Untersuchungsausschuss und Enquete-Kommission - Afghanistan-Einsatz: „Das war ein fatales Desaster des Westens“

Im vergangenen Jahr haben sich die westlichen Alliierten innerhalb kurzer Zeit aus Afghanistan zurückgezogen. Seitdem herrschen in dem Land, das 20 Jahre lang Kriegsschauplatz war, wieder die Taliban. Ein Untersuchungsausschuss und eine Enquete-Kommission sollen die Mission jetzt aus deutscher Perspektive aufarbeiten. Im Interview spricht Hans-Peter Bartels, ehemaliger Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags, über die größten Fehler dieser langen Intervention und die wichtigsten Lehren für den Westen.

Ende einer gescheiterten Intervention: Die letzten britischen Truppen verlassen im Oktober Afghanistan / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Hans-Peter Bartels ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war seit 1998 SPD-Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags von 2015 bis 2020. Er ist Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

Herr Bartels, wie bewerten Sie rückblickend die Vorgänge ab Sommer 2021, als die westlichen Truppen innerhalb kurzer Zeit aus Afghanistan abgezogen sind?

Das war ein fatales Desaster des Westens, eines mit Ansage. Nachdem der damalige US-Präsident Donald Trump ein Abkommen mit den Taliban ausgehandelt hatte, sah es so aus, als ob die Nato das Land quasi bedingungslos den Taliban übergibt.

Zwei Gremien sollen nun für Aufklärung über den Afghanistan-Einsatz sorgen: ein Untersuchungsausschuss und eine Enquete-Kommission. Ist das der richtige Weg?

Dass man diesen Einsatz aufarbeitet, auch unter dem Gesichtspunkt, was sich aus dieser langen Intervention lernen lässt, ist zweifellos richtig. Gleich zwei Gremien erscheinen vielleicht aus Sicht heutiger Aktualitäten eines zu viel. Aber der Bundestag hat dafür sicher Kapazität genug. Zur Wahrheit gehört übrigens auch, dass man schon 2015, nachdem die Isaf-Mission zu Ende gegangen war, mit der Aufarbeitung hätte anfangen können. Das wurde versäumt, vielleicht schien es politisch nicht opportun. Es gibt zwar eine kritische Missions-Analyse der Bundeswehr – die allerdings ist nach wie vor geheim. Die Enquete-Kommission sollte sich diese Verschlusssache vorlegen lassen. Eine umfassende Evaluation durch die Bundesregierung oder ein entsprechendes Nato-Papier gibt es bis heute nicht.

Untersuchungsausschuss und Enquete-Kommission haben eine Art Arbeitsteilung vor. Der Untersuchungsausschuss soll sich vor allem mit der chaotische Evakuierung im vergangenen Jahr beschäftigen. Wie fällt Ihr Urteil hier aus?

Ursächlich war wohl eine krasse Fehleinschätzung durch die westlichen Regierungen. Man hatte ja eher darauf gehofft, eine afghanische Regierung zu hinterlassen, die einigermaßen stabil das Land weiter zusammenhalten kann. Das Risiko, dass auch alles schnell zusammenbrechen könnte, wollte man nicht sehen. Viele Afghanen werden sich gedacht haben: Wenn sowieso alles auf die schiefe Ebene gerät, was nützt da noch kämpfen?

 

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Wobei ich mich erinnere, dass man kurz nach dem Abzug noch hoffte, dass Rebellengruppen die Taliban zurückdrängen könnten. Das war, lässt sich rückblickend wohl sagen, leider eine Illusion.

Ja. Kurz nach dem US-Taliban-Abkommen hatten sich Teile der afghanischen Machtelite offenbar zügig mit den Taliban verständigt. Hamid Karzai, der von 2001 bis 2014 Präsident Afghanistans war, lebt bis heute in Kabul. Die Regierung seines Nachfolgers Aschraf Ghani dagegen war schon vor der islamistischen Machtübernahme auseinandergebrochen, Ghani ins Exil geflohen. Das zeigt, dass viele Afghanen nicht mehr glaubten, noch auf den Westen bauen zu können. Gleichzeitig hatte das chaotische Ende dieser Mission auch Außenwirkungen über Afghanistan hinaus.

Was meinen Sie?

Unsere Angewiesenheit auf die militärischen Kapazitäten der Amerikaner hat schonungslos die Schwäche Europas offengelegt. Wir Europäer hätten auch ohne die USA in der Lage sein müssen, einen Evakuierungs-Flugplatz wie den in Kabul zu schützen. Die Umstände unseres Scheiterns nach 20 Jahren vermeintlichen Nation Buildings haben darüber hinaus möglicherweise Putins Bild des schwachen, dekadenten Westens dahingehend abgerundet, dass er meinte, sich den Überfall auf die Ukraine leisten zu können. Ob das wirklich so ist, weiß ich natürlich nicht. Aber „Afghanistan“ war sicher kein Muster, mit dem der Westen dem Rest der Welt seine Stärke und Durchsetzungsfähigkeit demonstriert hätte.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Aber ich habe das ja immer als so ein bisschen arrogant empfunden, dass der Westen glaubte, er könne seine Werte und sein Verständnis von Demokratie einfach in ein Land wie Afghanistan exportieren. Wie sehen Sie das?

