Neuer ungarischer Thinktank in Brüssel - „Werte, die weit über Ungarn hinausgehen“

Der ungarische Thinktank „MCC Brussels“ will ein Forum für europäische Debatten werden. Im Cicero-Interview spricht dessen Direktor, der Soziologe Frank Furedi, über Identitätspolitik, Kulturkampf und das technokratische Demokratieverständnis der EU.

Kontakt mit neuen Protestbewegungen: Landwirte demonstrieren vor dem Europäischen Parlament gegen das „Nature Restoration Law“ / dpa
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Sabine Beppler-Spahl ist Diplom-Volkswirtin, Deutschland-Korrespondentin des britischen Online-Magazins Spiked sowie Vorsitzende des Vereins Freiblickinstitut e.V.

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Ungarn steht seit vielen Jahren wegen seiner Regierung in der Kritik. Immer wieder gibt es Versuche, das Land innerhalb der EU zu isolieren oder zu sanktionieren. Nun hat das ungarische Mathias Corvinus Collegium einen neuen Thinktank in Brüssel gegründet: MCC Brussels. Ziel der Organisation ist es, ein Forum für europäische Debatten zu werden. Zu seinem Leiter ist der emeritierte Professor für Soziologie, Frank Furedi (Universität Kent), ernannt worden. Furedi, der seit vielen Jahrzehnten in Großbritannien lebt, hat ungarisch-jüdische Wurzeln. Seine Familie floh 1956 aus dem Land. Im Interview erklärt er, warum er den Job angenommen hat und welche Werte für Europa wichtig sind.

Herr Furedi, welche Ziele verfolgen Sie mit MCC Brussels, und warum halten Sie es für wichtig, die „Brüsseler Blase“, wie Sie es nennen, aufzurütteln?

In Brüssel gibt es keine Debattenkultur und keine Kultur der offenen Auseinandersetzungen über Politik oder Werte. Ich halte es für sehr wichtig, eine alternative Sichtweise zu der eher technokratischen Sichtweise der EU-Bürokratie zu vertreten, und zwar auf recht robuste Art und Weise.

Meine Aufgabe ist es, einige der von EU-Repräsentanten vorgebrachten Ansichten zu widerlegen und eine alternative Interpretation der Ereignisse zur Diskussion zu stellen. Dabei will ich auch meinen Teil dazu beitragen, für bestimmte Ideale, die ich als wichtig für uns alle in Europa erachte, angemessen zu verteidigen oder weiterzuentwickeln. Dazu gehören die nationale Souveränität oder auch Werte, die mit der Verteidigung der Familie oder des allgemeinen Erbes der westlichen Zivilisation zu tun haben. Deswegen bin ich hier.

Halten Sie es nicht für ein Problem, dass Sie von der ungarischen Regierung finanziert werden?

Frank Furedi / privat

Ungarn wird von der europäischen Bürokratie gehasst. Sie betrachtet Ungarn als das moralische Gegenstück zu ihr selbst. Und in gewisser Weise stimmt das auch, denn die Werte der ungarischen Regierung unterscheiden sich stark von denen, die die EU vertritt. Das ist in meinen Augen einer der Gründe, warum der Propagandakrieg gegen Ungarn ständig eskaliert. Meine Aufgabe ist es, Ungarn zu verteidigen. Aber ich bin genauso daran interessiert, die Werte zu verteidigen, die weit über Ungarn hinausgehen, weil sie für jeden Europäer von Bedeutung sind. Ein Teil meiner Arbeit besteht darin, auch Institutionen aus anderen Ländern einzubeziehen, damit dies ein echter gesamteuropäischer Gegenpol zu den Argumenten der Europäischen Union wird. Ich bringe auch Leute mit, die der alten Linken angehören, die an Souveränität glauben und die Identitätspolitik genauso wenig mögen wie ein Konservativer. Ich fördere eine Debattenkultur, in der wir echte Argumente zwischen verschiedenen Seiten austauschen, was in Brüssel sehr selten passiert.

Seit die Fidesz-Partei an die Regierung kam, hat sie immer mehr Medien unter ihre Kontrolle gebracht. Ist das kein Widerspruch zu Ihrem Ziel, die offene Debattenkultur zu fördern?

Unsere Institution hat bereits in ihren ersten Monaten zahlreiche Debatten organisiert, bei denen sehr gegensätzliche kulturelle Einstellungen und Meinungen auf dem Podium vertreten wurden. Wir haben immer wieder gezeigt, dass wir es ernst meinen mit offenen Auseinandersetzungen. Ich bin für die uneingeschränkte Freiheit der Meinung und lehne alle Einschränkungen der Presse entschieden ab. Das gilt für alle Länder, auch für Deutschland und Großbritannien. In Ungarn ist die Lage etwa vergleichbar mit der von Großbritannien in den späten 1970er-Jahren, als die Konservativen an die Regierung kamen. Fast die gesamte Presse war konservativ ausgerichtet. Nur sehr wenige Zeitungen vertraten damals die Ansichten der oppositionellen Labour-Partei. Es gibt in Ungarn einen großen oppositionellen Fernsehkanal, und natürlich beziehen viele Menschen ihre Nachrichten und Informationen aus dem Internet.

