Grüne in den Landesregierungen - Die neuen Realos

Die Grünen in Hessen, aber auch in Baden-Württemberg, sind ein bisschen anders - pragmatischer, bodenständiger. Sie wollen nicht links sein, sondern bürgerlich. Schließlich regieren sie in den Ländern mit. Doch was tun sie gegen die Reideologisierung der Bundespartei?

Gegendemonstranten gibt es keine: Für Minister Tarek Al-Wazir (M.) gibt es einen freundlichen Empfang / Zino Peterek
Anzeige

Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

So erreichen Sie Volker Resing:

Anzeige

Das Lagezentrum meldet sich, auf Telegram gebe es einen Hinweis. „Wir wollen es dem Minister mal zeigen“, soll da eine Gruppe gepostet haben. Gleich beim Besuch auf dem Markt in Dietzenbach? Eine Drohung? Die Polizei ist vor Ort. Tarek Al-Wazir ist gerade in Darmstadt in seine Limousine gestiegen, auf dem Weg in die Kreisstadt. Neben dem Fahrer sitzt der persönliche Referent, er hält Kontakt zu den Sicherheitsleuten. Der Minister im Fond. Es ist Wahlkampf in Hessen. Tour durchs Land.

Der grüne Spitzenkandidat hat die Technische Universität besucht, moderne 3-D-Drucker wurden vorgeführt, die können sogar Metalle verarbeiten. Hessen, Hightech-Land. Er hat’s gefördert, jetzt brummt der Laden. Start-ups und der Mittelstand profitieren. So etwas freut den Wirtschaftsminister, den Grünen, so etwas passt in seinen Wahlkampf.

Der Running Gag des Ministers

Nun also Dietzenbach. Die Grünen sind mit einem zum Wahlkampf-Vehikel umgebauten Lastenfahrrad auf den Wochenmarkt gerollt. Zettel werden verteilt. Das Lagezentrum gibt durch: zehn Grüne, möglicherweise fünf Gegendemonstranten. Es ist ein heißer Sommertag. Alle suchen den Schatten.

Erst begrüßt Al-Wazir seine Par­teifreunde, dann schweift sein Blick über den kleinen Markt. Es gibt nur wenige Stände: Gemüse, Gebäck, dies und das – und Wein. Die einzige Menschenansammlung sind die Senioren auf der Bierbank, alle mit einem Schoppen in der Hand. „Ach, der Minister“, ruft einer. „Trinken Sie doch mit.“ Al-Wazir lacht, noch etwas vorsichtig. „Besser nicht!“ Wie Gegendemonstranten sehen die Weinverkoster eigentlich nicht aus. 

Maximal schwierig ist der Wahlkampf für die Grünen in Hessen. Man könnte auch sagen: eine Katastrophe. Aber zu solchen Kraftausdrücken neigt der Spitzenkandidat nicht. Seit neun Jahren regiert er mit der CDU zusammen. Schwarz-Grün ist hier in der Mitte Deutschlands kein Schreckgespenst, sondern sommerlich träge Normalität. Al-Wazir tritt mit dem Anspruch an, selbst Ministerpräsident zu werden. Aber das ist auch fast nur ein Running Gag, die Umfragen geben das kaum her.

Das Gegenteil von giftig

Zum sechsten Mal ist er der Spitzenkandidat seiner Partei, demokratische Routine. Fast 30 Jahre ist er im Geschäft. Auf den Wahlplakaten der Grünen steht der Slogan unter seinem Konterfei, der alles erklärt: „Etwas verändern. Damit es bleibt, wie es ist.“ Solch eine sprachliche Weiter-so-Gemütlichkeit würde sich die CDU nicht trauen. Aber was in Berlin verlacht wird, hat auf dem Land seine Fans. Tarek Al-Wazir nennt sich selbst „Typ Doppelhaushälfte“ und fährt VW Touran. Spießig mit Ansage. 

