Boris Palmer im Interview - „Im schlimmsten Fall endet das in einem Bürgerkrieg“

Boris Palmer gilt als streitbarster Bürgermeister Deutschlands. Im Interview spricht er über die unbeliebte Ampelkoalition, das geplante Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus und zur Frage, ob er dem Bündnis Sahra Wagenknecht beitreten wird.

„Die Mitte der Gesellschaft kommt in den aktuellen Debatten kaum vor“, sagt Palmer / dpa
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Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Boris Palmer ist Oberbürgermeister von Tübingen und einer der bekanntesten Kommunalpolitiker Deutschlands. Im Mai 2023 ist er aus der grünen Partei ausgetreten.

Herr Palmer, in einer aktuellen Forsa-Umfrage kommen die drei Ampelparteien zusammengerechnet gerade einmal auf 33 Prozent. Das Meinungsforschungsinstitut Insa ermittelte im Januar, dass mehr als drei Viertel der Deutschen mit der Bundesregierung unzufrieden sind. Wie erklären Sie sich dieses massive Unbehagen?

Die Krisen unserer Zeit sind so mächtig, dass jede Regierung Probleme hätte. Die anhaltende Schwäche der Wirtschaft schlägt auch durch. Bei der Ampel kommt aber hinzu, dass sie nicht die Stärken, sondern die Schwächen der drei Partner hervorbringt. Ein Beispiel: Die FDP müsste einfach durchsetzen, dass die Rente mit 63 beendet wird, weil wir sie nicht bezahlen können und die Fachkräfte dringend bis 67 brauchen. Stattdessen hat man sich geeinigt, zur Finanzierung der Rente Schulden aufzunehmen, um Aktien zu kaufen. Liberaler Marktfetischismus und sozialdemokratischer Versorgungsstaat in einem!

Sie klammern in Ihrer Antwort die Grünen aus. Dabei wird oftmals gerade das Handeln der grünen Minister als Grund für die Unbeliebtheit der Ampelkoalition genannt.

Die Regierungspolitik der Ampel wird mit einem großen moralischen Überbau begründet, der jedoch von vielen nicht geteilt und als anmaßend empfunden wird. Die unmittelbare Übersetzung des unabweisbaren Gebots der Rettung des Weltklimas in „Der Bürger muss jetzt dieses oder jenes tun“ funktioniert nicht. Dafür ist das Gegenargument, an einem SUV gehe das Klima nicht zugrunde, zu offensichtlich. Wenn der Einzelne dann seine Heizung rausschmeißen soll oder keinen Diesel mehr fahren darf, sorgt das für großes Unbehagen.

Wie erklären Sie sich diese moralische Hybris?

Das kann ich Ihnen schon aus eigener Erfahrung erklären. Als junger Mensch bin ich dieser Versuchung auch erlegen. Wenn man für die Rettung des Weltklimas einsteht, kann bei einem die Auffassung erwachsen, dass man moralisch höherwertige Anliegen verfolgt. Das ist emotional nachvollziehbar. Doch auf diese Weise wird man ökologische Ziele gewiss nicht erreichen. Im sozialen Kontext wird das am verständlichsten: Wir wissen alle, dass die Klimaschutzbewegung mehrheitlich aus gebildeten Menschen besteht, denen es auch materiell nicht schlecht geht. Doch in Deutschland gibt es ebenfalls Menschen, die nicht wissen, ob sie ihre Miete am Ende des Monats oder die Ausbildung ihrer Kinder bezahlen können. Klimabewegte Menschen verlieren zwangsläufig die Unterstützung, wenn sie diesen besorgten Bürgern sagen, dass die Zukunft des Planeten wichtiger sei als ihre individuellen Sorgen.

Welche Rolle spielt das Thema Migration?

Das Dauerproblem der unkontrollierten Migration ist eine weitere Ursache für das Unbehagen. Denn damit gehen Konkurrenzkämpfe auf dem Wohnungsmarkt, Veränderungen des öffentlichen Raums und Belastungen des Steuerzahlers durch zunehmende Sozialtransfers einher. Eine große Mehrheit in der Bevölkerung unterstützt das individuelle Recht auf Asyl. Allerdings unter der Voraussetzung, dass der Fluchtgrund plausibel ist, die Person sich an Gesetze hält und ihren Unterhalt mit eigener Arbeit bestreiten möchte. Wenn dann manche Grüne sagen, das sei alles nicht steuerbar, man könne die Menschen auf dem Weg nach Europa sowieso nicht aufhalten, propagiert man den handlungsunfähigen Staat. Dass der Staat dann kein Vertrauen findet, verwundert nicht.