Führt die Finanzierung durch eine Regierung nicht zu Abhängigkeiten?

Wenn ich nun von der ungarischen Regierung finanziert werde, dann sage ich: Wenigstens finanziert mich jemand. Die Alternative dazu wäre, dass es unsere Institution nicht gibt – denn wer sonst würde eine Institution finanzieren, die konsequent und unumwunden für die Ziele kämpft, für die wir eintreten? Und wenn ich mich in Brüssel umschaue, stelle ich fest, dass fast alle Stiftungen entweder von der EU oder von einer anderen nationalen Regierung finanziert werden.

Fürchten Sie nicht, sich immer mehr in den Kulturkampf zu verstricken – und zwar in einer Weise, die kontraproduktiv sein könnte?

Ganz im Gegenteil. Der Grund, warum ich nach Brüssel gegangen bin, ist, mich dem Kulturkampf zu stellen. Er findet statt, unabhängig davon, ob ich hier bin oder nicht – und zwar jeden Tag. Dabei habe ich bemerkt, dass die Führung der Europäischen Union zwei Probleme hat, die sich auf ihre politische Einstellung auswirken: Einerseits ist sie sehr technokratisch. Sie will die Welt „mikromanagen“ und die menschlichen Beziehungen gestalten. Andererseits fördert sie die Identitätspolitik auf vielfältige Weise. Sie fordern die Menschen im Grunde dazu auf, ihre Werte aufzugeben und die traditionelle europäische Sichtweise, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hat, aufzugeben und sie durch neue, künstlich geschaffene Werte zu ersetzen. Das ist Teil des Kulturkampfes, der geführt wird. Und er wird auf sehr einseitige Weise geführt. Unsere Aufgabe ist es, dem entgegenzutreten.

 

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Ein Großteil der Konflikte, die in Hinblick auf Ungarn aufgekommen sind, ist ja kultureller Art. Da gibt es z.B. das umstrittene Kinderschutzgesetz. Laut ungarischer Regierung soll damit jegliche LGBTQ-Propaganda in Schulen unterbunden werden. Faktisch werden unter 18-Jährige nicht mehr über die sexuelle Vielfalt aufgeklärt.

Mit dem Gesetz habe ich kein Problem. Es ist nicht die Aufgabe von Schulen, die Kinder zu sexualisieren. Ich bin ganz für Sexualkundeunterricht. Die Werbung für LGBTQ+, wie sie in manchen britischen Schulen tatsächlich stattfindet, ist etwas anderes. Da geht es nicht um Unterricht, sondern um Sexualisierung. Jeder Staat legt seine Bildungsziele fest und setzt Grenzen. Dieses Recht muss auch Ungarn haben.

Welche Ansichten und Werte würden Sie denn als europäisch bezeichnen? Die EU sagt auch, dass sie europäische Werte verteidigt, wie z.B. die Werte des Liberalismus.

Wenn man sich anschaut, wie die EU Werte bestimmt, so fällt auf, dass dies alles Werte sind, die verwaltungstechnisch geschaffen wurden und werden. Es sind bürokratische Werte wie Multikulturalismus, Inklusion, Vielfalt oder Diversität usw. Diese Art von Werten haben nichts mit Europa als solches zu tun. Sie haben aber viel mit dem Impuls seitens der Europäischen Union zu tun, eine Art globalistische, quasi-kosmopolitische Einstellung zu fördern. Dadurch werden die Europäer von ihrem historischen Erbe losgelöst und als Menschen behandelt, die keine organischen Verbindungen zu dem haben, was vorher war. Die Werte, für die ich eintreten möchte, sind dagegen solche, die sich aus der gesamten historischen Erfahrung Europas ergeben – und zwar von den Griechen bis zur Gegenwart. Von der griechischen Philosophie über die Renaissance und die Aufklärung bis hin zur Entwicklung anspruchsvollerer Formen des klassischen Liberalismus. Ich halte all diese Dinge für sehr wichtig, während sie in den Augen der EU-Vertreter oft als veraltet gelten.

An wen richten Sie sich mit Ihrer Tätigkeit? Sind das die EU-Parlamentarier, das Brüsseler Establishment oder die breite Öffentlichkeit?