Die hessischen Grünen leiden unter der schlechten Performance der Ampel in Berlin. Obwohl die Wutstimmung gegen die Bundesregierung mit ihnen eigentlich gar nichts zu tun hat. Aktuell liegen sie bei 17 Prozent, vor fünf Jahren haben sie 19,8 Prozent erreicht, das bisherige Allzeithoch, sie waren gleichauf mit der SPD. Nun könnte es sogar sein, dass die Sozialdemokraten trotz der in die Kritik geratenen Nancy Faeser vor den Grünen landen. Die Bundesinnenministerin als SPD-Spitzenkandidatin verstärkt noch die negative Wirkung des Bundestrends auf die Hessenwahl. Doch eine Ampel in Wiesbaden gilt als unwahrscheinlich. Zu eng ist auch das Verhältnis von CDU-Ministerpräsident Boris Rhein zu Al-Wazir.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

Die Grünen in Hessen sind anders, vielleicht verwenden sie deswegen auch so ein tiefdunkles Jägergrün als Parteifarbe und nicht das giftige Grün, welches die Bundespartei in Berlin bevorzugt. Grün in Hessen, das ist das Gegenteil von giftig.

Das grüne Strategiedefizit

Was ist das für eine Partei geworden? In Hessen wurden sie groß. Hier wurde Joschka Fischer Turnschuhminister. Von hier aus eroberte er dann das Außenministerium und wurde Vizekanzler. In Hessen gab es die erste schwarz-grüne Koalition. Inzwischen regieren die Grünen in fast allen Bundesländern mit. In Baden-Württemberg stellen sie mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten. In Nordrhein-Westfalen navigiert die Grüne Mona Neubaur fast geräuschlos ein schwarz-grünes Bündnis sogar durch die Untiefen von Lützerath hindurch.

Zugleich sind die Bundes-Grünen für manche mit ihrer fast hegemonialen Diskursmacht und mit ihrem universellen Anspruch zum Hassobjekt geworden. Vor allem im Osten definiert sich die Mehrheitsmeinung geradezu als Gegenmodell zu allem, was irgendwie grün ist. Ihre Zustimmungswerte seien im „freien Fall“, erklären Meinungsforscher. Das Image als Verbotspartei habe sich etabliert. Hinzu kommt, dass ausgerechnet die Zustimmung zum Grünen-Kernthema Klimapolitik sich ampelbedingt ebenfalls im Sturzflug befindet. Stichwort: Habecks „Heizungs-Hammer“.

Ein Strategiedefizit diagnostiziert der Duis­burger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte den Grünen in der Ampelregierung. „Sie haben den Zumutungsmut nicht mit Veränderungszuversicht kombiniert“, erklärt er. Dies habe zu dem massiven Ansehensverlust der Grünen geführt. Die Grünen unter Annalena Baerbock und Robert Habeck waren angetreten, um die Ex-Alternativen zur Volkspartei der Mitte zu machen. Bürgerliche Fremdheitsgefühle den einstigen Ökorevolutionären gegenüber sollten weichen. Mit Fridays for Future als freundlicher Hilfstruppe gelang eine Klimapartei-Kanzlerkandidatur, die 2021 beinahe realistische Chancen verhieß. Doch die Ampelrealität veränderte die Grünen. Nach den schweren Entscheidungen infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine gewannen die Hardliner gegenüber den Pragmatikern an Dominanz. Erst mussten die Kernkraftwerke länger laufen, LNG-Terminals errichtet werden, und sogar der Autobahnbau wurde beschleunigt, sodass dann von den Linksgrünen Kompensation verlangt wurde. Diese misslang gründlich. 

Enttäuscht trotz Rekordergebnis

Von der Heizungsgesetz-Debatte hat Habeck sich politisch noch nicht erholt. Korte analysiert: „Sie haben Transformation ohne Sozialstaat konstruiert. Sie haben zu wenig den konkreten individuellen, enkelfähigen Nutzen durch Transformation herausgestellt.“ In der Folge wurde die hypersensible Mitte verschreckt.

