Letzte Generation - Klebrige Wahrheit

Aktivisten der „Letzten Generation“ haben heute versucht, mit Presslufthämmern die Straße vor dem Bundesverkehrsministerium zu beschädigen. Hinter der „Letzten Generation“ steht inzwischen eine schnurrende Guerilla-Organisation, die mit Kaderschulung und Gefängnistraining auf die Veränderung der Machtverhältnisse hinarbeitet. Dabei ticken die Klimaretter sektenähnlich.

Nach dem Protest-Training: Aktivisten der „Letzten Generation“ kleben sich auf die Straßenkreuzung am Halleschen Tor in Berlin / Fotos: Anja Lehmann
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Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Robert Horvath hat Biochemie und Kommunikations-wissenschaften studiert. Derzeit absolviert er ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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Die Rettung der Welt beginnt mit einem Rollenspiel: Straßenkampf für Anfänger. In einem leerstehenden Ladenlokal in Berlin-Mitte stehen die rund 20 Freiwilligen aufgeteilt in zwei entgegengesetzten Ecken des langen Raumes. Gleich einer Sportmannschaft umringen die beiden Gruppen ihren Trainer, der Instruktionen gibt. Für die Blockierer heißt die Anweisung: standhaft bleiben, Plakat halten, reden lassen und in Blockadehaltung gehen. Für die „Autofahrer“ gilt folgendes Szenario: „Stellt euch vor, eure Eltern, Kinder, Großeltern oder Freunde liegen im Krankenhaus im Sterben. Und ihr wollt die noch ein letztes Mal sehen, bevor es zu spät ist. Und jetzt ist die Straße blockiert.“ Es ist die härteste Runde. 

Es wird geschrien, gebrüllt, geschlagen – doch keiner steht auf. Es ist lauter als in der Übung zuvor, aggressiver. Man merkt den Blockierern den im Spiel erzeugten Stress deutlich an. „Ihr dürft niemanden durchlassen“, sagt der Trainer. Und die Worte zeigen Wirkung. Niemand gibt, trotz hoher körperlicher und emotionaler Belastung, während der Simulation nach. Das ist der Sinn der Übung: Die angehenden Weltenretter sollen lernen, als Blockierer alles stoisch zu ertragen. Sie sollen abgehärtet werden. Wer weggetragen wurde, kehrt wieder an seinen Platz zurück. Zur Entspannung gibt es dann zum Schluss noch eine Meditationsübung mit Badewanne. 

Ausbildung zum Straftäter

Die Aktivisten der „Letzten Generation“ wurden vor Wochen noch als randständiges Grüppchen der Klimabewegung abgetan, inzwischen präsentieren sie sich als perfekt organisierte und finanziell gut gerüstete Guerillatruppe mit verdeckten Strukturen, erstklassiger Medienarbeit und auf den Straßen effektiver Kampagnenführung – inklusive natürlich einer Kaderschulung zur Vorbereitung der neuen Truppenteile. Straßen werden blockiert, Museen gestürmt und Kunstwerke verdreckt, weder der Berliner Flughafen noch der Münchner Stachus sind vor den Stoßtrupps sicher. 

In Workshops wird dabei nicht nur das Blockieren gelehrt, auch das richtige Verhalten bei Festnahmen und Inhaftierungen will gelernt sein. Zu den „Trainings“ kann jeder kommen, es wird öffentlich auf der Website eingeladen. Trainer Raúl gibt eine juristische Einführung: „Ich will es nicht kleinreden. Es sind Straftaten, die wir begehen. Rechtliche Konsequenzen können bei einer Aktion nie ausgeschlossen werden, und ihr begebt euch immer in ein Risiko“, sagt er. 

Es ist schon fast zu einem Ritual geworden: Die Polizei trägt die Aktivisten von der Straße

Wer nicht gleich zum Training will, kann bei der „Letzten Generation“ auch niederschwelliger einsteigen. Regelmäßig gibt es sogenannte Kontaktforen mit Vorträgen zu ihrer Arbeit. „Wir haben keine Zeit mehr“, sagt Tim, der als Referent bei Einführungsvorträgen auftritt. Nach dem Referat über die drohende Klimakatastrophe und die Ziele der Aktivisten folgt eine Diskussion, Tim ist 26 Jahre alt und nach eigenen Angaben „in Vollzeit bei der LG beschäftigt“, nachdem er seinen Job als „Politikberater“ gekündigt habe. Dadurch habe er „einen Sinn und einen Weg gefunden, für meine Liebsten, aber auch für alle Menschen, die ich nicht kenne“.