Mein Ziel ist es, durch unsere Veröffentlichungen und unsere Kommunikation ein möglichst breites Publikum in verschiedenen Teilen Europas anzusprechen. Und das hängt von unserer Fähigkeit ab, in den Medien Wirkung zu erzielen. Gleichzeitig versuche ich aber auch, ein Netzwerk von MdEP, politischen Analysten und Akademikern aufzubauen, von denen viele in Brüssel ansässig sind, um eine Beziehung zueinander zu entwickeln und Verbündete zu werden. Das ist vor allem vor dem Hintergrund des Kulturkampfes wichtig – egal, ob man in Spanien, Italien, Deutschland oder sonstwo sitzt. Ein Beispiel: Wenn Sie Eltern sind, interessiert es Sie, welche Werte Ihren Kindern vermittelt werden. Und wenn man das in ganz Europa zu einem Thema machen kann, dann ist das meiner Meinung nach für alle von Vorteil.

Planen Sie, sich an den bevorstehenden EU-Wahlen zu beteiligen, die im Juni nächsten Jahres stattfinden werden?

Nun, die Wahlen werden in den verschiedenen Nationalstaaten abgehalten. Es steht viel auf dem Spiel, denn es sieht so aus, als ob sich die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments beträchtlich ändern könnte. Das liegt an den veränderten politischen Verhältnissen, insbesondere in Frankreich, Italien, Spanien, aber auch in Österreich. Ich glaube nicht, dass das gegenwärtige Gleichgewicht bestehen bleibt, bei dem die Grünen und die sogenannten Sozialisten das EU-Parlament im Wesentlichen dominieren. Ich versuche, ein Netzwerk von Europaabgeordneten aus verschiedenen Parteien zu schaffen, damit sie sich gegenseitig aus den verschiedenen Nationen unterstützen können. Ich arbeite viel mit der ECR-Gruppe [Europäische Konservative und Reformisten] in Brüssel zusammen und versuche, gemeinsame Veranstaltungen mit ihnen zu organisieren. Ich plane für März nächsten Jahres eine große Konferenz über die Europawahlen in Brüssel, an der Redner aus verschiedenen Bewegungen in ganz Europa teilnehmen werden. Damit will ich zeigen, dass es eine Alternative zu den Argumenten des EU-Mainstreams gibt.

Nehmen Sie auch Kontakt mit einigen der neuen Protestbewegungen auf, die sich in den letzten Jahren in Europa gebildet haben? Ich denke z.B. an die niederländische BoerBurgerBeweging [Bauern-Bürger-Bewegung]?

Das würde ich sehr gerne tun. Das, was in Holland passiert, passiert jetzt auch in Belgien. Es hat nur noch nicht in gleichem Maße die Presse erreicht. Es gibt, in vielen Teilen Europas, eine wirklich interessante Reaktion in der ländlichen Bevölkerung. Es wäre sehr gut, wenn wir diese Reaktionen inhaltlich etwas seriöser aufgreifen könnten, d.h. darauf aufbauen und erklären, was dort passiert. Und dann würde ich mich gerne mit anderen Bewegungen vernetzen, um eine gemeinsame Plattform oder ein gemeinsames Verständnis davon zu schaffen, was in Europa getan werden muss.

Wenn Sie drei dringende Probleme benennen sollten, mit denen wir uns in naher Zukunft in Europa auseinandersetzen müssen, welche würden Sie nennen?

Eines der größten Probleme ist die Energiekrise. Sie hat sehr große Auswirkungen – nicht nur auf die steigende Inflation, sondern auch auf die Wirtschaft und die Funktions- und Innovationsfähigkeit der europäischen Industrie. Das ist ein riesiger Bereich. Aber die Frage, die ich für Europa wirklich wichtig finde, ist die Bildung. Das Bildungsniveau sinkt in ganz Europa immer weiter ab. Sehr oft werden die Kinder nicht in den richtigen akademischen Fächern unterrichtet, sondern sie werden indoktriniert oder erhalten eine zweitklassige Schulbildung. Und drittens ist da natürlich der Krieg in der Ukraine, für den es in der nächsten Zeit keine Lösung zu geben scheint. Er kann sich daher leicht ausweiten oder aus dem Ruder laufen und Akteure einbeziehen, die weit über Russland und die Ukraine hinausgehen. In Europa müssen wir einen Weg finden, den Konflikt entweder sehr effektiv einzudämmen oder zumindest für eine Weile einen Waffenstillstand zu erreichen. Der Krieg erinnert mich ein wenig an die dummen Konflikte, die wir vor dem Ersten Weltkrieg hatten, als niemand wusste, worauf es hinauslaufen würde. Ich denke also, Europa muss sich damit auf klügere Weise auseinandersetzen, als es das im Moment tut.

Und was bedeutet das für Ihren Thinktank?

Das alles sind große Aufgaben, die wir nicht allein lösen können. Aber wir brauchen die Diskussion darüber.

Das Interview führte Sabine Beppler-Spahl.

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