Deutsche Parteienlandschaft - Zu viel Demokratie wagen?

Eine grundlegende Ursache für die Fragmentierung der Parteienlandschaft ist der irreversible Niedergang der Volksparteien. Doch was verändert sich da gerade im bundesdeutschen Parteiensystem? Und ist die alte Stabilität nun endgültig dahin?

Fluch oder Segen? Die Wahlmöglichkeiten an der Urne nehmen zu / Illustration: Julia Kluge
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Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Jahrzehntelang gehörte es zum Selbstverständnis deutscher Politiker und Politikwissenschaftler, dass sich unsere Demokratie nach 1949 außerordentlich gut entwickelt hat. Stabilität, Solidität und Wehrhaftigkeit wurden zum Markenzeichen der neuen Bonner Republik. Nie wieder Weimar. Schon die Verfassungsväter und wenigen Mütter des Grundgesetzes hatten das Ihre dazu getan. Sie schufen eine konstitutionelle Grundlage, die die westdeutsche von den instabilen Republiken Italiens oder der IV. Republik Frankreichs so wohltuend unterschied. 

Ein starkes Bundesverfassungsgericht wurde eingerichtet, der Bundespräsident seiner Eingriffsrechte in die Kompetenzen des Parlaments und der Regierung weitgehend „befreit“. Der Bundeskanzler konnte nur noch durch ein konstruktives Misstrauensvotum des Bundestags seines Amtes enthoben werden. An vieles war gedacht worden. Aber über das Wahlsystem sich zu einigen, fiel den politischen Parteien schwer. So wurde nach einem Verhältniswahlsystem ohne bundesweite Sperrklausel gewählt. Die Parteien benötigten nur ein Direktmandat, um ins Parlament zu kommen. Elf Parteien schafften es so in den ersten Bundestag. 

Dieser breite Pluralismus und die hohe Zahl der parlamentarischen Parteien waren dem Gesetzgeber allerdings nicht geheuer. Korrekturen am Wahlrecht, wie die Einführung einer bundesweit gültigen Fünf-Prozent-Sperrklausel oder das Eintrittsminimum von drei Direktmandaten, wurden verabschiedet. Die Reparaturen wirkten. Im Jahre 1961 saßen nur noch drei „Parteien“ (CDU/CSU, SPD, FDP) im Bundestag. Der Konzentration folgte die Stagnation: Die drei Parteien blieben bis 1983 im Bundestag unter sich. Die FDP erfüllte die Funktion einer Mehrheitsbeschafferin zunächst für die Union und dann von 1969 bis 1982 für die SPD. Anschließend diente sie nahtlos den vier Kabinetten von Helmut Kohl (1982–1998) als Juniorpartner. Dies garantierte Stabilität, aber auch eine Engführung des politischen Pluralismus. 

Rastlose Suche nach dem Mitte-Wähler

Erfolgreiche Parteineugründungen waren in der Bonner Republik die große Ausnahme. Erst 1983 kam mit den Grünen wieder eine neue Partei in den Bundestag. Ähnliches wiederholte sich nach 1990 in der Berliner Republik, als es aus den Ruinen der alten Staatspartei SED zunächst die PDS und später die maßgeblich aus ihr hervorgegangene Linke in den Bundestag schaffte. Es dauerte dann noch einmal fast zwei Jahrzehnte, bis wieder eine neue Partei 2017 in den Bundestag gewählt wurde. Dieses Mal auf dem rechten Flügel – die Alternative für Deutschland. Den politischen Raum dafür hatte die CDU unter Bundeskanzlerin Angela Merkel frei gemacht. Sie bewegte sich und ihre Partei auf der rastlosen Suche nach dem Mitte-Wähler weit ins Zentrum des Parteiensystems. 

