Verlorene Jahrzehnte - Zehn Thesen zur Aufarbeitung der Corona-Krise (Teil 1)

Im Zuge der Corona-Pandemie ist es zu den stärksten Freiheitseinschränkungen in Nicht-Kriegszeiten gekommen, während das deutsche Gesundheitssystem um Jahrzehnte zurückgeworfen wurde. Für Cicero formuliert Professor Matthias Schrappe, Internist und Gesundheitsökonom, zehn Thesen zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie. Wir veröffentlichen sie in drei Folgen. Die erste lesen Sie hier.

Maßnahme und zentrales Symbol der Corona-Pandemie: die FFP2-Maske / dpa
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Autoreninfo

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).

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Die Diskussion um das bisherige Pandemie-Management umfasst drei Ebenen: die Ebene der gesellschaftlichen Veränderungen (z.B. Einengung des Diskurses, Revival des „Durchregierens“), die Diskussion der Einzelsachverhalte (z.B. FFP2-Maskenpflicht im Krankenhaus) und drittens die umfassende Rückabwicklung zentraler professioneller Standards in der Gesundheitsversorgung.

In der Patientenversorgung und für die Arbeitswelt im Gesundheitswesen steht dabei die Schwächung zahlreicher Kompetenzen im Vordergrund, z.B. Patientenorientierung, Qualität, Patientensicherheit, evidenzbasierte Medizin und die Steuerung komplexer Versorgungsprozesse. Viele dieser Errungenschaften hatten das Gesundheitswesen in den letzten Jahrzehnten ganz entscheidend geprägt und sind auch wissenschaftlich gut abgesichert. Sie wurden intensiv öffentlich diskutiert, da sie gesellschaftliche Prozesse reflektieren (z.B. persönliche Selbstbestimmung und Entscheidungsfindung).

Nun muss nach knapp drei Jahren Pandemie-Management versucht werden, die Verluste einzugrenzen und die Entwicklung wieder aufzunehmen, gerade da sie – Beispiele Finanzierung und Transparenz der Institutionen – auch von allgemeinem Interesse sind. Für Cicero formuliert Professor Dr. med. Matthias Schrappe, Internist und Gesundheitsökonom, zehn Thesen zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie. Diese werden in drei Teilen veröffentlicht. Lesen Sie hier den ersten Teil. Den zweiten Teil des Textes finden Sie hier

Einleitung: Es dominiert das paternalistische Prinzip

Endlich, die Aufarbeitung der Corona-Krise kommt in Gang. Aber haben Sie zuletzt versucht, einen Termin beim Facharzt zu bekommen? Oder die Großmutter im Krankenhaus zu besuchen? Kein Zweifel, man muss die Verengung des gesellschaftlichen Diskurses diskutieren. Man muss auch die zahlreichen Einzelfelder und -fehler thematisieren, die gemacht wurden (z.B. Isolation der Kinder).

Es wird aber viel zu wenig problematisiert, dass sich durch das Corona-Management die gesamte Gesundheitsversorgung stark verändert, ja verschlechtert hat. Zahlreiche Entwicklungsstränge der letzten Jahrzehnte wurden unterbrochen, zurückgedreht, in ihr Gegenteil verkehrt. Stärkung der Patientenrechte, Qualität der Versorgung, Patientensicherheit – wo sind diese Themen geblieben? Widersinnige Strukturen, Reformstau – wo sind die vormals diskutierten Ansätze noch erkennbar?

Fast aus der Erinnerung gestrichen. So waren durch umfassende gesetzgeberische Aktivitäten die Patientenrechte neu formuliert worden, was z.B. direkte Auswirkungen auf die Einwilligung zu Eingriffen hatte. Das Wort der Patienten hatte gezählt. Man hatte gelernt, dass eine gute Gesundheitsversorgung nicht nur das Können Einzelner voraussetzt, sondern dass diese von Teams und gut geführten Institutionen erbracht wird.
 