Wir erleben zurzeit eine starke Polarisierung in den politischen Debatten. Oftmals wird dieses Phänomen mit dem Erstarken der AfD erklärt. Doch gibt es nicht auch einen Kulturkampf von links, der eine zersetzende Wirkung auf den öffentlichen Diskurs hat?

Mein Eindruck ist, dass die Politik viel zu stark von den Rändern definiert wird. Die Mitte der Gesellschaft kommt in den aktuellen Debatten kaum vor. Das wird am Beispiel der Asyldebatte überdeutlich: Die eine Seite propagiert offene Grenzen und die andere behauptet, dass jeder Migrant ein krimineller Schmarotzer sei, der uns nur ausnutzen möchte. Diese beiden Meinungsextreme sind völlig unverträglich und lassen nicht die kleinste Form des Kompromisses zu. Doch sie dominieren unsere Debatte. Sie produzieren auch das Phänomen der Reaktanz: Statt Kompromisse zu suchen, mauern sich viele Menschen erst recht in ihren Meinungen ein. Das gilt für woke und linksidentitäre Milieus ebenso wie für stramme Rechte.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat im Februar anlässlich der Correctiv-Recherchen einen 13 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog gegen Rechtsextremismus vorgestellt. Darin plant Faeser auch eine stärkere Verfolgung von Vorfällen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Welche Folgen kann eine solche Grenzverschiebung für die Meinungsfreiheit haben?

Bereits zwei Drittel der Deutschen sagen in Umfragen, dass man in diesem Land ausgegrenzt wird, wenn man bestimmte Positionen vertritt, die nicht dem Mainstream entsprechen. Ich habe das selbst erlebt und finde es schon problematisch genug, wenn in der Zivilgesellschaft so agiert wird. Wenn man aber nicht vom Strafgesetzbuch gedeckte Ächtungsmechanismen durch den Staat etabliert, ist der Weg zur völligen Willkür nicht mehr weit. Der Staat darf sich auf gar keinen Fall an solchen Ausgrenzungen beteiligen, denn im schlimmsten Fall endet das in einem Bürgerkrieg.
 

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Auch die Verabschiedung des Demokratiefördergesetzes ist eine der 13 geplanten Maßnahmen im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Sollte der Staat aktiv in den Meinungsbildungsprozess eingreifen?

Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Auf den ersten Blick ist das Demokratiefördergesetz wohlbegründet. Wer würde nicht unterschreiben, dass wir die Demokratie schützen und stärken müssen? Doch die Verführung besteht darin, das Gesetz gleichzeitig zu nutzen, um Parteipolitik zu betreiben. Genau das nehme ich gegenwärtig auch wahr: Zahlreiche staatlich finanzierte Demokratieförderprogramme sind nicht demokratieförderlich, sondern treiben eine bestimmte politische Agenda voran.

Haben Sie Beispiele dafür?

Es gibt eine bundesweite Meldestelle für Antifeminismus. Hochinteressant ist, was man unter diesen Begriff fasst. Ich habe beispielsweise dort versucht zu melden, dass Feministinnen der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes in Tübingen als „TERF“ („trans-ausschließende Radikalfeministinnen“; Anm. d. Red.) beleidigt wurden, weil sie sich neuen woken Ideologien nicht anschließen möchten. Ich meine konkret queerfeministische Theorien, die das biologische Geschlecht in Abrede stellen. Doch das interessiert diese Meldestelle nicht, da sie eine andere Agenda verfolgt. Ich glaube, dass man dieser Bundesregierung leider nachsagen muss, dass sie derlei versteckte Agenden mit der Demokratieförderung koppelt. Das halte ich für brandgefährlich, da hierdurch die Förderung der Demokratie indirekt diskreditiert wird.

Wie haben Sie die sogenannten Demonstrationen gegen rechts in den letzten Monaten wahrgenommen? Auch in Ihrer Heimatstadt Tübingen gingen tausende Menschen auf die Straße.

