Aiwanger ante portas - Freie Wähler machen Suche nach Mehrheiten noch schwieriger

Die Freien Wähler werden bei der Landtagswahl in Bayern voraussichtlich zweitstärkste Partei. In Hessen könnten sie es über die Fünfprozenthürde schaffen. Falls sie 2025 auch in den Bundestag einziehen, würde die Koalitionsbildung zusätzlich erschwert.

Hubert Aiwanger dirigiert vor der Bavaria beim Münchner Oktoberfest / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Falls die Meinungsforscher nicht völlig falsch liegen, stehen die Freien Wähler (FW) in Bayern vor ihrem bisher größten Triumph. Am kommenden Sonntag können sie mit 15 bis 17 Prozent rechnen und würden damit zweitstärkste Partei – vor den Grünen und mit deutlichem Abstand vor der SPD. 

Das könnte dann Markus Söder und seiner CSU Kopfzerbrechen bereiten, denn ein so gestärkter Hubert Aiwanger wird in den Koalitionsverhandlungen auf mehr Einfluss pochen, als er bisher hatte. Ein FW-Wahlerfolg im Freistaat hätte zudem bundespolitische Auswirkungen: Er würde die Aussichten der FW, 2025 in den Bundestag einzuziehen, beflügeln. 

Aiwanger hat in der Flugblatt-Affäre eigentlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Aber er profitiert von der gegen ihn gerichteten Kampagne der Süddeutschen Zeitung, weil er sie geschickt nutzt, um sich als einsamer Kämpfer gegen das „Establishment“ zu profilieren. Der Frust vieler Wähler gegen „die Politik“ schlägt bei Außenseitern wie ihm positiv zu Buche. Mögen die Medien und andere Politiker ihn als Provinzdödel karikieren: Sein Opferstatus bringt Stimmen. 

Das wirkt sich bis nach Hessen aus, wo ebenfalls am Sonntag gewählt wird. Dort rangieren die Freien Wähler plötzlich bei 4 Prozent; vor der Affäre hatten sie noch unter 3 Prozent gelegen. Bei der Landtagswahl vor fünf Jahren waren die Freien Wähler mit 3,0 Prozent gescheitert. 

Die FW sind attraktiv für Wähler, denen die AfD zu rechts und die Linken zu links sind

Es ist also nicht ausgeschlossen, dass die Freien Wähler in Hessen dieses Mal die Fünfprozenthürde schaffen. Das ist ihnen bisher neben Bayern, wo sie seit 2008 im Landtag sitzen, bereits in Brandenburg und in Rheinland-Pfalz gelungen. In Brandenburg lagen sie 2019 mit 5,0 Prozent vor der FDP (4,1 Prozent), in Rheinland-Pfalz 2021 mit 5,4 Prozent fast gleichauf mit den mitregierenden Freien Demokraten (5,5 Prozent).  

Sollten die FW in Hessen in den Landtag einziehen, wäre das geradezu sensationell: Ihre Spitzenkandidaten kennt keiner, ebenso wenig ihr Programm, von einem Wahlkampf ist – von ein paar Plakaten abgesehen – nichts zu sehen und nichts zu spüren. Dass sie in vielen Kommunen sachliche, unideologische Arbeit leisten, kann ja noch kein hinreichender Grund sein, ihnen auch landespolitisches Geschick zuzutrauen. 

Offenbar entwickeln sich die Freien Wähler zu einer weiteren politischen Gruppierung, denen von den etablierten Parteien enttäuschte Bürger ihre Stimme geben – unabhängig von den Erfolgsaussichten. Wenn in Hessen wie in Bayern obendrein ein buntes Sammelsurium an Splitterparteien mit 6 bis 7 Prozent rechnen kann, deutet das auf eine wachsende Zahl von Protestwählern hin.  

Offenbar sammeln die Freien Wähler „Wutwähler“ ein, denen die AfD zu rechtsextrem und die Linke zu sozialistisch ist. Die FDP fällt als Ventil für aufgestauten Unmut ebenfalls aus, seit sie in Berlin Teil der Ampel ist. Die Liberalen werden gerade von bürgerlichen Wechselwählern zunehmend als Problem wahrgenommen, nicht als Teil einer Lösung. 