Als der Kanzlerin dann 2015/2016 die Flüchtlings- und Migrationspolitik entglitt, sie ihren Fehler trotzig nicht eingestand, reagierten die Wähler prompt. Sie prämierten in den Bundestagswahlen von 2017 die rechtspopulistische Oppositionspartei AfD mit 12,6 Prozent der Stimmen. Vier Jahre später bestätigte die Alternative für Deutschland das Wahlergebnis mit leichten Verlusten (10,3 Prozent) noch einmal. Danach profitierte keine Partei stärker vom Popularitätsverlust der Ampelkoalition als die Rechtspopulisten. Umfragen sehen die AfD nun anhaltend bei 20 Prozent der Wählerstimmen. Die AfD stieg in den Umfragen zur zweitstärksten Partei auf, noch vor den Grünen und der einstig so stolzen Volkspartei SPD. 

Das suizidale Projekt der Linken-­Führung

Nun kündigt sich auf der populistischen Linken eine neue Parteigründung an. Das personalistische Akronym BSW „Bündnis Sahra Wagenknecht“ steht zunächst als Platzhalter. Die Gründung selbst ist die strategisch logische Reaktion auf das suizidale Projekt der Linken-­Führung, die Grünen zu imitieren: Immigration als humanitäres Projekt, Wokeness als Gebot der kulturellen Moderne, Klimapolitik als Weltrettung.
 

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Als historische Reminiszenz blieben noch Umverteilungsforderungen, die die Grünen ihren gut verdienenden Wählern aus der Mittelschicht nicht mehr zumuten wollen. Manches und manche Umfragen sprechen dafür, dass die latente Nachfrage nach einer linksnationalen Politik die Wagenknecht-Partei in den Bundestag führt. Dafür spricht auch, dass im nächsten Jahr die Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden. Bei solchen „Wahlen zweiter Ordnung“ prämieren viele Wähler die (radikale) Opposition, um der zu Hause amtierenden Regierung einen Denkzettel zu verpassen. 

Ein ähnlicher Effekt gilt auch für die Landtagswahlen in Ostdeutschland im nächsten Jahr. Allerdings ist es da nicht nur die „Denkzettel-Funktion“ in Richtung Berlin. Denn die Länder Sachsen, Thüringen und Brandenburg sind längst Hochburgen des Rechtspopulismus, auch weil die Linke ihre Protestfunktion im Osten weitgehend und fahrlässig verloren hat. 

Programm- und Protestversprechen

Ein erheblicher Teil der neurechten Wähler ist keine Stammwählerschaft. Linkspopulistische Programm- und Protestversprechen könnten deshalb Teile der rechten Hochburgen schleifen. Die neue Wagenknecht-Partei droht jedoch auch in den verbliebenen traditionalistischen Gefilden der SPD zu wildern. Sie wird wohl vor allem jene Wähler aus den unteren Schichten ansprechen, denen die Klimapolitik zu forsch, die Migrationspolitik zu liberal und das Gendern gleichgültig ist, aber Fragen der Umverteilung und sozialen wie inneren Sicherheit auf den Nägeln brennen.

Die Verbindung von traditionell linken Verteilungsforderungen mit national­konservativen Werten könnte eine Mischung ergeben, die für die traditionalistischen Wählerschichten der Sozialdemokratie anziehend wirkt. Soweit sich die Programmatik heute schon abzeichnet, dürfte es erhebliche Wahlverwandtschaften mit jenem der dänischen Sozialdemokraten haben. Der linke politische Raum würde weiter fragmentiert werden, selbst wenn die übrig gebliebene Linke es ohne Wagenknecht nicht mehr in den Bundestag schafft.

Hochzeit der Volksparteien

Was verändert sich da gerade im bundesdeutschen Parteiensystem? Ist die alte Stabilität nun endgültig dahin, eine Sache der Vergangenheit? Wo liegen die Ursachen, was bedeuten sie für unsere Demokratie? Eine grundlegende Ursache für die Fragmentierung der Parteienlandschaft ist der irreversible Niedergang der Volksparteien. Die Hochzeit der Volksparteien, der catch-all-parties, wie sie treffend im angelsächsischen Sprachgebrauch genannt werden, war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das 21. Jahrhundert wird es nicht mehr sein. Die Individualisierung der Gesellschaft, die Fragmentierung ihrer Öffentlichkeit, die Diversifizierung von Arbeitsmarkt und Anstellungsverhältnissen und nicht zuletzt die Flucht aus den gesellschaftlichen Vereinigungen, Großverbänden, Gewerkschaften, Kirchen und Vereinen trockneten den Nährboden der Volksparteien zusehends aus. 