Derzeit liegen die Grünen in Umfragen bundesweit bei um die 15 Prozent. Das ist ungefähr der Wert, den sie bei der letzten Bundestagswahl erreichten. Doch sie leiden am grünen Selbstwahrnehmungs-Paradox. Denn die Partei erzielte 2021 das beste Wahlergebnis in ihrer Geschichte und war zugleich enttäuscht, weil die grüne Kanzlerschaft in weite Ferne gerückt war. Nun halten sie diesen Wert – und sind immer noch frustriert, weil sie angesichts ihrer Agenda-­Setting-Dominanz mehr Zuspruch von der Wählerschaft erwarten. 

Korte meint, in dieser Lage müssten sich die Grünen auf dem Wählermarkt klarer positionieren. Wenn sie „als moralische Transformationsinstanz“ sichtbar bleiben, so der Politikwissenschaftler und Parteienforscher, dann würden sie um diesen Kern ihre Stammwähler finden. „Alles andere sind Aufschichtungen von bürgerlichen Mittewählern.“

Der Gegendemonstrant von Greenpeace

Auf dem Wochenmarkt in Dietzenbach findet sich dann doch noch so was wie ein Gegendemonstrant. Ganz höflich spricht er den Minister an, ob er ihn mal etwas fragen könne. Tarek Al-Wazir unterbricht seinen Smalltalk mit den Marktbeschickern und stellt sich mit dem freundlichen Herrn an die Seite. Was denn mit dem Ausbau des Frankfurter Flughafens sei? Die Grünen seien immer gegen das Terminal 3 gewesen, nun werde es doch gebaut? Der Mann spricht ruhig und klar, wie ein Lehrer, der auf die fehlenden Hausaufgaben verweist. Was ist mit dem Autoverkehr, der sollte nach grünem Willen um 30 Prozent reduziert werden? Nun werde auch noch der Straßenbau forciert.

Unter den Sonnenschirmen in Dietzenbach wird es heiß. Al-Wazir schaut jetzt ernster drein, nickt. Und der Passant legt nach. Der Dannenröder Forst wurde für die neue Autobahn gerodet, wie könne das sein? Wo sind die Grünen noch grün? Der Spitzenkandidat spricht von Planfeststellungsverfahren und Rechtsstaatlichkeit. Seinen Grundsätzen sei er immer treu. Der Mann bleibt freundlich, gibt sich als Greenpeace-Mitglied zu erkennen. Und ob er die Grünen wählt? Offen. 

„Ich will eine Politik des Möglichen“, sagt Tarek Al-Wazir beim anschließenden Stadtrundgang mit Parteifreunden. Wirtschaftliche Entwicklung gehöre dazu – und Wandel. Das Wort „Transformation“ verwende er nicht mehr so gern, das schüre Ängste. „Pauschale Fortschrittsgläubigkeit ist falsch“, so Al-Wazir. In Dietzenbach haben die Sozialdemokraten in ihrem Furor in den 1970er Jahren Fachwerkhäuser durch Großwohnsilos ersetzt und den Leuten statt der Altstadt eine „neue Stadtmitte“ verordnet. Die Stadt leidet unter den sozialen Brennpunkten und den Schulden noch immer. Das ist für den Grünen heute das Schreckensbild. „Wir brauchen Veränderung, können aber nicht alles von oben vorgeben“, sagt Al-Wazir, „es geht nur mit den Leuten.“ So klingt grüne Bodenständigkeit in Hessen.

Ein Mann der Wirtschaft bei den Grünen

Unterschiedlichste Kräfte ziehen und zerren an den Grünen. Tatsächlich ist die einst „alternative“ Partei in eine Art Zwei-Fronten-Stellung geraten. Auf der einen Seite verfallen sie bisweilen dem identitätspolitischen Strudel und begeben sich in den woken Kulturkampf gegen die angeblich Rückwärtsgewandten und Reaktionären jedweder Couleur. Auf der anderen Seite haben sie sich teilweise bürgerlich etabliert und werden nun von ihrem grünen Anspruch und ihren linken Ursprüngen eingeholt. Der alte Kampf zwischen Realos und Fundis ist neu ausgebrochen, diesmal auch an einer Frontlinie zwischen Bundespolitik und Landespolitik.

