Innerparteiliche Kritik an Merz - Die Sozialdemokratisierung der CDU schreitet fort

Unter Merkel hatte die CDU viele Positionen der SPD übernommen. Inzwischen übernimmt man auch die Streitkultur der Sozialdemokraten. Das zeigt, dass die inhaltlich entkernte CDU nicht zu sich findet.

Wer solche Stellvertreter hat, braucht keine Feinde: Karin Prien, Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, ging als eine der ersten auf Distanz zu Merz’ AfD-Äußerungen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

So erreichen Sie Hugo Müller-Vogg:

Anzeige

Das hat keine andere Partei geschafft und wird sich wohl auch nicht wiederholen: Zweimal hat die CDU/CSU 16 Jahre lang den Kanzler gestellt, erst Helmut Kohl (1982–1998), dann Angela Merkel (2005–2021). Das klappte deshalb, weil die CDU – anders als die Sozialdemokraten – sich durch zweierlei auszeichnete: Pragmatismus und Geschlossenheit.

Der Pragmatismus der CDU zeigte sich in erster Linie darin, dass man den Spitzenkandidaten aufstellte, der die besten Chancen hatte, ganz unabhängig von der Frage, wie er in den eigenen Reihen beurteilt wird. So hielt die CDU an Kohl wie an Merkel fest, auch wenn es innerparteilich mehr als einmal kriselte. 2002 hatte die CDU ganz nüchtern der eigenen Vorsitzenden die Kanzlerkandidatur verwehrt, weil der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber den Demoskopen zufolge gegenüber Kanzler Schröder die besseren Aussichten hatte. Stoiber wurde zwar nicht Kanzler, holte aber ein respektables Ergebnis.

Als die CDU 2021 erstmals von dem Prinzip, dem aussichtsreichsten Stimmenfänger zu vertrauen, abwich, ging es gründlich schief. Weil einige CDU-Granden dem CSU-Chef Markus Söder die Kanzlerkandidatur partout nicht gönnten, setzte man auf Armin Laschet. Das Ergebnis ist bekannt: das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten. Dass dazu auch die ständigen Querschüsse aus Bayern beitrugen, passte zum Bild einer nicht mehr geschlossenen Union.

„Friendly fire“ ist bisweilen heftiger als der Beschuss durch die politischen Gegner

Auseinandersetzungen zwischen der CDU und der bayerischen Schwester gab es in der Geschichte der Unionsparteien immer wieder. Zweimal sah es nach einer Trennung aus: 1976 wollte Franz-Josef Strauß die Fraktionsgemeinschaft aufkündigen, 2018 drohte die CDU/CSU-Fraktion wegen der Flüchtlingskrise zu zerbrechen. Doch letztlich raufte man sich wieder zusammen, weil in beiden Parteien diejenigen sich durchsetzen, die einen Bruderkrieg zwischen CDU und CSU um dieselben Wählerschichten für brandgefährlich hielten.

Ungeachtet häufiger Streitereien zwischen Bonn beziehungsweise Berlin und München: Im Vergleich zu den ständig in Richtungskämpfe verwickelten Sozialdemokraten erschien die Union unter dem Strich als Hort der Stabilität. Unionspolitiker spotteten gerne, die SPD wechsle ihren Vorsitzenden häufiger aus als ein abstiegsgefährdeter Fußballclub. In ihren 18 Jahren als Parteivorsitzende hatte Merkel es gleich mit acht (!) SPD-Vorsitzenden zu tun. Und mit fast jedem neuen Spitzengenossen ging es mit der Partei weiter bergab.

Das alles war einmal. Nach Merkels Abgang als Vorsitzende im Herbst 2018 hatte die CDU zwei Kurzzeit-Chefs: Annegret Kramp-Karrenbauer und Armin Laschet. Und der dritte Merkel-Nachfolger, Friedrich Merz, muss sich fühlen wie manch früherer SPD-Vorsitzender: „Friendly fire“ aus den eigenen Reihen ist bisweilen heftiger als der Beschuss durch die politischen Gegner.

Die Merkelianer konnten sich mit Merz nur schwer abfinden

Nun hatte es in der CDU schon früher Politiker gegeben, die erkannt hatten, dass sich mediale Aufmerksamkeit leichter erreichen lässt, wenn man die eigene Partei nicht lobt, sondern kritisiert. Diese Kunst der „parasitären Publizität“ beherrschte keiner so gut wie Ex-Generalsekretär Heiner Geißler. Die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth wusste sich ebenfalls auf diese Weise im Gespräch zu halten. Übrigens gehörte auch Merz nach seinem zeitweiligen Rückzug aus der Politik zu denen, die gerne von der Seitenlinie aus das eigene Team kritisierten.