Stimmten 1972 noch 90,7 Prozent für die beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD, waren es 2021 nur noch 49,8. Das breite und konturarme Programm von Volksparteien wirkt auf immer mehr Bürger anachronistisch. Zu sehr sind sie gewohnt, auf den Gütermärkten genau das auf sie und ihre Nachfragewünsche zugeschnittene Produkt auszuwählen. Warum sollte dies auf den Wählermärkten anders sein?

Der Niedergang der Volksparteien ist aber nicht nur Schicksal anonymer gesellschaftlicher Transformationen. Er ist zu einem beachtlichen Teil hausgemacht. Es waren die Volksparteien selbst, die durch strategische Fehlentscheidungen politischen Raum fahrlässig aufgaben. Relevante Wählergruppen, Interessen, Stimmungen und Lebensstile verloren ihre Repräsentation und suchten neue politische Anbieter. Im Verlauf der vergangenen vier Jahrzehnte lassen sich in Deutschland drei große Repräsentationsschwächen der Volksparteien erkennen: Ökologie, Verteilung, nationalstaatliche Grenzen und Identität. Alle drei führten zu Neugründungen von Parteien und verkleinerten damit den politischen Rekrutierungsraum der Volksparteien.

Postmaterialistische Sinnsuche

Da war zunächst die ökologische Frage, die spätestens 1972 mit dem Bericht des Club of Rome öffentlich wurde. Insbesondere die SPD erkannte zu spät die neue Repräsentationsnachfrage nach einer gesunden und ressourcenschonenden Umweltpolitik. Sie kam vor allem aus den neuen, gebildeten Mittelschichten, die die Sozialdemokraten seit Ende der 1960er Jahre noch stolz in ihrer Wählerschaft begrüßt hatten. Diese neuen Wählergruppen erwiesen sich als mobil und hatten sich schon wieder aufgemacht. Dieses Mal auf die postmaterialistische Sinnsuche. 

Dabei war es nicht zuletzt die sozialdemokratische Bildungspolitik, die ihren sozialen Aufstieg erst ermöglicht hatte. Das schützte die SPD jedoch nicht, Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Mit Beginn der 1980er Jahre machten nun die Grünen den Sozialdemokraten diese Wählerschichten mit Erfolg streitig. Auch die Union musste später Federn lassen, verortete sie doch die wählerpolitische Bri­sanz der Grünen zu lange nur im sozialdemokratischen Lager.

Um die Jahrhundertwende liefen die Sozialdemokraten in die nächste Repräsentationsfalle. Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder wollten ihre schwerfälligen Parteien und deren Apparate auf die wirtschaftliche Globalisierung umstellen. Der „dritte Weg“ zwischen Neoliberalismus und „Sozialdemokratismus“ wurde erfunden. Der 1998 neu ins Amt gewählte Bundeskanzler Gerhard Schröder kannte auf einmal keine linke oder konservative, sondern nur noch gute oder schlechte Wirtschaftspolitik. 

Teile des nationalkonservativen Raumes

Die SPD rückte in die Mitte des Parteiensystems und gab auf der Linken politischen Raum frei. Dies erlaubte der PDS und dann der Linken (2007), sich als gesamtdeutsche Partei zu etablieren. Zum zweiten Mal hatte die SPD politischen Raum preisgegeben, den sie nicht mehr zurückerobern konnte. Deutlich wurde dies, als der populär-populistische SPD-Kanzler der Partei nicht mehr zu Diensten war. Der einst von den Sozial­demokraten monopolisierte politische Möglichkeitsraum auf der Linken musste nun unter drei Parteien aufgeteilt werden.

Eine dritte Repräsentationsschwäche deutete sich schon in den 1990er Jahren an. Das Sowjetimperium brach zusammen und setzte Migrantenströme von Ost nach West in Gang. Noch hielt die Union den rechten politischen Raum unter Kontrolle. Doch unter der Führung von Angela Merkel versuchte sich die CDU auf dem Weg zur kulturell modernen politischen Mitte und gab damit Teile des nationalkonservativen Raumes auf der Rechten preis. 

Der konservative Markenkern der CDU zerbröselte. Das Politikversagen in der Flüchtlings- und Migrationspolitik von 2015 und 2016 tat ein Übriges. Die verschlafen-reaktionäre Professorenpartei AfD radikalisierte ihre anti­europäischen und antimodernen Reflexe und avancierte zusehends zu einer radikalen nationalistischen Protestpartei gegen die „Etablierten“. Für die Union erwies sich die liberale und handlungsschwache Flüchtlings- und Immigrationspolitik ihrer Kanzlerin als eine ähnliche parteistrategische Fehlleistung wie der „dritte Weg“ und die Agenda 2010 für die Sozialdemokratie.

Der ideale Maschinenraum stabiler Demokratien

Die Pluralisierung des Parteiensystems ging von einem Dreiparteien- (1961–1983) über zu einem moderat pluralistischen Parteiensystem (1983–2017). Es steht nun an einer Kreuzung, von der ein Weg in den polarisierten und der andere zurück zum moderaten Pluralismus führt. Beide Wege führen in unterschiedliche Regierungsweisen mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Demokratie.

In der traditionellen Parteienforschung wird dies als der ideale Maschinenraum stabiler Demokratien gesehen. Die Maschine läuft aber nur dann rund, wenn die Volksparteien groß genug sind, um sich in variierenden Koalitionen in der Regierungsverantwortung abzuwechseln. Reichen die Parlamentssitze nicht für solche Mitte-links- oder Mitte-rechts-Koalitionen, gäbe es immer noch die großen Koalitionen. Die Zeiten von großen Koalitionen oder Zweiparteien­kabinetten sind heute aber eine Regierungsweise der Vergangenheit. Ihnen sind die Wähler ausgegangen. Spätestens mit der Etablierung der AfD befindet sich das deutsche Parteiensystem auf dem Weg in den polarisierten Pluralismus.

Illustration: Julia Kluge

Gegenwärtig haben sechs beziehungsweise sieben Parteien Sitz und Stimme im Bundestag. Nie war der Pluralismus seit 1953 ausgeprägter, die programmatischen Offerten spezifizierter. Auf der traditionellen Links-rechts-Achse des Parteiensystems werden nun die Außenpole besetzt. Während der Linken die Verfassungstreue nicht mehr abzusprechen ist, bezweifeln Stimmen aus Verfassungsschutz, Medien und Politikwissenschaft die Verfassungskonformität der AfD. Die letzte Entscheidung darüber steht allerdings in einer rechtsstaatlichen Demokratie dem Verfassungsgericht und nicht dem Verfassungsschutz zu. 

Wie der Definitionsstreit auch ausgeht: Keine der anderen vier Parteien will mit einer der beiden Flügelparteien koalieren. Dies gilt im Bund, aber nicht in den ostdeutschen Ländern. PDS und Linke wurden immer wieder in Regierungskoalitionen eingebunden. Sie handelten verfassungskonform, ja bisweilen geradezu unauffällig bieder. Dies wurde der Linken wenig gedankt. Die Protestwähler liefen ihr davon. Die AfD profitierte. 

Stärkste Partei im Osten: Die Alternative für Deutschland ist nun drauf und dran, das zu werden. Selbst wenn sie es nicht würde, zwänge sie die demokratischen Parteien zu Viel-, wenn nicht gar Anti-AfD-Allparteienkoalitionen. Ob diese dann zu effizienten Regierungskoalitionen zusammenwachsen und die Bürger überzeugen können, darf bezweifelt werden. Zudem könnte die AfD ihr Lieblingslied anstimmen, das von Ausschluss, unfairer Behandlung und undemokratischer Benachteiligung kündet. Und das demokratische Dilemma dabei ist, dass dies in gewissem Sinne zutrifft. 

„Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“

Erstmals ist in den meisten ostdeutschen Bundesländern eine zur Demokratie allenfalls semiloyale Partei zu einem relevanten Vetospieler aufgestiegen. Vetomacht ist aber noch nicht Koalitionsmacht. Allerdings haben die Länder sich in der Vergangenheit häufig als Labore für neue Bündnisformationen im Bund erwiesen. Sollbruchstelle dafür ist die CDU. Sie könnte sich ihres listigen Erstkanzlers Konrad Adenauer erinnern, der auf den Journalisteneinwurf, er habe gestern doch noch eine ganz andere Meinung vertreten, lapidar antwortete: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.“ 

Aber auch auf der Linken tut sich was. Gelänge es Sahra Wagenknecht, ihr Charisma mit den Mühen eines weniger glamourösen Organisationsaufbaus zu verbinden und dafür auch die Mitstreiter und Ressourcen aufzutreiben, wird sie erst in das Europäische Parlament, dann in die ostdeutschen Landtage und schließlich 2025 wohl auch in den Bundestag einziehen. 

Ist das eine weitere Ergänzung von Pluralismus und Repräsentation? Vermutlich, aber er wird teuer bezahlt. Ein populistischer Überbietungswettbewerb zwischen rechts und links wäre wahrscheinlich. Ob sich die alten, halbierten Volksparteien dem entziehen können, ist zu bezweifeln. Nicht nur die zentrifugalen Tendenzen im Parteiensystem würden damit verstärkt, auch eine rationale und verantwortungsbewusste Politik würde unter populistischer Polarisierung noch schwerer werden. 

Klima, Krieg und Migration

Die neuen Parteien haben in den zurückliegenden vier Jahrzehnten Repräsentationslücken geschlossen, die die Volksparteien auf ihrer rastlosen Suche nach dem Mitte-Wähler an den Rändern verwaisen ließen. Dies hat die Wahloptionen des Souveräns, der Bürger und Bürgerinnen, erweitert. Die Pluralisierung des Parteiensystems war aber nicht ohne dessen Polarisierung zu haben. Die Parteien an den linken und rechten Rändern, aber auch die kosmopolitisch-woken Grünen treiben die soziale und kulturelle Polarisierung voran. Es gibt sie, die Spaltungen von Politik und Gesellschaft, auch wenn man sie nicht so nennen darf. Mehr Repräsentativität bedeutet so weniger Stabilität.

Kompaktes und effektives Regieren mit langem Atem wird schwieriger: Die großen Krisen von Klima, Krieg und Migration in den vor uns liegenden Transformationen verlangen aber das Bohren dicker Bretter. Die Zeiten des demoskopiegetriebenen Durchwurs­telns der Merkel-Ära sind vorbei. Die Demokratiegewinne einer passgenaueren Repräsentation drohen von der größeren Heterogenität, Instabilität und Uneinigkeit der Regierungskoalitionen aufgefressen zu werden. Die Streitigkeiten in der Ampelkoalition, der Dauerkonflikt zwischen Grünen und Liberalen, zeigen das. In krisenanfälligen Zeiten aber wird es gerade um die Problemlösungsfähigkeit der demokratischen Institutionen und Eliten gehen, will die Demokratie Zustimmung und Legitimität erhalten. 

Vor der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft liegen tiefgreifende Transformationsprozesse. Sie lassen zunächst ein Tal der Tränen erwarten, bevor ein nachhaltiger Innovationszyklus einsetzt und mit ihm die wirtschaftlichen und sozialen Gewinne der „schöpferischen Zerstörung“ anfallen. Der Politik, ihren Institutionen und Personen fällt es nun anheim, die politische Ökonomie der demokratischen Geduld unter den Bürgern zu organisieren. Ist sie dazu nicht in der Lage, öffnet sie die Pandorabüchse sich überschlagender Populismen. Das haben weder das Land verdient noch seine Menschen.

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