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Rollen wurden „modernisiert“, die Praxis musste sich wissenschaftlich hinterfragen lassen, Fehler wurden zugegeben, Hierarchien (wenigstens teilweise) flacher gestaltet. Aber Corona sorgte für einen drastischen Umschwung, jetzt herrscht wieder der hierarchische Durchgriff, es dominiert das paternalistische Prinzip. Fragte man vor Monaten die Patienten noch nach ihrem Eindruck und ihrem Empfinden (um die Institutionen des Gesundheitswesens zu verbessern), gibt es neuerdings: Besuchsverbot, alleine Sterben, keine Behandlungstermine. 

Die Entwicklung reicht tief. Die Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Praxen werden ausgeblutet, sei es durch unflexibel gehandhabte Isolations- und Quarantänepflichten, sei es durch das Versagen der Politik, die Personalnot durch eine glaubwürdige Kampagne zu verbessern und die strukturellen Entwicklungen voranzutreiben. Stattdessen Panikmeldungen ohne Ende – und man wird den Eindruck nicht los, das Umschwenken kommt einigen autoritären Strömungen ganz recht (die schon immer gegen transparent nachgewiesene Evidenz eingestellt waren), ein gewisser Schwund an Einrichtungen wird gar nicht so ungern gesehen (so die beabsichtigte Verringerung der Krankenhauszahl), und letztlich: Solange Pandemie-Panik herrscht, kommt’s ganz recht, man braucht sich mit den Strukturproblemen nicht abzugeben.

Natürlich war die Situation vor Corona nicht zufriedenstellend, das ist klar zu benennen (fehlende Weiterentwicklung des DRG-Systems im Krankenhaus, Ersatz der persönlichen Interaktion durch technische Instrumente, Ökonomisierung der letzten Privatsphäre (Gesundheitsdaten) durch die Digitalisierung etc.). Aber einige positive Entwicklungen hatte es gegeben, und gerade diese wurden durch das Pandemie-Management geschwächt und teils zerstört.

Hier muss die Kritik ansetzen, damit die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nicht verloren gehen und man möglichst bald wieder an die Vor-Corona-Zeit anknüpfen kann (wenn es denn noch möglich ist). In der Analyse ergeben sich zehn Aspekte, die vom Krankheitsverständnis über die Patienten- und Qualitätsorientierung bis zur Kommunikation in Risikosituationen reichen. Sie alle betreffen fachliche Standards, die für die Berufsgruppen im Gesundheitswesen handlungsleitend waren. Zu beginnen ist mit Grundkenntnissen aus der Infektiologie.

(1) Grundlegend: Es gab kein „Handeln unter Unwissenheit“!

„Handeln unter den Bedingungen der Unwissenheit“, das war die vorgeschobene Formel, die der Exkulpation dienen sollte – und sozusagen die Quelle des Versagens darstellt. Man hätte es mit einer „unbekannten Herausforderung“ zu tun (so Bundeskanzlerin Merkel in der PK nach der ersten Ministerpräsidentenkonferenz am 13.3.2020), mit „Entscheidungen im Ungewissen“ (so Bundesjustizministerin Lambrecht in der Kaminrunde im Kanzleramt mit dem Bundesverfassungsgericht am 30.6.2021, kurz vor dem „Bundesnotbremse-Urteil“). 

Doch die Wahrheit sieht anders aus, tatsächlich lagen alle relevanten Informationen vor: Der aerogene Übertragungsweg dominiert (nach Heinsberg war klar, dass die Schmierinfektion keine Rolle spielt), ältere Menschen sind besonders vulnerabel, und – von entscheidender Bedeutung – asymptomatische Infizierte können die Infektion übertragen. Für den Infektiologen ist letztere Erkenntnis wegweisend, denn damit ist klar, dass man die Ausbreitung nicht komplett kontrollieren kann, dass es also unabhängig von allen Maßnahmen zu einer weiteren Ausbreitung kommt. Die Situation war insofern vergleichbar mit anderen Infektionen, z.B. der HIV-Infektion, also für Spezialisten kein Neuland. 

Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Man muss sich von der Illusion der Eradikation verabschieden, und man darf sich nicht auf das sogenannte Containment, also die Übertragungsverhinderung, beschränken (wie leider geschehen). Man muss sich stattdessen um die besonders betroffenen Personengruppen kümmern, die ein hohes Risiko für Krankheitsfolgen tragen, und zwar in einer gezielten und kundigen Gesamtanstrengung aller Beteiligten (mit Hilfe der sozialen und professionellen Strukturen und nicht durch Wegsperren). Man muss die Nicht-Gefährdeten (z.B. Kinder) zur Vermeidung von Kollateralschäden aus der Schusslinie nehmen.

Man muss die richtigen Leute fragen, die in ihrer täglichen Praxis mit der Kontrolle von Epidemien zu tun haben und moderne Konzepte vertreten, in erster Linie aus der Krankenhaushygiene, der Infektiologie (infection control ist der internationale Begriff), dem Öffentlichen Gesundheitswesen etc. (Niemand, der mehr als reine Eindämmungspolitik vertritt, wurde gefragt.) Man muss das richtige Verständnis entwickeln, dass eine solche Epidemie eben nicht als homogene Ausbreitung „exponentiell“ fortschreitet, sondern sich von Clustern ausgehend in einer regional sehr unterschiedlichen Form entwickelt. Einzig zu ganz speziellen Themen muss man fragen: Molekularbiologen, Physiker, Chemiker, Biologen, Verkehrsexperten, Modellierer und andere, die keine Erfahrung mit der Kontrolle einer Epidemie haben.

(2) Reduktionistischer Rückfall: Der Krieg gegen das Virus

Zum essentiellen Fachwissen der Infektiologen gehört die Unterscheidung von Infektion und Infektionserkrankung. Bei einer Infektion ist der Erreger nachweisbar, bei einer Infektionserkrankung kommen Krankheitszeichen hinzu. Letztere ist in den seltensten Fällen allein durch den Erreger zu erklären, sondern stellt immer eine Wechselwirkung von pathogenem Effekt des Erregers und der Reaktion des Wirtes (Patienten) dar. Manchmal treten Krankheitszeichen überhaupt erst auf, wenn der Wirt anfängt, sein Immunsystem dagegen in Gang zu setzen. Es ist also nicht zielführend, nur über das Virus zu reden und ihm vielleicht noch den Krieg zu erklären (Macron am 16.3.2020 im französischen TV), sondern man muss ebenso über den Wirt sprechen. Wir sprechen dauernd über die nächste „Killer-Mutation“, aber selten darüber, wie wir die vulnerablen Gruppen genauer definieren können, und was nun genau die relevanten Immundefekte sind (aktuell z.B. hinsichtlich der Impfempfehlungen).

Es fehlt aber noch ein drittes Element für die vollständige Beschreibung einer Infektionserkrankung, nämlich das Umfeld, der Kontext. Rudolf Virchow hat es völlig richtig gesagt: Eine Tuberkulosetherapie oder -impfung rottet die Tuberkulose nicht aus, sondern man muss Licht in die Wohnsituation bringen. Eine Polio-Impfkampagne kann nur Erfolg haben, wenn die Trinkwasserversorgung verbessert wird – die Beispiele sind zahlreich. Und genau das spielte (und spielt) bei Corona eine tragende Rolle: die Wohn- und Arbeitssituation in der Fleischindustrie führte zum Ausbruch bei Tönnies in Gütersloh, die Institutionen der Pflege und Behindertenbetreuung führten vorhersehbarerweise zu den ersten Hotspots, die nosokomiale Übertragung in den mangelhaft vorbereiteten Krankenhäusern zu den ersten regionalen Ausbrüchen in Italien.

Anstatt von Anfang an ein Krankheitsverständnis zu verwenden, das auf den drei Pfeilern Erreger/Wirt/Umfeld beruht, nahm eine wirkliche Tragödie seinen Lauf. Man bediente sich ausschließlich eines reduktionistischen Krankheitsbildes, das nur auf das Virus und seine Mutationen starrte, und war nicht in der Lage, entsprechend der Grundlagen der modernen Infektiologie von Beginn an nach Wirtseigenschaften und Umfeldbedingungen zu differenzieren. So unterblieb jegliche Anstrengung, hierzu Schwerpunkte zu setzen, Zahlen vorzulegen sowie gezielte Präventionsstrategien zu entwickeln. Natürlich war ein rein Erreger-fokussiertes Verständnis von Infektionskrankheiten einmal modern, und zwar im 19. Jahrhundert, als man Bakterien (und später Viren) zu identifizieren lernte, aber heute ist die Entwicklung doch erheblich weiter vorangeschritten.

(3) Überspielt und ausgeschaltet: Ärztliche und pflegerische Fachkompetenz

Eine der wenig beachteten Analogien zwischen Corona und HIV ist der Konflikt zwischen der juristisch/politischen Perspektive und der fachlichen Perspektive der Gesundheitsberufe bzw. -Institutionen. Auch in den 80er-Jahren gab es von politischer Seite Bestrebungen, Infiziertenregister einzurichten oder Infizierte auf Ostseeinseln zu verbannen, statt die HIV-Infektion als medizinisch-pflegerisches Problem von Diagnostik, Therapie, fachkundiger Pflege und Infektionsepidemiologie einzuordnen. Auch damals hatte man Furcht vor „schwirrenden Keimen“ und weigerte sich, sogar die Pässe von vermeintlich Infizierten zu berühren, obwohl ebenso wie bei Corona schnell klar war, dass davon keinerlei Infektionsgefahr ausging. 

Anders als häufig behauptet, geht es in diesem Zusammenhang weniger um wissenschaftliche Erkenntnis (ein iterativer Prozess von Hypothesenbildung und deren Falsifizierung), sondern um die Umsetzung gängiger fachlicher Grundsätze. Die SARS-CoV-2-Infektion ist eine medizinische Diagnose, also warum kein frühzeitiger Einsatz eines differenzierten Antikörper-Nachweises z.B. um eine frische Infektion anzuzeigen? Warum Genesenenstatus nur für drei Monate anerkennen (im Gegensatz zur Impfung), wenn die fachliche Erfahrung grundsätzlich von einer höheren Immunität vom Kontakt mit dem gesamten Erreger ausgeht, als sie von der Impfung mit einem einzigen Antigen ausgehen kann? Warum nicht die Zahl der Replikationszyklen in der PCR (sog. CT-Wert) nutzen, um (Rest-)Besiedlung von Infektiosität abzugrenzen?

Warum Impfung von immunen Genesenen (AK-Diagnostik!) propagieren, als noch wenig Impfstoff vorhanden war? Warum wurden die Erfahrungen aus der Kontrolle von immerhin 700.000 nosokomialen (bei der Therapie erworbenen) Infektionen allein im Krankenhaus jedes Jahr in Deutschland nicht einbezogen? Warum wurden multidimensionale Score-Systeme nicht berücksichtigt, um z.B. bei Aufnahme auf Intensivstation zu unterscheiden, ob die Aufnahme „mit“ oder „wegen“ SARS-2 notwendig wird, oder um bei der Obduktion den Tod durch SARS-2 mit hinreichender Gewissheit diagnostizieren zu können (solche Score-Systeme sind z.B. in den Veröffentlichungen der Thesenpapier-Gruppe vorgeschlagen worden (s. Thesenpapier 4.1 vom 5.10.2021). Und hier sind ja nur die eng medizinischen Aspekte genannt, ethische Fragen des professionellen Selbstverständnisses wären anzufügen.

Missachtung der fachlichen Standards, dieser Befund zieht sich durch die letzten knapp drei Jahre. Natürlich hat jeder Fall einer individuellen Infektion auch Aspekte, die nicht nur die medizinisch-pflegerische Betreuung des einzelnen Patienten, sondern die Population betrifft (Gefahr der weiteren Übertragung), aber gerade dann sollten die Fach-Standards in den Mittelpunkt gestellt werden. Der Populationsaspekt ist gerade keine Entschuldigung für die Nichtbeachtung von Fachlichkeit.

Hier lesen die den zweiten Teil des Textes.

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