Auch die Demokratie in Europa und Amerika war hart erkämpft. Menschenrechte gelten universell! Jeder einzelne Mensch ist zum Leben in Freiheit und Selbstbestimmung geboren und begabt. Es gibt keine biologische oder kulturelle Grenzlinie, auf deren einer Seite die Menschen demokratiefähig sind, die auf der anderen aber nicht. Manchmal gestalten sich die Wege zur Demokratie allerdings länger und komplizierter.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie Japan: Das Kaiserreich hatte vor dem Zweiten Weltkrieg nicht viel Erfahrung mit einer Ordnung der Freiheit, ist nach der vollständigen Niederlage ab 1945 aber zu einer erfolgreichen Demokratie geworden. „Demokratieexport“ ist also möglich, aber natürlich nicht voraussetzungslos, sondern an viele Bedingungen geknüpft. Selbstverständlich sind Afghanen demokratiefähig, und ein großer Teil der Menschen dort will in Freiheit leben. Etwa die Hälfte der afghanischen Bevölkerung wurde nach der Vertreibung des Taliban-Regimes 2001 geboren. Es gab ganz bestimmt die Chance auf eine andere Zukunft, als das Land einfach wieder den Taliban zu überlassen. Aber das ist vergossene Milch.

Heißt das, der „Demokratieexport“ hat in Afghanistan unter anderem deshalb nicht funktioniert, weil da zu halbgar herangegangen wurde?

Vielleicht – und weil die Strategen der Helfer-Nationen das Land nie wirklich verstanden haben. Man ist dort zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Zielsetzungen und sehr unterschiedlichen Akteuren unterwegs gewesen. Es gibt ein bemerkenswertes Zitat von General Stanley McChrystal, der 2009 Befehlshaber der Isaf-Truppen in Afghanistan war und damals in dankenswerter Offenheit sagte: „Wir fahren mit dem U-Boot durch Afghanistan.“ Ich finde, das ist ein passendes Bild für die Blindheit gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen dort: mit all den unterschiedlichen Stammeszugehörigkeiten, Sprachen und Religionen. Ein Teil Afghanistans lebt im 21. Jahrhundert, ein anderer im 16. Damit muss man erst einmal umgehen können, aber eben auch umgehen wollen.

Im Untersuchungsausschuss soll es unter anderem um das Schicksal der verbliebenen Ortskräfte gehen. Was weiß man über diese Ortskräfte? Wer sind diese Leute, und was haben sie im Auftrag der Bundeswehr gemacht?

Das waren zum Beispiel Fahrer, Führer und Dolmetscher, die unsere Soldatinnen und Soldaten begleitet haben. Dadurch gingen diese Menschen ein besonderes Risiko ein – jedenfalls für die Möglichkeit, dass die Taliban am Ende doch wieder an die Macht kommen sollten. Aus Taliban-Sicht sind sie Kollaborateure. Teile dieser Ortskräfte sind mit ihren Familien bereits ausgereist, aber viele leben immer noch dort, manche versteckt. Die deutsche Zusage, sie herauszuholen, gilt nach wie vor für alle Ortskräfte. Und die Bundesregierung arbeitet wohl auch daran.

Aber wäre es nicht ein bisschen gutgläubig, zu sagen, dass jeder Ortskraft auch gleichzeitig ein Verbündeter des Westens sei, ein Verfechter demokratischer Werte?

Wir reden nicht von denjenigen, die für eine Firma Betonplatten in einem Nato-Camp gegossen haben, sondern von denen, die selbst in einem unmittelbaren Vertragsverhältnis mit den internationalen Truppen standen; das ist eine vierstellige Zahl. Für die sollten wir sorgen. Das sehen übrigens auch die deutschen Soldaten so, die mit ihnen Seite an Seite im Land unterwegs waren.

Der deutlich größere Brocken Arbeit dürfte bei der Enquete-Kommission liegen. Dort soll mit wissenschaftlicher Begleitung der gesamte Einsatz aufgearbeitet werden. Mal naiv gefragt: Wo fängt man da sinnvollerweise an?

Bei den Unterlagen, die es schon gibt. Dazu gehört die interne Evaluation der Bundeswehr. Es hat auch Berichte des Auswärtigen Amtes gegeben. Ich würde mir ganz bestimmt die „Periodic Mission Reviews“ aus der Nato-Befehlskette ansehen. Auch wenn die geheim sind, kann die Kommission sie wohl heranziehen. Darin dürfte stehen, dass ein Missions-Abbruch zum Kippen des Landes führen kann. Das Militär hat, soweit ich weiß, davor gewarnt. Ich würde gerne wissen: Welcher fachliche Rat hat auf welchem Weg zu welcher politischen Entscheidung geführt? Und was haben die Europäer in der Nato der Trumpschen Maxime „weg mit Schaden“ entgegengesetzt?

Was sind also die Oberthemen, die abgearbeitet werden müssen?