Die Pragmatiker in den Landeshauptstädten sehen teilweise erschrocken der Reideologisierung in Berlin zu. Dabei kommt dieser neue Fundamentalismus etwa von Familienministerin Lisa Paus und auch von Außenministerin Annalena Baerbock smarter daher, als er eine Generation davor aussah. Ein Insider berichtet: In Zeiten von Rot-Grün unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer sei selbst ein Fundi wie Hans-Christian Ströbele kompromissbereiter gewesen als jetzt mancher Akteur in einem grünen Ministerium. 

Danyal Bayaz ist Finanzminister in Stuttgart. Er hat an der renommierten Universität Hohenheim Kommunikationswissenschaft studiert und zum Thema Finanzmärkte promoviert. Später war er Projektleiter bei der elitären Strategieberatung Boston Consulting Group. Ein Mann der Wirtschaft; sein Weg zu den Grünen war nicht vorgegeben. Bayaz’ Mutter war bei der CDU, überhaupt stand der ganze Rest der Familie den Christdemokraten nahe – da mitzumachen, sei ihm aber zu langweilig erschienen, erzählt er. „Ich wollte den Wandel gestalten, wirtschaftliche Prosperität und Nachhaltigkeit waren mir wichtig.“ Und dann brauchte es auch ein paar Zufälle. 

Ein Quiz für den Gast aus Stuttgart

Bei der FDP in seiner nordbadischen Heimat hatte damals Dirk Niebel das Sagen, das schreckte ihn ab. Dann lernte Bayaz Fritz Kuhn kennen; der Bundestagsabgeordnete und spätere Parteivorsitzende machte ihn mit dem pragmatischen Kurs der baden-württembergischen Grünen vertraut. Das gefiel ihm.

Beim Pharmagiganten Roche in Grenzach veranstaltet das Vorstandsmitglied Hagen Pfundner ein Quiz mit dem Gast aus Stuttgart. Bayaz soll Fragen zum Unternehmen beantworten. Alles soll anders sein, als man sich für gewöhnlich so einen Ministerbesuch vorstellt. Keine langweiligen Präsentationen, kein steifes Gerede. Dort, am südlichen Ende von Deutschland, wo die Schweiz vor der Tür liegt und Paris näher ist als Berlin, sieht selbst der Besprechungsraum aus wie eine Hipster-Lounge, und die „Forrest Circle“-Bürobegrünung lädt zum Verweilen ein.

Die Azubis des Hauses sind versammelt und sollen sagen, wie sie sich so fühlen. Es gibt Limonade aus der Flasche, Kaffee von einem Espresso-Wagen, eine Art Duz-Pflicht besteht für die Mitarbeiter. Der grüne Minister aus Stuttgart sorgt für Erstaunen. Umsatz, Investitionen, Human Ressource: Für die Fragerunde ist Bayaz gut vorbereitet. Und die wirklichen Probleme werden am Rande besprochen, auch was für Sorgen die Bundesregierung den Unternehmen vor Ort bereitet.

Ein Kind der Kretschmann-Grünen

Natürlich hat sich der baden-württembergische Grüne über den Ampelstreit im Sommer geärgert. „Wirtschaftliche Impulse wie das Wachstumschancen-Gesetz sind dringend nötig, denn der wirtschaftliche Erfolg ist die Grundlage für alles“, erklärt Bayaz dort am Hochrhein, fernab von den Wirren an der Spree. „Auch die Kindergrundsicherung ist mir wichtig“, sagt er. „Aber wir müssen auch begreifen, dass wir mit Geld alleine nicht alle Probleme lösen können.“ Das klingt alles etwas anders, als es von den Ampel-Grünen formuliert wird. 

