Verteidigungspolitischer Strategiewechsel - Der Weg zur Wehrhaftigkeit erlaubt keine Denkverbote

Um für die neue Bedrohungslage in Europa gewappnet zu sein, braucht Deutschland den Aufbau einer schlagkräftigen Streitmacht. Hierfür darf es keine Denkverbote geben - auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Frage eines eigenen atomaren Schutzschildes müssen diskutiert werden.

Deutschland kann sich die militärische Abhängigkeit von seinen Verbündeten dauerhaft nicht leisten / picture alliance
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Dirk Notheis ist Mitherausgeber von Cicero und Gründer des Mittelstands­finanzierers Rantum Capital.

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Vor genau einem Jahr rollten die ersten russischen Panzer über die Grenze zur Ukraine, und seit diesem Tag ist nichts mehr, wie es einmal war in Europa. Tief genug betrachtet, ist die Dialektik des russischen Angriffskrieges unsere eigene Ohnmacht und alleinige Abhängigkeit vom Sicherheitsschirm der Amerikaner und damit unsere Unfähigkeit, uns im Ernstfall selbst zu verteidigen. Selbst im europäischen Miteinander lässt sich aktuell keine wirksame Überwindungsstrategie für diese Ohnmacht finden. 

Eine vereinte Streitmacht unter europäischem Kommando war und ist politische Fiktion und wird es – leider – auf lange Sicht bleiben. Zu stark sind hier nationale Interessen und tiefsitzende, historisch überlieferte Gefühle und Bedürfnisse, für die man aus deutscher Sicht nach fast acht Jahrzehnten Frieden auf dem Gebiet der EU kein Verständnis haben muss, man diese aber als faktisch hinzunehmen hat. Die selbstempfundene Stärke Russlands ist eben nicht seine eigene, sondern unsere Schwäche. Putin denkt in machtpolitischen Kategorien und er versteht sie sehr gut, besser jedenfalls als die aktuelle politische Führung unseres Landes. 

Aufbau einer ernstzunehmenden Verteidigungsmacht

Möchte Deutschland langfristig einen wirkungsvollen Beitrag zur Stabilität in Europa und zur faktischen Abschreckung der vermutlich weit über die Ukraine hinausreichenden territorialen, post-faschistischen Anmaßungen des Kremlfürsten leisten, kann das nur über einen schnellen und konsequenten Strategiewechsel in Richtung des Aufbaus einer eigenen Streit- bzw. Verteidigungsmacht gelingen, die ihren Namen verdient und ihresgleichen auf dem europäischen Kontinent sucht.

Dies wäre auf den Grundlangen unserer freiheitlich verfassten und bewährten Demokratie kein imperialer Akt, sondern im Gegenteil die demokratisch konsequente, dialektische Antwort auf die neue Unsicherheitslage und damit die Antithese zum Imperialismus russischer Prägung und unserer Zeit schlechthin. 

Das damit einhergehende Unabhängigerwerden von den USA würde zugleich einen balancierten Beitrag zur Nato sowie zur europäischen Integration leisten, ohne die historischen Verdienste unseres transatlantischen Partners in irgendeiner Weise zu schmälern. Die Strategie muss nur gut kommuniziert werden und eingebettet sein, nicht in jede Befindlichkeit, aber in die fundamental berechtigten Sicherheitsbedürfnisse unserer europäischen Nachbarn, insbesondere im Osten, und deren Ansprüche an die Deutschen als eine Führungsnation des demokratischen Europas. Deutschland muss seiner Verantwortung gerecht werden und sich kraftvoll an die Spitze der Bewegung in Europa setzen. Denn warten auf den europäischen Geleitzug heißt warten auf den Langsamsten und verwirkt das Gebot der Stunde. 

Wehrpflicht und europäische Wehrindustrie

Neben dem Aufbau einer Armee, die mindestens dreimal der numerischen Stärke unserer heutigen Bundeswehr entsprechen müsste und stets mit den neuesten Waffensystemen auszustatten wäre, ist auch tabufrei über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht und damit der tieferen Verankerung der Streitkräfte in der Bevölkerung, einschließlich damit einhergehender Mobilisierungspotentiale für den Ernstfall, zu diskutieren. Gleiches gilt für die strategische Entwicklung einer europäischen Wehrindustrie mit starkem deutschen Beitrag, die auch auf diesem Feld langfristig Unabhängigkeit von den wirtschaftlichen Interessen des militärisch-ökonomischen Komplexes in den USA sicherstellen sollte. 

Für die USA ist das nicht zuletzt aufgrund ihres pazifischen Interessenfokus verschmerzbar, für uns aber eine essenzielle Frage. Dass wir heute nicht in der Lage sind mit unserem „Sondervermögen“ einen wettbewerbsfähigen europäischen Kampfjet zu bestellen, ist das Ergebnis abrüstungs- und friedenspolitischer Irrwege, die insbesondere die deutsche und auch die europäische Politik in den letzten Jahrzehnten, vielleicht gut gemeint, aber mit schier grenzenloser Naivität beschritten haben. 

Tabufreier Diskurs über atomaren Schutzschild

Wenn wir schon bei einem tabufreien sicherheitspolitischen Diskurs und der Frage der notwendigen Dimensionierung der eigenständigen Wehrhaftigkeit Deutschlands und damit Europas anlanden, dann darf auch die Frage des atomaren Schutzschildes und seiner Wirksamkeit in der marginalen Situation nicht außen vor bleiben.

Es ist und bleibt ein vitales Element, im Zweifel das empirisch vitalste Element der Abschreckung und Abwehr, obgleich das Schild aufgrund seines Finalitätswesens und daher der Hemmschwelle seines Einsatzes eine konventionelle Eskalation zu Beginn territorialer Auseinandersetzungen wohl allein nicht würde verhindern können. Historisch ist es uns auferlegt, diesen Schutz bei Dritten zu suchen, was als Ohnmacht empirisch bis zum heutigen Tage auch für unsere Sicherheit ausgereicht hat. Im Zuge des Beistandspaktes der Nato wirkt das Schild imaginär über und mit uns. 

 

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Unsere französischen Nachbarn halten hingegen seit Ende der fünfziger Jahre eigene Systeme, die Force de Dissuasion Nucléaire Française, zu ihrer Verteidigung und zu Abschreckungszwecken vor. Die atomare Bewaffnung der französischen Armee war damals eine Antwort auf den Kalten Krieg und ein Element der Unabhängigkeit gegenüber dem alleinigen Verlass auf den Schutz durch die USA.

Wenn es richtig ist, dass wir, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, uns heute im Sinne der Zeitenwende am Beginn einer neuen historischen Phase eines zweiten Kalten Krieges befinden, dann darf es diskursseitig erlaubt sein, in Analogie der damaligen Entscheidungssituation der Franzosen, die Frage zu stellen, ob und warum nicht auch Deutschland künftig eigene atomare Potentiale diskutieren sollte. Was für Frankreich recht ist, darf für Deutschland nicht unbillig sein, auch wenn aktuelle internationale Vertragslagen dem noch entgegenstehen. 

Souveränität Deutschlands bleibt das Primat der Politik

Die bereits heute auf unserem Territorium stationierten amerikanischen Mittelstreckensysteme könnten betreffend ihrer Kostentragung und Verfügungsgewalt auf die Bundesrepublik übertragen werden. Gleichwohl kann ein solcher Diskurs nicht im luftleeren Raum geschehen, sondern muss tief eingebettet sein in bündnis- und vertragsrechtliche Rand- und Rahmenbedingungen. Die Souveränität und äußere Sicherheit Deutschlands aber ist und bleibt das Primat deutscher Politik und sollte als solches keine Denkverbote akzeptieren.

Allein der Diskurs darüber würde gegenüber jedem imperialen Rezipienten verdeutlichen, dass wir uns unserer deutschen Sicherheitsinteressen im europäischen Miteinander sehr bewusst sind und diese mit allen uns theoretisch, materiell und praktisch zur Verfügung stehenden Mitteln entschlossen verfolgen werden.

Sicherheitsbegriff endlich erweitern

Wir haben unbestritten die ökonomischen Mittel für einen fundamentalen Strategiewechsel, auch wenn er große Anstrengungen und Budgetumschichtungen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten erfordern wird. Wenn überhaupt jemand dies vermag, dann wir Deutschen, die viertgrößte Wirtschaftsnation der Erde. Selbst über die Einführung eines „Sicherheits-Solis“ oder die Umwidmung des aktuellen Solis zu diesem Zweck kann und darf legitimerweise gesprochen werden.

Jedenfalls ist es mit des Kanzlers 100 Milliarden Sondervermögen bei weitem nicht getan und es erscheint vor der Größe der Herausforderung geradezu als „Taschen-Wumms“. Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius macht in diesem Zusammenhang Hoffnungen und es ist ihm und uns allen sehr zu wünschen, dass er seine Möglichkeiten gerade im ersten Jahr seiner Amtszeit, in dem sein Einfluss auf Olaf Scholz und die Koalition am größten sein dürfte, hinreichend ausschöpft.

Denn was ist es, was der steuerehrliche Bürger eines modernen, freiheitlichen Staates denn von demselben erwarten darf, wenn nicht Sicherheit in all seinen Dimensionen nach innen wie nach außen? Wir haben uns fiskalpolitisch über viele Bundesregierungen hinweg allzu sehr auf die innere, vor allem die soziale und kulturelle Sicherheitsfürsorge des Staates konzentriert, ohne dabei zu berücksichtigen, dass ohne äußere Sicherheit alle inneren und damit auch sozialen Sicherheiten in der marginalen Situation zu bloßer Makulatur werden.

Der Wert der Unversehrtheit von Grenzen erhält mit dieser Perspektive in einem modernen Staatswesen existentielle Qualität und spielt dabei nicht nur in der Flüchtlingsfrage, sondern vor allem in der Frage der nationalen Souveränität die entscheidende Rolle. Dafür alle Mittel und Kräfte zu mobilisieren ist vor dem Hintergrund der aktuellen Bedrohungen keine Alternative, sondern eine Notwendigkeit deutscher Politik.

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