Für die Bayern-Koalition“ zahlte die CSU bei der Bundestagswahl einen hohen Preis

Mit ihrem Slogan „Bürgernahe Politik mit gesundem Menschenverstand“ bedienen die Freien Wähler das weit verbreitete Bedürfnis nach „unpolitischen“ Lösungen. In der Tat müssen sie in den Kommunen keine Rücksicht darauf nehmen, ob sie bei einer Entscheidung gegen ein Parteiprogramm verstoßen oder nicht.  

Bezeichnenderweise ist der Bundesverband der Freien Wähler ein eingetragener Verein und formal keine Partei. Aiwanger selbst will das ändern. Doch gibt es in manchen Landesverbänden wenig Neigung, die Ebene der kommunalen Sachpolitik zu verlassen. FW-Listen treten zwar immer häufiger bei Landtagswahlen an, kommen aber meistens nicht über einen Stimmenanteil von einem Prozent hinaus. 

 

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Bei der Bundestagswahl 2021 hatte die Aiwanger-Truppe 2,4 Prozent erreicht. Jetzt will er die Fünfprozenthürde schaffen, indem er sich als Partner für eine bürgerliche Mehrheit andient – zusammen mit CDU/CSU und FDP. Da die FW-Kandidaten sich überwiegend an die Klientel der CSU und der Liberalen wenden, sehen diese in den Freien Wählern eher eine überflüssige Konkurrenz und nicht einen potentiellen Bündnispartner.  

Das ist in Bayern anders, weil Söder sonst schon vor fünf Jahren mit den Grünen hätte koalieren müssen. Für seine „Bayern-Koalition“ mit den Freien Wählern zahlte die CSU bei der Bundestagswahl 2021 jedoch einen hohen Preis. Ihrem Absturz auf 37,1 Prozent, einem Minus von 7,1 Punkten, standen stolze 7,5 Prozent für Aiwanger gegenüber.  

Parlamente mit immer mehr Parteien erschweren das Regieren

Jenseits bajuwarischer Besonderheiten ist nicht auszuschließen, dass die Freien Wähler zu einer weiteren Zersplitterung der Parlamente beitragen. Die gute alte Zeit mit einem schwarz-gelben und einem rot-grünen Block sind längst vorbei. Mit der Linken und der AfD sind zwei weitere Player mit im Spiel, was Zweierkoalitionen enorm erschwert. Sollten 2025 die Freien Wähler ebenfalls in den Bundestag einziehen, würden Koalitionsbildungen zusätzlich erschwert. Zudem könnte auch eine Wagenknecht-Partei dazukommen. 

Berlin ist nicht Weimar, als im Reichstag nach der letzten freien Wahl im November 1932 14 Parteien im Parlament vertreten waren. Doch verhindert die Fünfprozenthürde, anders als bei ihrer Einführung 1949 gedacht, eben nicht das Aufkommen neuer Parteien. Unsere immer heterogener werdende Gesellschaft sowie die immer geringere Bindung der Wähler an die „alten“ Parteien spiegeln sich eben in einem vielfarbigeren Parlament wider. 

Einerseits ist es zu begrüßen, wenn Bürger sich politisch engagieren und sich zur Wahl stellen. Andererseits sinkt mit der Zahl der im Parlament vertretenen Parteien die Aussicht auf Parteienbündnisse mit relativ großen inhaltlichen Schnittmengen. Die Ampel mit zwei linken und einer bürgerlich-liberalen Partei belegt, dass nur schwer zusammen regieren kann, wer einfach nicht zusammenpasst.  

Wir haben es mit einem gefährlichen Teufelskreis zu tun: Parlamente mit immer mehr Parteien erschweren das Regieren. Das wiederum verleitet unzufriedene Bürger dazu, für neu auftretende Parteien zu stimmen. Was wiederum die nächste Regierungsbildung noch schwieriger macht. 

George Bernard Shaw, Schriftsteller und Politiker, hat das auf den Punkt gebracht: „Demokratie ist ein Verfahren, das garantiert, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen.“  

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