„Die Politik hat nicht die Aufgabe, die Menschen glücklich zu machen“, kommentiert Bayaz den Kanzler-Slogan „You’ll never walk alone“. Er sei ein Verfassungspatriot, dem die Bewahrung der biologischen Lebensgrundlagen genauso wichtig sei wie der Erhalt des Industriestandorts.  Er sei eben kein Linker. „Für mich persönlich ist es wichtig, auch Werte wie Marktwirtschaft und Unternehmertum hochzuhalten.“ Das hören sie auch beim Freiburger Innovationszentrum gern, dort kommen Wissenschaft und Start-ups zusammen. Aber mit richtigen Geschäftsmodellen, nicht nur so, erfährt Bayaz bei seinem Besuch. 

Der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz: grün und liberal / Silke Wernet

Seit Mai 2021 ist Danyal Bayaz Minister in der Regierung von Winfried Kretschmann, von 2017 bis 2021 war er zuvor Mitglied des Bundestags gewesen. Er ist ein Kind dieser spezifischen Kretschmann-Grünen. „Von ihm habe ich gelernt, dass man in der Politik nichts versprechen darf, was man nicht halten kann“, sagt er. 

Baerbock und Habeck haben sich verheddert

Kretschmann ist der erste grüne Ministerpräsident und seit 2011 im Amt. Ausgerechnet in einem strukturell eher konservativen Bundesland beißt sich die CDU an ihm die Zähne aus. Der 75-Jährige ist der Übervater der anderen Grünen, er hat das Autoland mit der Ökologie versöhnt. „Bewahren heißt verändern“, lautet sein Slogan.

Obwohl Kretschmann einst als Maoist gestartet war, liegt ihm nun alles Revolutionäre fern. Schon lange ist er wieder in die katholische Kirche eingetreten und redet von seinem Glauben so, wie es früher nur Christdemokraten konnten. Über die „Letzte Generation“ kann er sich mächtig aufregen, genauso wie über Annalena Baerbock. Ginge es nach ihm, würden die Grünen zur bürgerlichen Volkspartei, doch manche in Berlin torpedieren sein Lebensprojekt. Bayaz wird schon als Kretschmann-Nachfolger gehandelt. Doch sein Freund und Förderer Cem Özdemir hat möglicherweise den besseren Erste-Reihe-Punch.

In Berlin verlieren die Kretschmann-­Grünen an Einfluss. Als pragmatisches Traumpaar waren Baerbock und Habeck gestartet, doch längst dominiert der verdeckte Streit um die Kanzlerkandidatur das Verhältnis der beiden. Während die Außenministerin strategisch agiert und parteiintern die Linken und Woken auf ihre Seite bringt, verheddert sich Habeck in den Problemen der Energiewende und den Fallstricken seines Ministeriums. 

Diversität in der Deutschland-Flagge

Grüne Spindoktoren in der Hauptstadt blicken inzwischen mit Schrecken auf Habecks Schwäche; die Realos hatten sich das Wirtschaftsministerium als Machtzentrale der Pragmatiker gewünscht. „Er hätte das Haus zum Schattenkanzleramt ausbauen müssen“, sagt ein Vertrauter. Stattdessen hatte er sich mit dem Staatssekretär Sven Giegold und dessen inzwischen zurückgetretenem Kollegen Patrick Graichen ideologische Köpfe an die Seite geholt.

In Grenzach bei Roche schwärmt unterdessen Vorstandsmitglied Pfundner von der Diversität des Unternehmens, von der Innovationskraft und davon, wie wichtig es sei, Fachkräfte zu binden. Menschen mit 13 Religionen und an die 100 Nationalitäten würden im Unternehmen arbeiten. An dieser Stelle muss Danyal Bayaz dann doch passen, er bekommt nicht alle Glaubensrichtungen aufgezählt.