Prinzipiell ist es ein gutes Zeichen der Zivilgesellschaft, gegen Rechtsextremismus auf die Straße zu gehen. Problematisch ist es, wenn auf den entsprechenden Demonstrationen nur ein extrem enges Meinungsspektrum unter den Rednern zugelassen wird. Dieses Spektrum begrenzte sich in den vergangenen Monaten oftmals auf linksidentitäre und gelegentlich sogar linksextreme Aktivisten. Das habe ich auch in Tübingen bei der großen Marktplatz-Demonstration so erlebt. Die dortigen Redebeiträge haben nicht nur unsere Demokratie verteidigt, sondern eine linksgeprägte Auffassung von Demokratie propagiert. Doch Demokratie ist immer die Vielfalt der Meinungen und nicht nur das eigene Meinungsspektrum.

Nach einem vermeintlichen Rassismus-Eklat bei einer Konferenz an der Frankfurter Goethe-Universität, der nun knapp ein Jahr zurückliegt, sind Sie aus der grünen Partei ausgetreten. Vertreten Sie retrospektiv die Ansicht, dass sich die Grünen mit ihrer politischen Agenda von Ihnen entfremdet haben? Oder haben Sie sich immer weiter wegentwickelt?

Bei einem Entfremdungsprozess handelt es sich meistens um ein gegenseitiges Auseinanderleben. Ich bin bei Entwicklungen der jüngeren Zeit einfach nicht mitgegangen. Als ich bei den Grünen eingetreten bin, galt noch das Credo „Ökologie first“. Mittlerweile sind Theorien der Identitätspolitik hinzugekommen, die ich zunächst gar nicht kannte. Meine Verstöße gegen diese Theorien sind zu Beginn aus Unkenntnis entstanden. Ich wusste gar nicht, dass es problematisch sein soll, einen „Mohrenkopf“ zu essen. Diese Diskussionen hielt ich anfangs eher für skurril. Mittlerweile kenne ich die identitätspolitischen Theorien dahinter – doch teile sie schlichtweg nicht. So sind auch die Ausschlussverfahren gegen mich zustande gekommen.

Fühlen Sie sich politisch heimatlos?

Eine politische Heimat gibt es leider für mich nicht mehr. Meine Heimat waren immer die Grünen. In erster Linie wegen des ökologischen Anliegens. Eine andere Partei, die Ökologie derart ernsthaft wie die Grünen betreibt, gibt es in Deutschland nicht. Ich muss mich damit abfinden, dass ich keine eigene politische Heimat mehr habe, mit der ich mich identifizieren kann. Doch so schlimm ist das nicht, ich kann mich auch als parteiloser Oberbürgermeister in Debatten einbringen.

Auch Sahra Wagenknecht genießt, ähnlich wie Sie, eine enorme Popularität über breite Bevölkerungskreise hinweg und war nach ihrem Zerwürfnis mit Teilen der Linkspartei bis vor kurzem noch politisch heimatlos. Können Sie sich vorstellen, in die von Wagenknecht im Januar gegründete Partei einzutreten? Sie könnten dort zu einem pragmatischen Aushängeschild für Themen der Ökologie werden …

Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mir gut vorstellen, mit Sahra Wagenknecht anregend zu streiten und zu diskutieren. Und ganz nebenbei: Das machen wir gelegentlich auch. Aber wir haben fundamentale politische Differenzen, die mich davon abhalten, ihrer neu gegründeten Partei beizutreten.

Was sind das für unüberbrückbare politische Differenzen?

Das betrifft vor allem die ökologische Frage. Während Sahra Wagenknecht gegenüber der Windenergie eine sehr kritische Haltung hat, bin ich der Meinung, dass wir auf sie nicht verzichten können. Auch kann ich mich nicht mit ihren geplanten Staatsinterventionen in die Wirtschaft anfreunden. Wenn sie von Zerschlagungen von Monopolen spricht und dabei Ketten im Einzelhandel nennt, teile ich das nicht. Wir haben in der Migrationspolitik die gleiche Sicht, und wir lehnen beide die Auswüchse der woken Identitätspolitik ab. Das reicht aber nicht, um gemeinsam Verantwortung zu übernehmen, und den Anspruch muss man mit einer Parteigründung schon haben. 

Das Gespräch führte Clemens Traub.

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