Einstudiertes Spiel 

Der erste Teil des Vortrags bewegt sich in den üblichen apokalyptischen Prophezeiungen, die laut der „Letzten Generation“ von „der Wissenschaft“ getragen würden. Es geht um „Todeszonen“, die in spätestens 50 Jahren große Teile der Erde unbewohnbar machen würden, wenn die globale Erwärmung auf zwei oder mehr Grad steigen würde. Überflutungen wie in Pakistan und im Ahrtal und anhaltende Dürreperioden in vielen Regionen sowie immer mehr Waldbrände seien deutliche Vorboten. Es gehe um Ernteausfälle, um Trinkwasserknappheit, um Völkerwanderungen und Kriege, die dann um Ressourcen geführt würden.

Zeitlich wesentlich näher lägen die sogenannten „Kipppunkte“, bei deren Erreichen der spätere Untergang nicht mehr zu verhindern wäre. Unter Berufung auf „die Wissenschaft“ würden diese in rund drei Jahren erreicht werden, wenn nicht radikal umgesteuert werde. Politische Kompromisse könne es angesichts dieser Dramatik nicht mehr geben, und jegliche Hoffnung auf technologische Innovationen für den Umgang mit der Klimakrise sei trügerisch. Die Mitarbeit an konstruktiven Lösungen und das Warten auf politische Mehrheiten machten keinen Sinn mehr.

Nach erfolgtem Training laufen die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ für alle Beteiligten inzwischen wie ein gut eingespieltes Ritual ab. Um 8.45 Uhr nutzten sieben mit orangenen Warnwesten und Plakaten ausgestattete Frauen und Männer im Alter von 20 bis 63 Jahren eine Rotphase an der sehr belebten Kreuzung Hallesches Ufer/Wilhelmstraße in Berlin-Kreuzberg, um den Verkehr zu stoppen. Schnell entstand ein imposanter Stau. 

Tempolimit und 9-Euro-Ticket retten die Welt

Einige Autofahrer ergreifen noch die Gelegenheit und umfahren die Blockade über den Bürgersteig, doch durch die nachrückenden Busse war dieses Schlupfloch bald geschlossen. Fünf der sieben Aktivisten ließen sich schließlich auf der Straße nieder und begannen, sich mit dem mitgebrachten Kleber auf der Fahrbahn anzukleben.

Wütende Hupkonzerte verebbten schnell, und befragte betroffene Autofahrer reagierten von wenigen Ausnahmen abgesehen eher fatalistisch-genervt als wütend-aggressiv. Es dauerte gut 20 Minuten, bis die ersten Polizeiwagen eintrafen. Alles Routine inzwischen. Nachdem die Blockierer der Aufforderung des Einsatzleiters nicht nachgekommen waren, wurden Warnungen ausgesprochen. Schließlich wurden die angeklebten Hände der Blockierer mittels handelsüblichem Speiseöl von der Straße gelöst, und die Aktivisten ließen sich widerstandslos wegtragen. Es folgten eine kurze Fixierung mit Handfesseln und die Überprüfung der Personalien. Ein Polizist steckte einem Blockierer noch ein auf der Straße zurückgelassenes Protestplakat in den Rucksack. Dann war der Spuk auch schon fast zu Ende.

Die Aktivisten werden vor den Einsätzen auch im
Umgang mit der Polizei geschult. Motto: Nie aufstehen

„Wir müssen einen Tsunami aufhalten“, sagt der Referent. „Eine Kettenreaktion“ solle die Regierenden zwingen, sofort umzusteuern. Im Vergleich zu diesem universellen Anspruch auf eine radikale Wende in der Klimapolitik nehmen sich die „realpolitischen“ Forderungen eher bescheiden aus: die Einführung eines Neun-Euro-Tickets und ein Tempolimit auf Autobahnen. Ein Sprecher der Gruppierung begründet dies auf Cicero-Nachfrage mit dem Hinweis, man brauche „eingängige“ und „knackige Forderungen“, um in der Öffentlichkeit Wirkung zu erzielen. Wer bei der „Letzten Generation“ mitmachen will, kann einen Fragebogen ausfüllen. In dem wird unter anderem abgefragt, ob man bereit ist, Festnahmen sowie Geld- und Gefängnisstrafen für die Teilnahme an strafrechtlich relevanten Aktionen in Kauf zu nehmen. Oder ob man sich – zumindest am Anfang – auf legale Unterstützung beschränken will. 

