

„Wir kommen auch mit Gegenwind zurecht. Das macht die Herausforderungen unserer Zeit nicht kleiner. Aber das gibt Mut, dass wir ihnen gewachsen sind. „Wer, wenn nicht Ihr in Deutschland kriegt das hin?“ – das sagen mir viele um uns herum in Europa und auf der Welt. Und da ist etwas dran. Noch nie hatten so viele Frauen und Männer in Deutschland eine Arbeitsstelle wie heute. Das sichert unseren Wohlstand. Das gibt uns die Möglichkeit, kraftvoll in die Zukunft zu investieren. Und das müssen wir auch.“

Ach ja? Ist es nicht eher so, dass unsere Nachbarn einigermaßen fassungslos auf unsere Energie-, Haushalts- und Migrationspolitik blicken? International geben wir jedenfalls kein Vorbild ab – im Gegenteil. Auch von „kraftvoll in die Zukunft investieren“ kann aufgrund der aktuellen Budget-Engpässe keine Rede sein.

Das Elend mit der Bahn

„Denn wer in diesen Tagen mit der Bahn unterwegs ist oder vor einer maroden Brücke im Stau steht, der merkt: Unser Land wurde zu lange auf Verschleiß gefahren. Deshalb investieren wir jetzt: in ordentliche Straßen und eine bessere Bahn. In eine saubere Energieversorgung und in besseren Klimaschutz. In gute Arbeitsplätze – und zwar in Wirtschaftszweigen, in denen Deutschland schon immer Weltspitze war. Genauso wie in Branchen, wo wir Nachholbedarf haben, zum Beispiel bei der Herstellung von Computer-Chips oder Batterien.“

Interessant ist hier die distanzierte Formulierung: „Unser Land wurde zu lange auf Verschleiß gefahren.“ Ganz so, als hätten Scholz und seine SPD in den zurückliegenden Legislaturperioden nicht mitregiert und wären frei von Verantwortung. Und wer genau ist mit „wir“ gemeint, wenn es um Investitionen in „gute Arbeitsplätze“ geht? Fakt ist, dass viele Unternehmen aus Branchen, „in denen Deutschland schon immer Weltspitze war“, sich derzeit abwenden und ihre Produktionsstandorte zunehmend ins Ausland verlagern. Wie es mit den zehn Milliarden Euro an staatlicher Förderung für die Chip-Fabrik in Magdeburg weitergeht (und ob diese Mega-Subvention vernünftig ist), darüber wird weiter gestritten.

„All das ist vor dem Hintergrund des weitreichenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts von Mitte November nicht einfacher geworden. Nicht alle Vorhaben, die wir in den Blick genommen hatten, werden wir umsetzen können.“

Das ist schon ganz schön dreist: Scholz geht auf das „weitreichende Urteil des Bundesverfassungsgerichts“ ein, ohne auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, dass insbesondere er selbst es war, der den ganzen Schlamassel mit der Umwidmung der Kreditermächtigungen angerichtet hat.

„Investieren Rekordsumme in die Zukunft“

„Aber wahr ist zugleich: Wir investieren auch im kommenden Jahr eine Rekordsumme in unsere Zukunft. Und unterm Strich entlasten wir auch weiterhin all diejenigen, die jeden Tag aufstehen und zur Arbeit gehen. Die unser Land am Laufen halten. Von morgen an zahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland 15 Milliarden Euro weniger an Steuern. Eine vierköpfige Familie mit einem normalen Einkommen hat dadurch im nächsten Jahr mehr als 500 Euro zusätzlich zur Verfügung. Zusammen mit der Steuersenkung in diesem Jahr macht das über 1.600 Euro mehr. Dazu kommen das höhere Kindergeld, das Wohngeld und nicht zuletzt die Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung für all diejenigen, die wenig verdienen: Die Pakete ausfahren oder Supermarktregale einräumen. Die vorher ihre Kinder zur Schule bringen und nach der Arbeit noch den Haushalt schmeißen. Über sie liest man nicht jeden Tag in der Zeitung. Aber mir ist es wichtig, dass ihre Leistung gesehen und anerkannt wird.“

Immerhin geht der Kanzler explizit auf jene ein, die die ganze Party überhaupt erst ermöglichen: Arbeitnehmer und (hoffentlich sind sie mitgemeint) Unternehmer. Dass Familien von Arbeitern und Angestellten künftig mehr Geld im Portemonnaie haben, dürfte sich nicht grundsätzlich realisieren – allein schon wegen der im nächsten Jahr steigenden Energiepreise (was wiederum mit dem „weitreichenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts“ zu tun hat). Gut jedenfalls, dass Scholz die Leistungsträger ausdrücklich erwähnt und würdigt.

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!“

Schon wieder nicht gegendert!

„Auch in Zeiten wie diesen gibt es Dinge, auf die wir uns verlassen können. Die uns stark machen: Wir haben Freunde – in Europa und rund um den Globus. Partner, mit denen ich mich Tag für Tag darüber abstimme, wie wir unsere Sicherheit in Deutschland und Europa gewährleisten. Stark macht uns die Europäische Union. Wenn die EU geschlossen auftritt, dann handelt sie für mehr als 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger. In einer Welt mit acht, künftig sogar mit zehn Milliarden Menschen ist das ein echtes Pfund. Darum ist es so wichtig, dass Europa geeint und gestärkt aus der Europawahl im kommenden Jahr hervorgeht.“

Nein, „wir“ haben keine „Freunde“, sondern allenfalls Verbündete. Sollte der Kanzler die „deutsch-französische Freundschaft“, jenen viel beschworenen Motor der EU gemeint haben, dann ist es ausgerechnet darum so schlecht bestellt wie seit Jahrzehnten nicht. Auch der Satz mit der Europawahl ist mehr vom Wunsch als von der Wirklichkeit geprägt; Anfang Juni steht ein Durchmarsch von rechtspopulistischen und europaskeptischen Parteien zu befürchten.

