Kultusministerkonferenz will Abitur reformieren - Landschildkröte mit „Trippelschrittchen“

Die Kultusministerkonferenz hat eine Angleichung struktureller Rahmenbedingungen für die gymnasiale Oberstufe beschlossen. Tatsächlich bestehen aber noch so viele Stellschrauben, die Einfluss auf Niveau und Vergleichbarkeit des Abiturs haben, dass man das System komplett neu und zentralistisch aufbauen müsste.

Berlins sozialdemokratische Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (rechts) und Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Schon der erste Satz einer Pressemitteilung der Kultusministerkonferenz (KMK) dieser Tage hat es in sich. Aber das fällt den Zuständigen schon gar nicht mehr auf. So selbstverständlich finden sie es inzwischen, dass es mit der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland nicht funktioniert. Der Satz lautet: „Die Kultusministerkonferenz hat eine weitere Angleichung struktureller Rahmenbedingungen für die gymnasiale Oberstufe beschlossen.“ Das war in der letzten Woche.

Was wohl ein Selbstlob sein sollte, ist letztlich das Eingeständnis des eigenen andauernden Scheiterns. Denn an der Vereinheitlichung des Abiturs werkelt das Gremium bereits seit sage und schreibe 75 Jahren. Und ist noch immer nicht am Ziel.

Mit den jüngsten Beschlüssen ändert sich die Lage nicht einmal sofort, sondern erst ab dem Jahr 2030. Und auch danach, also 85 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, wird es in Deutschland dann noch immer kein einheitliches und gerechtes Abitur geben.

Bildungspolitiker sind keine schnellen Entscheider

Es dauerte tatsächlich „nur“ sechs Jahre (!), bis die KMK auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 2017 reagierte. Schon damals kritisierten die höchsten deutschen Richter „die nicht in dem erforderlichen Maße gegebene länderübergreifende Vergleichbarkeit der Abiturdurchschnittsnoten“. Es hat eben seinen guten Grund, warum die Kultusministerkonferenz von ihren Kritikern gerne als „Landschildkröte“ verspottet wird. Bildungspolitiker gehören nicht zu den schnellsten Entscheidern.

Der SPD-Koordinator in der Kultusministerkonferenz, Ties Rabe (SPD), ist dennoch überzeugt: „So viel Einheitlichkeit bei den Abiturprüfungen und Abiturzeugnissen gab es wirklich noch nie zuvor.“ Das gelte „gerade im Vergleich zu anderen Bildungsabschlüssen“. Das Chaos bei Hauptschul- und Mittlerem Schulabschluss ist also noch viel größer als beim Abitur. Aber immerhin die Chefin des deutschen Philologenverbandes, Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, zeigte sich „erfreut“ über die zukünftig „höhere Vergleichbarkeit und Bildungsgerechtigkeit“.

Wie weit Deutschland auch im Jahre 2030 noch von einem gerechten und einheitlichen Abitur entfernt sein wird, wird deutlich, wenn man die Pläne mit dem Status quo vergleicht. Entscheidend ist dabei, was am Ende rauskommt: also der Abiturdurchschnitt.

Aushebelung durch die Hintertür

Und der ermittelt sich bis 2029 auf folgende Weise: Ein Drittel der Abschlussnote wird durch die Abiturprüfungen bestimmt, zwei Drittel ergeben sich aus den Noten der letzten beiden Schuljahre. Während für die Abschlussprüfungen einheitliche Bewertungsvorgaben existieren, ist das bei den letzten beiden Schuljahren nicht der Fall. Schon das verheißt nichts Gutes in Sachen Vergleichbarkeit.
 

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Zwar werkelt die Kultusministerkonferenz schon seit vielen Jahren an angeblich zentralen und dadurch einheitlichen Aufgaben für die Abiturprüfungen. Aber die Länder sind bisher nicht verpflichtet, sie auch wirklich einzusetzen. Und tun es häufig auch nicht. Trotz einheitlicher Bewertungsvorgaben von Einheitlichkeit also keine Spur.