Der grüne Minister ist beeindruckt, so bunt geht es in der Stuttgarter Ministerialbürokratie nicht zu. „Mir gefällt der Spirit“, sagt er. Doch dem Unternehmensberater deutsch-türkischer Herkunft sind die verschärften Regenbogendiskurse fremd. „Die Regenbogenflagge ist ein wichtiges Zeichen für Gleichberechtigung. Genau das steckt aber auch in schwarz-rot-gold drin. Deswegen will ich unsere Nationalflagge auch nicht dem rechten Spektrum überlassen“, so Bayaz. 

Pragmatische Grüne allerorten

Bei ihm im Ministerium wird nicht gegendert, außerdem warnt er vor identitätspolitischen Übertreibungen. „Ich finde, niemand muss sich dafür entschuldigen, wenn er sich als Kind als Indianer verkleidet hat.“

Er selbst ist Vater eines Sohnes. Die Mutter des gemeinsamen Kindes ist Katharina Schulze, seit 2022 sind sie und Bayaz verheiratet. Schulze ist Spitzenkandidatin der Grünen in Bayern und tritt im Oktober gegen Markus Söder an, der eine Zusammenarbeit mit den Grünen kategorisch ausschließt. Die 38-Jährige hat ebenfalls versucht, in die bürgerliche Mitte vorzudringen; sie engagiert sich im Bereich der inneren Sicherheit und hat den ersten grünen Polizeikongress organisiert. Doch in der Oppositionsrolle in München dankt ihr das kaum jemand.

Also geht sie jetzt auf strammen Anti-CSU-Kurs und warnt in der Aiwanger-­Affäre reflexartig vor einem „Rechtsruck“. In Wahrheit würde sie natürlich gerne Ministerin unter Söder werden. Dieser Realismus eint das Paar.

Die ungiftigen Grünen, das sind die Grünen, die mitregieren in Düsseldorf, Wiesbaden und Hessen. Das sind aber auch diejenigen, die anderswo abweichen vom grünen Mainstream in Berlin. Die grüne Fraktionsvorsitzende im sächsischen Landtag, Franziska Schubert, etwa wünscht sich einen „realistischeren Blick“ in der Migrationspolitik: „Wir brauchen neue Konzepte, die auch in meiner Partei noch nicht zu Ende gedacht sind“, sagt sie. Wer die Überlastung der Kommunen anspreche, verleugne doch nicht die Grundwerte der Partei.

Am Ende können sie sich nur selbst im Weg stehen

Schubert hatte ein entsprechendes Manifest der „Vert-Realos“ unterzeichnet, zusammen mit etwa dem Ex-Grünen Boris Palmer. Von der Berliner Parteizentrale erntete die Gruppierung, laut Selbstbeschreibung ein Zusammenschluss „entschiedener Realpolitikerinnen und Realpolitiker innerhalb des Realo-­Flügels von Bündnis 90/Die Grünen“, aber nur Ignoranz und Argwohn. Inzwischen haben sich die „Vert-Realos“ sogar kritisch zum umstrittenen Selbstbestimmungsgesetz geäußert, aber prominente Stimmen bekennen sich noch nicht zu ihnen.

Die Grünen haben derzeit so viel Macht in Deutschland wie noch nie. Ihre Bandbreite reicht von den Kreuzberger Klimaaktivisten über die Großstadt-­Boheme von Frankfurt und Hannover bis zu den Ökolandwirten auf der Schwäbischen Alb. In Stuttgart sprechen sie die Sprache der Unternehmer, in Hessen den Dialekt der Mittelzentren. Sie können Ruhrgebiet und Küste, aber den konstruktiven Streit beherrschen sie nicht.

„Wenn die Grünen ihre Macht verlieren, dann immer aufgrund eigener Fehler“, sagt ein Veteran der Joschka-Jahre, „sie sind sich selbst die besten Gegendemonstranten.“ Genau das läuft gerade im Regierungsviertel ab. Und die anderen Grünen schauen fassungslos zu.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige