
- Diesen „Krieg“ gewinnen wir nur als Bürger, nicht als Soldaten
Mit Kriegsrhetorik, wie sie Emmanuel Macron in seiner Ansprache an die französische Nation benutzte, macht man es sich zu leicht. Im Kampf gegen das Virus braucht es keine Soldatentugenden, sondern die Tugend des Bürgers. Die müssen sich viele Wohlstandsverwöhnte aber erst wieder aneignen.
Nous sommes en guerre, „Wir sind im Krieg“: Diesen Satz schleuderte Emmanuel Macron den Franzosen vor rund einem Monat gleich ein halbes Dutzendmal in die Wohnzimmer – und sparte auch sonst nicht mit militärischen Metaphern. Der „Feind“ sei zwar unsichtbar, aber auf dem Vormarsch. Der Präsident rief den „Gesundheitskrieg“ aus und verhängte zur Bekämpfung der Corona-Pandemie eine der schärfsten Ausgangssperren Europas.
Tatsächlich haben wir Fünfzigjährige das Gefühl, zum zweiten Mal in unserem Leben Geschichte zu erleben. Das erste Mal war die bei vielen, auch bei mir, von Euphorie begleitete Umbruchperiode zwischen der Parlamentswahl in Polen 1989 und dem Ende der Sowjetunion 1991, die Mauern stürzen ließ und zig Millionen im Osten Deutschlands und Europas die Freiheit brachte. Diesmal ist es das Gegenteil: Ein Lockdown, der uns zu Haus einmauert und bei vielen Ängste weckt. Uns allen nimmt er die Freiheiten, die doch so selbstverständlich wirkten. Von hier, von der Disruption des scheinbar Selbstverständlichen bezieht Macrons martialische Rhetorik ihren Sinn.
Unvorstellbares wird mit einem Federstrich Realität
Für Jacob Burckhardt hatten Krisen karthartische Wirkung: Durch sie bleibe kein Stein auf dem anderen. Alles werde sozusagen auf null zurückgesetzt, weil sich in der Krise der Gang der Geschichte enorm beschleunigt. Krisen generierten so, oft unter unerträglichen Schmerzen, historische Größe. Die Beschleunigung ist in diesem Frühjahr mit Händen zu greifen, die Größe noch nicht.
Unvorstellbares wird mit einem Federstrich Realität, Politiker jonglieren mit hunderten von Milliarden, so als wäre es Monopolygeld. Was groß ist und was verzagt, was vorausschauend und was vielleicht nur betriebsblind, wird die Geschichte entscheiden. Im Moment fahren alle nur auf Sicht: Wissenschaftler und Journalisten und, ja, auch die Politiker.
Man nennt das Verantwortung
Das aber tun sie gar nicht einmal so schlecht. Sicher, Deutschland war auf die Pandemie schlechter vorbereitet als Taiwan. Und warum Kirchen geschlossen, Baumärkte dagegen offen, Geschäfte ab 800 Quadratmeter zu, kleinere dagegen geöffnet sein sollen, erschließt sich zumindest nicht auf den ersten Blick und schon gar nicht jedem. Aber ist Taiwan wirklich der Maßstab? Im Prinzip hat die Regierung das getan, was ihr Job ist: Sie hat sich wissenschaftliche Expertise geholt und dann gehandelt. Die Wissenschaftler waren sich nicht einig, aber das liegt in der Natur von Wissenschaft und damit müssen wir leben, ob es nun um den Klimawandel geht oder um die Pandemie.