Außerdem geht es in den Ländern auch bei der Anzahl der Prüfungen und den Prüfungsbedingungen wild durcheinander: in dem einen Land sind es vier Prüfungen, in dem anderen fünf. Selbst in den Kernfächern Mathe, Englisch und Deutsch können die Prüfungszeiten zwischen den Ländern dabei um 45 Minuten abweichen. Trotz angeblich einheitlicher Aufgaben! Bei den schriftlichen Abiturprüfungen außerhalb der Kernfächer sind es sogar bis zu 120 Minuten.

Freilich kommt das alles einer Aushebelung gleicher Bewertungsmaßstäbe durch die Hintertür gleich: Wer am selben Leistungsmaßstab gemessen wird, aber mehr Zeit für die Erledigung einer Aufgabe hat, wird in Wahrheit nicht am gleichen Maßstab gemessen.

„Deutschland bastelt sich den Super-Abidurchschnitt“

Bei den Noten aus den letzten beiden Schuljahren, die immerhin zwei Drittel des Abiturdurchschnitts ausmachen, sieht es nicht besser aus. Je nach Bundesland sind in dieser so genannten „Qualifikationsphase“ zwischen 34 bis 48 Kurse zu belegen, davon fließen dann je nach Land 32 bis 40 Schulhalbjahresergebnisse in das Endzeugnis ein. Dabei genießen die Schüler große Wahlfreiheit.

Im großzügigsten Falle ist nur in einem Drittel der Fälle fest vorgeschrieben, welche der Kursnoten in den Abidurchschnitt eingehen. Für die übrigen zwei Drittel gelten entweder gebundene oder völlig offene Wahlmöglichkeiten. Schon seit Jahrzehnten spielt Deutschland daher das Spiel „Deutschland bastelt sich den Super-Abidurchschnitt.“ Von Vergleichbarkeit kann nicht nur zwischen den Ländern nicht die Rede sein, sondern nicht einmal in einer Schule oder einer einzigen Klasse.

Manipulation des Abiturs

Und vom Niveau ganz zu schweigen: Bis zu 20 Prozent der eingebrachten Halbjahresnoten dürfen nämlich aus Vieren und Fünfen bestehen. Um anschaulich zu machen, was das bedeutet: Heute ist es bei geschickter Kombination möglich, in Mathe und Deutsch in den letzten vier Schulhalbjahren lauter Fünfen zu kassieren und in den Abschlussprüfungen lauter Sechsen. Und man kann trotzdem das Abitur bestehen und anschließend auf eine Universität gehen!

Und das sind ja noch längst nicht alle Möglichkeiten zur Manipulation des Abiturs. Es gibt in den Ländern unterschiedliche Regelungen zur Klassenwiederholung, zu den Einbringungspflichten von Noten, zur Versetzung, zu den Stundentafeln, zum Umfang der in der Qualifikationsphase zu schreibenden Klausuren, zur Anzahl der zu belegenden Leistungskurse, zur Frage, welche Hilfsmittel in der Prüfung verwendet werden dürfen, ob man sein mündliches Prüfungsthema selbst wählen darf oder nicht – und, und, und…

Das Chaos immerhin etwas vermindert

Es bestehen so viele Stellschrauben, die Einfluss auf Niveau und Vergleichbarkeit des Abiturs haben, dass man das System komplett neu und zentralistisch aufbauen müsste, um tatsächlich etwas Grundsätzliches zu ändern.

So weit allerdings sind die Kultusminister auf ihrer letzten Fachkonferenz nicht gegangen. Ohne Zweifel: Sie haben das Chaos etwas vermindert. Aber es bleibt auch in Zukunft so groß, dass das Abitur weder Gerechtigkeit durch Vergleichbarkeit noch Niveau garantieren kann. Die wichtigsten Änderungen, auf die die Kultusminister jetzt so stolz sind, lauten:

  • Die Zahl der zu belegenden Leistungskurse sinkt von zwei bis vier auf zwei bis drei. Es bleibt also ein Unterschied von bis zu 50 Prozent bestehen. Werden drei Leistungskurse belegt, werden diese nur mit je vier Wochenstunden unterrichtet. Sind es zwei, müssen wöchentlich fünf Stunden absolviert werden. Das Problem: Ab 2023 sollen angeblich 50 Prozent der schriftlichen Prüfungsaufgaben in Fächern wie Mathe einem zentralen Aufgabenpool entnommen werden und daher deutschlandweit vergleichbar sein. Aber nicht einmal das wird der Fall sein. Denn: Wie sollen zwei Schüler in Mathematik dasselbe Niveau erreichen, obwohl der eine in der Qualifikationsphase 336 Mathestunden erhalten hat und der andere 420? Der Unterschied beträgt immerhin 25 Prozent.
  • Es werden Vorgaben für die Zahl der in der Qualifikationsphase halbjährlich zu schreibenden Klausuren gemacht. Eine oder zwei sollen es sein. Anders gesagt: Die Länder können im Umfang von 100 Prozent voneinander abweichen. Das allerdings ist keine Verschärfung, sondern schreibt nur jenes Chaos ausdrücklich fest, das heute sowieso schon in den Ländern herrscht.
  • Im Falle von zwei Klausuren pro Halbjahr bestimmen diese künftig zu 50 Prozent die Halbjahresnote. Aber die KMK wäre nicht die KMK, wenn es nicht auch hier ein Hintertürchen gäbe. Dies alles soll nämlich nur „in der Regel“ gelten.
  • Künftig sind „im Regelfall“ mindestens 40 Kurse zu belegen und exakt 36 von ihnen in das Endzeugnis einzubringen. Was wie eine drastische Vereinheitlichung aussieht, ist keine. So können hinter jedem einzelnen Kurs in den Ländern höchst unterschiedliche Wochenstundenzahlen stehen und die Leistungen von Land zu Land verschieden benotet werden.  Einheitliche Notenskala für ganz Deutschland? Soweit ich sehe: weiterhin Fehlanzeige! Vom inhaltlichen und Niveauunterschied des Unterrichts in den Ländern ganz zu schweigen. Bundesweit einheitliche Rahmenpläne in den Fächern gibt es nicht und sind auch nicht geplant.

Hauptprobleme bleiben trotz Reformen

Und freilich bleiben ganz viele, sehr entscheidende Dinge einfach unverändert: Die Zahl der Abiturprüfungen kann zum Beispiel weiterhin zwischen vier oder fünf variieren. Das entspricht einem Unterschied von 25 Prozent. Und am wichtigsten für eine möglichst große Zahl an Abiturienten: Auch in Zukunft haben durch geschickte Planung und Manipulation mathematische und germanistische Vollnieten eine Chance auf ihr Abitur und den Besuch einer Universität, um dort dann gnadenlos zu scheitern.

Der pensionierte Mathematik-Lehrer Günter Germann aus Halle hatte einmal ausgerechnet, wie groß das deutsche Abitur-Chaos heute ist. Dazu konstruierte er einen „Musterschüler“ mit einer bestimmten Fächerbelegung und Noten und untersuchte, welcher Abiturdurchschnitt sich in den Ländern daraus ergibt. Das Ergebnis: In Hamburg und Berlin hätte er mit 2,2 abgeschlossen, in Sachsen mit 2,7 – und in Bayern wäre er nicht einmal zur Prüfung zugelassen worden. Besser kann man die systematische Ungerechtigkeit gar nicht deutlich machen. Und trotz der nun angedachten Reformen wird sich hieran so gut wie gar nichts ändern.

Mit Trippelschritten auf der Rennstrecke

Der Vorgänger im Amt von Lin-Klitzing und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, ist daher auch nicht ganz so euphorisch. Für ihn sind die geplanten Reformen alles bloß „Trippelschrittchen“. Der erfahrene Gymnasiallehrer weiß wohl besser als andere, wovon er spricht und wie groß Chaos und Ungerechtigkeit im System sind und auch bleiben werden.

In einem 100-Meter-Rennen hat die alte Landschildkröte in der Vergangenheit pro Jahrzehnt etwa einen Meter zurückgelegt, in diesem Jahrzehnt werden es ganze zwei sein. Eine famose Steigerung um 100 Prozent. Das Problem bleibt nur: Nicht einmal zehn Meter der Rennstrecke sind bisher absolviert.

Lesen Sie passend dazu die Cicero-Titelstory im Dezember 2022: Im großen Schulranking aller Bundesländer zeigen Mathias Brodkorb und Katja Koch, wer vorn und wer hinten liegt und wie weit der bundesweite Bildungsnotstand fortgeschritten ist.

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