Irgendwie scheint die Sozialdemokratisierung der CDU voranzuschreiten. Unter Merkel hatte die CDU viele Positionen der SPD übernommen: flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, Frauenquote, Mietpreisbremse oder die in Vollzeit berufstätige Mutter als Leitbild anstelle des „Heimchens am Herd“. Seit 2018 übernimmt die CDU von der SPD zunehmend das, was wohlwollende Beobachter als Streitkultur bezeichnen. Anders ausgedrückt: Auch in der CDU streitet man sich immer häufiger wie die Kesselflicker. Waren es früher eher „Ehemalige“, die wider den Stachel löckten, sind es heute oft führende CDU-Politiker.

Als Merz im Januar 2022 sich im dritten Anlauf als CDU-Vorsitzender durchgesetzt hatte, stand er an der Spitze einer keineswegs geeinten Partei. Die Merkelianer konnten sich nur schwer damit abfinden, dass die Parteibasis einen Vorsitzenden gewählt hatte, der die Partei nicht unbedingt so führen wollte, dass die Grünen und die ihnen nahestehenden Medien jubeln. Zugleich wusste Merz, dass er die Erwartungen seiner Anhänger, die eben keine grün imprägnierte, sozialdemokratisierte CDU wollen, nicht enttäuschen darf.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass die in der Ära Merkel inhaltlich entkernte, politisch beliebig gewordene CDU noch immer nicht zu sich gefunden hat. Die Merkelianer scheinen alles daran zu setzen, den ungeliebten Vorsitzenden Merz schon jetzt so zu beschädigen, dass er seine Ambitionen auf eine Kanzlerkandidatur selbst aufgibt. Anders lässt sich das Verhalten der CDU-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen) und Daniel Günther (Schleswig-Holstein) rund um den kleinen Parteitag im Juni nicht erklären. Beiden ging es bei ihren kritischen Einlassungen weniger um Inhalte als um den Parteichef.

Den Anlass für den jüngsten Aufruhr hat Merz selbst vor knapp einer Woche geliefert. Seine Äußerung, man werde auf kommunaler Ebene mit der AfD „gemeinsam gestalten“, passte nicht zu der von ihm selbst vehement vertretenen Position, mit dieser Partei dürfe es keinerlei Zusammenarbeit geben. Dieser Lapsus war durch viele Dementis kaum gutzumachen. Dasselbe galt für die zum Missverständnis einladende Formulierung, die Union sei „die Alternative für Deutschland – mit Substanz“.

Wann immer dem CDU-Vorsitzenden eine Kommunikationspanne unterläuft – und das geschieht häufiger, als man erwarten sollte –, sind es die eigenen Partei-Freunde“, die vor allem auf Twitter sofort loslegen. Dabei geht es ihnen nicht darum, den eigenen Vorsitzenden zu schützen, sondern ihn bloßzustellen. Auf den Spruch von der Alternative mit Substanz reagierte Karin Prien so: „CDU mit Substanz, sonst nix“. Prien ist nicht nur Günthers Kultusministerin in Schleswig-Holstein, sondern auch eine der Stellvertreterinnen von Merz an der CDU-Spitze. Wer solche Stellvertreter hat, braucht keine Feinde.

Man überbot sich geradezu in der Kritik am eigenen Parteivorsitzenden

Nach seinen umstrittenen Äußerungen zum Umgang mit der AfD in den Gemeinden und Kreisen bekam Merz den Gegenwind aus den eigenen Reihen sofort zu spüren. Man überbot sich geradezu in der Kritik am eigenen Parteivorsitzenden. Zu den ersten, die auf Distanz zu Merz gingen, gehörte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul. Man darf davon ausgehen, dass das seinem Regierungschef Wüst nicht unangenehm war.

Der Vorsitzende der Jungen Union, Johannes Winkel, klang leicht verzweifelt, als er das Drunter und Drüber so kommentierte: „Viele, die den Parteivorsitzenden öffentlich kritisieren, verstehen seine Äußerungen bewusst falsch.“ Wobei man fairerweise anfügen muss: Merz macht es denen, die ihn bewusst falsch verstehen wollen, manchmal auch sehr leicht. So nutzte der frühere saarländische Ministerpräsident Tobias Hans, seit seinem Wahldebakel im Frühjahr 2022 in Vergessenheit geraten, die Gunst der Stunde, um mit seiner Merz-Schelte mal wieder in die Schlagzeilen zu kommen. Mit ihm war die CDU an der Saar von 40,7 auf 28,5 Prozent abgestürzt. Gleichwohl fühlte Hans sich berufen, der Bundes-CDU zu erklären, wie es gehen sollte.

Pragmatismus und Geschlossenheit: Was die CDU einst auszeichnete, scheint in Vergessenheit zu geraten. Nach der inhaltlichen Sozialdemokratisierung hat die Partei nun auch die zweite Stufe erreicht: die methodische Sozialdemokratisierung. Dagegen wirkt die SPD seit dem Bundestagswahlkampf 2021 wie ein lammfrommer Kanzlerwahlverein. Jedenfalls haben die Genossen begriffen, dass ihre miserablen Wahlergebnisse zwischen 2005 und 2017 zu einem guten Teil hausgemacht waren. Nicht wenige in der CDU scheint dieses Beispiel aber nicht zu schrecken.

Anzeige