Was ist die Letzte Generation überhaupt?

Das A und O ist die Akzeptanz des von der „Letzten Generation“ formulierten „Aktions- und Wertekonsenses“, der auch im Internet veröffentlicht wurde. Oberstes Prinzip ist die – auch verbale – Gewaltfreiheit. Allerdings wird auch unmissverständlich klargestellt, dass man sich nicht an einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess beteiligen will, sondern die Unantastbarkeit und Unhinterfragbarkeit der eigenen Dogmen in den Mittelpunkt stellt: „Wir wollen eine nachhaltige Veränderung erwirken, indem wir entschlossen zivilen Widerstand leisten und die rechtlichen Konsequenzen in Kauf nehmen“, heißt es darin. „Massenhafte Inhaftierungen über Wochen bis Monate“ eingeschlossen. Doch der über den Klimaschutz hinausgehende Ansatz ist kaum versteckt. Es geht um die „notwendige Störung“, um „die bestehenden Machtverhältnisse zu verändern“.

Aber was ist die „Letzte Generation“ überhaupt? Die Gruppe hat keinerlei Rechtsform, etwa als Verein, und es gibt auch keine Gremien mit gewählten Vertretern. Im „Wertekonsens“ erfährt man dazu wenig. Auch Sprecher Theo Schnarr, der als Doktorand an der Universität Greifswald an seiner Promotion als Biochemiker arbeitet, bleibt gegenüber Cicero vage. Es seien „größtenteils informelle Strukturen“. Den Kern bilde ein „Strategie-Team“, erläutert er, eine Gruppe von Menschen, die sich tief in die Theorien von zivilem Ungehorsam und Aktionsmechanismen eingearbeitet hätten. Wenn man effektiv sein wolle, könnten nicht „irgendwie 300 Menschen gemeinsam entscheiden“, weiß Schnarr.

 

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Auch bei der Frage nach der Finanzierung gibt es wenig Konkretes. „Wir bekommen sehr viele Spenden, das wird auch beständig mehr“, sagt Schnarr. Ein Teil komme auch aus dem Climate Emergency Fund, einer kalifornischen Stiftung. „Aber Genaueres kann ich dazu nicht sagen.“ Diese Stiftung speist sich hauptsächlich aus dem Erbe von Aileen Getty, einer von mehreren Erbinnen des Milliardenvermögens, das die Familie mit dem 1942 gegründeten Unternehmen Getty Oil angehäuft hat.

Juristische Vertretung von Gregor Gysi

Die zunehmende Eskalation der Proteste, wie etwa durch die stundenweise Lahmlegung des Hauptstadtflughafens, sieht Schnarr als unverzichtbaren Bestandteil der eigenen Strategie. „Das ist eben genau die Spannung, die wir erzeugen wollen.“ Auch die Aktionen in Museen und Konzertsälen gehören für Schnarr zu dieser Strategie. Solche Auftritte seien „Kunstaktionen in sich selbst“. Eine Aufgabe von Kunst sei es ja, unangenehme Fragen zu stellen. „Es sind eigentlich Aktionen, die aus Liebe zur Kunst entstanden sind“, erklärt der Sprecher. 

Die Gefahr, dass derartige Maßnahmen im Sinne der Anliegen der Gruppe eher kontraproduktiv sein könnten, sieht Schnarr nicht. Auch mit einer weiteren Radikalisierung in Richtung etwa explizit terroristischer Aktionsformen rechnet er nicht. „Ich habe den Eindruck erlangt, dass viele Menschen, die da anders als wir denken, uns sowieso zu lasch finden.“ Die „Letzte Generation“ stehe für ein „Wertefundament, dass es eben friedlich und mit der Hoffnung auf Liebe passiert“. Doch Schnarr relativiert dann seine Lesart noch: „Natürlich kann es Menschen – auch in unserem Umfeld – geben, die andere Wege für effektiver erachten. Darauf habe ich aber keinen Einfluss.“

Im linken und linksliberalen Lager wird angesichts der Gefahren durch den Klimawandel durchaus auch schon Verständnis für die „Letzte Generation“ artikuliert. Stellvertretend dafür steht der 74-jährige prominente Linkspolitiker und Jurist Gregor Gysi, der die Verteidigung von einigen Aktivisten übernommen hat. „Es wäre mit Sicherheit richtiger, robust und massiv gegen jene vorzugehen, die unsere Lebensgrundlagen für ihre eigenen Gewinne zerstören, statt Klimaschützer einzusperren“, so Gysis Statement bei einem Prozess, in dem ein 30-jähriger Angeklagter wegen Nötigung und Hausfriedensbruch zu einer Geldstrafe von 1350 Euro verurteilt wurde.

Unterstützung allerorten

Auch aus dem Kulturbetrieb, der ebenfalls von Aktionen betroffen ist, gibt es verhaltene Zustimmung. Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlung Dresden, sagte dem MDR: „Grundsätzlich haben wir da Verständnis für und wir sehen das Thema ganz oben in der Dringlichkeit.“ Schließlich sei der Angriff auf ein Kunstwerk, wenn es nur der Rahmen ist, „auch eine symbolische Form“. Einen von einigen Schauspielern des Bonner Stadttheaters verfassten Solidaritätsaufruf mit der „Letzten Generation“ haben bis Anfang Dezember über 1200 Kulturschaffende unterzeichnet. Darunter der Intendant der Schaubühne Berlin, Thomas Ostermeier, der Kabarettist Rainald Grebe und Kathrin Röggla, Vizepräsidentin der Akademie der Künste.

Verständnis äußerten auch führende Kirchenvertreter. Georg Bätzing, Limburger Bischof und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, erklärte in einer Predigt: „Man kann zu diesen Leuten und ihren Aktionen stehen, wie man will, aber irgendwie wurden sie aus der Lethargie geweckt, die noch viel zu viele von uns entspannt in die Zukunft blicken lässt.“ Das Lebensgefühl dieser Aktivisten ähnele dem der frühen Christen in der Urkirche, die sich als letzte Generation vor dem Anbruch des Reiches Gottes verstanden hätten, so Bätzing.

In Justizkreisen ist die Bewertung der „Letzten Generation“ keineswegs einheitlich. So wurde im November ein Freiburger Klimaaktivist freigesprochen, der sich an der Blockade einer viel befahrenen Bundesstraße und weiteren Aktionen beteiligt hatte. Das Gericht kam nach mündlicher Verhandlung zu dem Schluss, angesichts des Klimanotfalls, in dem sich Deutschland objektiv betrachtet befinde, sei die Aktion nicht als verwerflich im Sinne des Strafgesetzes anzusehen.

Die absurde „Klima-RAF“

Auf der anderen Seite mehren sich Forderungen nach härteren Strafen und einem konsequenteren Vorgehen. Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) sprach sich dafür aus, den Verdacht der Gründung einer kriminellen Vereinigung zu prüfen. „Aus meiner Sicht spricht vieles dafür. Sie sind organisiert, haben entsprechende Trainingsplätze und verabreden sich zu kriminellen Aktionen“, so Stübgen am Rande einer Innenministerkonferenz. Der CSU-Landesgruppenchef und Ex-Verkehrsminister Alexander Dobrindt bewertet die „Letzte Generation“ sogar als in der Entstehung befindliche „Klima-RAF“: „Wer mit dem Begriff ein Problem hat, will der Realität nicht ins Auge schauen.“ Dabei stützt sich Dobrindt auf die Journalistin Bettina Röhl, Tochter der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, welche die „Letzte Generation“ „auf der Ziellinie der RAF“ sehe.

Eine Einschätzung, die Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, zurückweist. Er halte die Klimaaktivisten nicht für extremistisch, und sie stellten die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht infrage, sagte Haldenwang am 17. November in einer Gesprächsrunde des SWR. Die „Letzte Generation“ sage im Grunde: „He, Regierung, ihr habt so lange geschlafen, ihr müsst jetzt endlich mal was tun (…). Also, anders kann man eigentlich gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System eigentlich respektiert, wenn man die Funktionsträger zum Handeln auffordert“, so Haldenwang weiter.

Das stieß erwartungsgemäß auf heftigen Widerspruch. „Einen ‚besonderen Respekt‘ für unser demokratisches System kann ich hier beim besten Willen nicht erkennen“, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Das seien keine „Klimaaktivisten“, sondern „Straftäter, die sich nicht um Recht und Gesetz scheren“.