Ziele und Strategie, Koordination und Führung sowie Mitteleinsatz. Bei der Strategie lässt sich feststellen, dass nichts einheitlich war. 50 Nationen stellten Truppen, insgesamt 80 Nationen leisteten zivile Hilfe. Es gab tausende Organisationen, die irgendwas Gutes wollten und taten. Hunderte Milliarden Dollar sind ausgegeben worden, tausende alliierte Soldaten und Helfer gefallen. In Afghanistan ist unterm Strich ein unendlich großer Aufwand mit einem enttäuschenden Ergebnis betrieben worden. Es hätte eine klare Führungsstruktur gebraucht, eine einheitliche Strategie, Geduld und ausreichend Mittel, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Auf dem Höhepunkt des internationalen Engagements waren 140.000 Soldaten im Land, am Ende noch knapp 20.000. Wenn die allerdings dageblieben wären, wären die Taliban jetzt nicht an der Macht. Die „Internationalen“ waren Korsettstangen und Rückversicherung der schwachen afghanischen Staatlichkeit.

Hans-Peter Bartels / dpa

Was könnte noch bei der Aufklärung helfen?

Man sollte andere Missionen zum Vergleich heranziehen. Die Balkan-Einsätze sind am Ende, was das rein Militärische angeht, absolut erfolgreich gewesen. Politisch und ökonomisch ist noch wirklich viel zu tun, aber das Morden wurde beendet. Heute haben diese Länder des ehemaligen Jugoslawiens eine recht gute Perspektive, überwiegend sogar eine EU-Perspektive – und die westliche Gemeinschaft ist bis heute dort sehr engagiert. Das ist ein ganz anderes Setting als Afghanistan. Hier ging es um einen Militäreinsatz in unserer europäischen Nachbarschaft, den wie als existenziell für Deutschland empfunden haben. Die Balkan-Missionen sind auch deshalb eine militärische Erfolgsgeschichte, weil klar war: „Whatever it takes“. Eingesetzt wurden so viele Soldaten wie nötig, so lange wie nötig. Wir haben immer noch Kontingente im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Wenn man zu diesem „Whatever it takes“ nicht bereit ist, braucht der Gegner nur einen langen Atem und die Bereitschaft zum permanenten Zermürbungsterror.

Apropos „Whatever it takes“: Die Bundesregierung hat ein 100-Milliarden-Paket für die, sagen wir, Renovierung der Bundeswehr beschlossen. Ich nehme an, Sie finden die Entscheidung richtig?

Ja. Damit wird die Finanzierungslücke geschlossen für das, was ohnehin geplant war, damit die Bundeswehr ihre Verpflichtungen gegenüber der Nato vollständig erfüllen kann. Nach der Zeitenwende nimmt Deutschland sich jetzt selbst endlich ernst, was das Militärische angeht.

Gibt es da Punkte, wo Sie sagen würden, wenn wir dieses oder jenes schon früher umgesetzt hätten, dann wäre der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr vielleicht anders verlaufen?

Nein, ich würde eher sagen: Afghanistan hat die Bundeswehr in einer Weise geprägt, die nicht gut war. Die Bundeswehrreform im Jahr 2011 wurde mit Blick auf genau diesen einen Einsatz gestaltet, weit entfernt vom Ziel, zur kollektiven Verteidigung Europas einen substanziellen Beitrag zu leisten. Deshalb muss jetzt eine Umgliederung kommen, um im Ernstfall große, autarke und kampfkräftige Heeresverbände schnell nach vorne verlegen zu können. Als die Bundeswehr vor einigen Wochen mit 350 Soldaten zusätzlich die Litauen-Battlegroup zu verstärken hatte, waren Soldaten aus 150 unterschiedlichen Einheiten betroffen. Das geht so nicht, ganz bestimmt nicht, wenn es schnell gehen muss.

Der größte Teil des Pakets, 40,9 Milliarden Euro, soll in den Bereich „Luft“ investiert werden, also in Flugzeuge und Drohnen, 19,3 Milliarden Euro in „See“, also Boote und U-Boote, und 16,6 Milliarden Euro in die Landstreitkräfte. Außerdem sollen 20,7 Milliarden Euro in die „Führungsfähigkeit der Bundeswehr“ fließen, womit zum Beispiel Digitalisierungsvorhaben gemeint sind. Ist es damit getan, und wir können dann in fünf, sechs Jahren sagen: „Okay, jetzt läuft der Laden wieder“?

Wenn alles funktioniert, ja. Aber das setzt voraus, dass die Beschaffungsorganisation ertüchtigt wird. Die Vergabe von doppelt und dreimal so viel Geld, wie man sonst in einem Jahr für militärische Beschaffungen zur Verfügung hat, erfordert dringend eine Reform. Wenn der Apparat entsprechend ausgerichtet ist und die Industrie liefern kann, dann werden wir in einigen Jahren deutliche Fortschritte sehen. Allerdings sind unsere Soldatinnen und Soldaten immer noch skeptisch angesichts all der Ankündigungen und Versprechungen der vergangenen Jahre. Erinnern wir uns nur an die von der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ausgerufenen „Trendwenden“. Von denen merkt die Truppe bis heute nicht viel.

Das Gespräch führte Ben Krischke.

 

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