„Denn Russlands Krieg im Osten unseres Kontinents ist ja nicht vorbei! Die kriegerische Auseinandersetzung im Nahen Osten auch nicht. Und in den USA stehen im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen an, möglicherweise mit weitreichenden Konsequenzen – auch für uns hier in Europa.“

Gemeint ist der mögliche Wahlsieg von Donald Trump. Was das für Deutschland und Europa zu bedeuten hätte, deutet Scholz nicht an. Vielleicht auch besser so, es könnte die Menschen nämlich beunruhigen. Die „Zeitenwende“ würde an Dramatik gewinnen, insbesondere in Sachen Militär und Geopolitik.

„Kurz vor Weihnachten haben wir uns in der Europäischen Union nach sieben Jahren des Stillstands auf eine tiefgreifende Reform des Europäischen Asylsystems geeinigt. Künftig können wir die Außengrenzen Europas besser kontrollieren. Und auch an den Grenzen zu unseren Nachbarländern hat die Bundespolizei ihre Kontrollen verstärkt. Das wirkt. Schon in den vergangenen Wochen ist die Zahl derer, die über diese Grenzen kommen, spürbar gesunken.“

Was die Reform tatsächlich bringt, wird sich zeigen. Fakt ist, dass der grüne Koalitionspartner (und Teile der SPD) diesen Weg nur sehr unwillig mitgegangen sind. Scholz hat sich in dieser Frage aber durchgesetzt. Sein Hinweis auf die Grenzkontrollen zu deutschen Nachbarländern ist eine Spitze gegen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die solche Maßnahmen ursprünglich vehement abgelehnt hatte – und zwar auch mit dem Argument, diese würden nichts bringen. Der Bundeskanzler behauptet ganz explizit (und zurecht) das Gegenteil. Basta.

Lob der DDR-Revolutionäre

„Stark macht uns auch unsere Demokratie. Es ist noch gar nicht allzu lange her, da haben mutige Frauen und Männer auch hier in Deutschland für freie Wahlen gekämpft. Vor 35 Jahren war das, als in der DDR die friedliche Revolution begann. Mitzureden und mitzuentscheiden – das ist ein kostbares Gut. Diskussionen über den richtigen Weg gehören dazu. Das Ringen um faire Kompromisse ebenfalls – auch wenn ich auf manch laute Debatte in den vergangenen Wochen und Monaten durchaus hätte verzichten können.“

Scholz würdigt die einstigen Freiheitskämpfer der DDR, und das ist gut so. Es dürfte auch mit den bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zu tun. Aber auf welche „laute Debatte in den vergangenen Wochen und Monaten“ hätte Scholz verzichten mögen? Wahrscheinlich ist der von den Grünen angezettelte Heizungsstreit gemeint. Dieser wäre in der Tat vermeidbar gewesen. Ebenso wie die von Scholz selbst verursachte Debatte wegen des Haushalts.

„Zur Wahrheit gehört aber auch: Ganz ohne Diskussionen über den richtigen Weg funktioniert Demokratie nicht. Nichts wird besser, wenn wir nur übereinander reden, anstatt miteinander. Stark macht uns unsere Bereitschaft zum Kompromiss. Unser Einsatz füreinander. So wie in vielen Teilen Deutschlands, die in diesen Tagen unter dem schrecklichen Hochwasser und seinen Folgen leiden. Ich denke an alle Betroffenen, denen wir selbstverständlich helfen und die wir in diesen schweren Stunden nicht alleine lassen. Und ich danke all den Frauen und Männern von der Feuerwehr und Bundeswehr, vom THW, den Rettungsdiensten, und den vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern, die mit ganzer Kraft gegen das Hochwasser kämpfen. Herzlichen Dank an Sie alle für Ihren Einsatz!“

Oder wie der Kanzler bei anderer Gelegenheit gern sagt: „You’ll never walk alone!“

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,“

Er scheint wirklich aus Prinzip nicht zu gendern!

„uns macht auch die Einsicht stark, dass jede und jeder gebraucht wird in unserem Land – die Spitzen-Forscherin genauso wie der Altenpfleger, die Polizistin genauso wie der Paketbote, die Rentnerin genauso wie der junge Auszubildende. Wenn wir uns das klarmachen, wenn wir uns gegenseitig mit diesem Respekt begegnen, dann brauchen wir keine Angst zu haben vor der Zukunft! Dann kann das Jahr 2024 ein gutes Jahr werden für unser Land. Auch wenn manches anders kommt, als wir uns das heute, am Vorabend dieses neuen Jahres, vorstellen. Ihnen und Ihren Liebsten wünsche ich von ganzem Herzen ein gesundes, ein friedvolles, ein frohes Neues Jahr!“

Die große Umarmung zum Schluss. Der Kanzler geht versöhnlich ins neue Jahr und macht Hoffnung für die Zukunft – wenn auch inhaltlich auf eine sehr diffuse Art und Weise. Und er nimmt seine alte Wahlkampfschlager-Vokabel „Respekt“ noch einmal auf. Dass alles auch anders kommen könnte, weiß wohl keiner besser als Olaf Scholz selbst. Wir erwidern an dieser Stelle jedenfalls die guten Wünsche.

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