Das Gebaren der „Letzten Generation“ erinnert dabei stark an Weltuntergangssekten. Man sieht sich als eine Art „erweckte“ Elite, die im Gegensatz zu den politischen Entscheidungsträgern scheinbar erkannt hat, dass nur noch radikales, kompromissloses und vor allem schnelles Handeln den Untergang der Menschheit aufhalten könnte. Dem geltenden bürgerlichen Recht und den Regeln der parlamentarischen Demokratie wird eine Art höherrangiges Naturrecht entgegengesetzt. Wesenskern ist der unerschütterliche Glaube an die eigene Unfehlbarkeit und moralische Überlegenheit. In ihrer Twitter-Selbstdarstellung zeigen die Aktivisten stolz ihr avantgardistisches Selbstbild: „Wir sind die Letzte Generation, die den völligen Klimakollaps noch aufhalten kann!“

Die Ersatzreligion

Dieser Habitus bereitet Michael Utsch große Sorgen. Der Theologe und Psychologe arbeitet als Referent der Evangelischen Zentralstelle für Welt­anschauungsfragen und als niedergelassener Psychotherapeut. Utsch warnt im Gespräch mit Cicero eindringlich vor dem Sektencharakter der Gruppierung. Bereits der Name „Letzte Generation“ bediene sich „drastischer religiöser Sprachbilder“, der Wesenskern der Gruppe sei das ständige Schüren „kollektiver Endzeitängste“. Dies sei ein klassisches Merkmal vieler Sekten.

Der zentrale Glaubensgrundsatz der Gruppe laute, dass unser Planet schon in wenigen Jahrzehnten nicht mehr bewohnbar sei und die Menschheit folglich aussterben würden. Angesichts des nahenden Weltuntergangs gehe es den Aktivisten somit nicht allein um die Korrektur eines politischen Kurses, sondern um nichts Geringeres als die Rettung der ganzen Population. Die „Letzte Generation“ sei überzeugt, dass nur sie über eine „höhere Wahrheit“ und ein „rettendes Konzept“ für die Menschheit verfüge, so Utsch. Einen „exklusiven Erkenntnisanspruch“ nennen das die Sozialwissenschaftler. 

Mit Sabotageaktionen an Flughäfen und Hauptverkehrsadern wollen die Aktivisten der Mehrheitsgesellschaft den radikalen Verzicht regelrecht aufzwingen. Also jener Gesellschaft, die in den Augen der Aktivisten durch ihren Konsumismus abgrundtief dekadent und verdorben ist.Für Utsch ist die „Letzte Generation“ Ausdruck einer „orientierungslos gewordenen Jugend“. Die großen Erzählungen, die den Menschen in der Vergangenheit noch als Kompass für ein erfüllendes Leben dienten, seien für junge Menschen längst zu Relikten aus Großmutters verstaubtem Fotoalbum geworden. Auch der massive Bedeutungsverlust der Kirchen hinterlasse ein „tiefes Sinnvakuum“. Ein Vakuum, das weder die Like-Anzahl auf Instagram noch der Bestellbutton auf Amazon füllen kann. Sekten besetzten laut Utsch diese Lücke in unserer Gesellschaft und böten ihren Mitgliedern eine „bedeutungsvolle Mission“, die über den Niederungen des Alltags schwebe. Die „Letzte Generation“ werde für die Aktivisten so zu einer Ersatzreligion. Sie verspreche eine verführerische Einteilung der immer komplexer werdenden Welt in Gut und Böse, Planetenretter und Klimasünder.

Badewanne statt Straßenkreuzung

Eine weitere Radikalisierung der „Letzten Generation“ hält Utsch allerdings für unwahrscheinlich. Es fehle der Klimagruppe hierfür ein charismatischer Anführer, der die Aktivisten mitreißen und zusammenhalten könne, eine „Guru-Persönlichkeit“. Das schwäche die Durchschlagskraft erheblich. Als historisches Beispiel nennt Utsch den amerikanischen Autor und Sektenführer L. Ron Hubbard, der 1954 die religiöse Organisation Scientology gründete.

Selbstkritisch gesteht Utsch ein, dass er die Radikalität der „Letzten Generation“ anfangs unterschätzt habe. Welchen Kurs die Klima­gruppe in der Zukunft einschlagen werde, würden die nächsten Monate zeigen, so der Psychologe.

Zum Abschluss des Aktionstrainings bietet Raúl noch eine Entspannungsübung für die angehenden Klimakleber an. „Atme Negativität und Angst aus“, sagt der Protestlehrer. „Und atme Positivität und Freude ein.“ Bald liegen sie auf der Straße, festgeklebt, wütende Autofahrer vor ihnen. Es ist kalt. „Stell dir vor, du liegst in einer warmen, duftenden Badewanne. Leute schreien dich an, aber du bist ruhig, weil du weißt, du tust das Richtige.“ 
 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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