Ukraine-Krieg - Wagner-Truppe in Bachmut: Das russische Rätsel

Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, hatte angedroht, aus Bachmut abzuziehen, wenn er vom russischen Militär nicht mehr Artillerie und Munition bekomme. Anscheinend hat der Kreml den Forderungen nachgegeben, und Wagner bleibt in Bachmut. Aber warum hätte der russische Generalstab Wagner überhaupt lahmlegen wollen?

Jewgeni Prigoschin, Chef der russischen Privatarmee Wagner Group / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Im Ukraine-Krieg gibt es zu viele Unbekannte, um sie einzeln aufzuzählen. Von der bevorstehenden Frühjahrsoffensive bis hin zu verdeckten Geheimdienstoperationen der USA bestehen viele Rätsel. Aber vielleicht ist keines wichtiger als das Rätsel um das russische Verteidigungsministerium, seinen Generalstab, die Wagner-Söldnertruppe und den Platz von Präsident Wladimir Putin innerhalb dieses Konglomerats. Dieses Beziehungsgeflecht ist noch komplizierter geworden, seit sich Ramsan Kadyrow, das Oberhaupt Tschetscheniens, eingemischt und versprochen hat, Wagner im Kampf um Bachmut zu ersetzen.

Moskau hat Wagner angeworben, als es nicht in der Lage war, die ukrainischen Streitkräfte aus eigener Kraft zu besiegen. Wagner ist eine private Militärtruppe, die streng genommen bei einem Teil der russischen Regierung unter Vertrag steht. Die von ihr beschäftigten Söldner werden nicht von der Armee, sondern von einem Zivilisten befehligt. Sie zählen etwa 25.000 bis 30.000 Mann – weniger als Russlands konventionelle Streitkräfte, aber nicht dramatisch – und besetzen etwa 30 Kilometer der mehrere tausend Kilometer langen Frontlinie. Dennoch ist Wagner das einzige Kontingent der russischen Streitkräfte, das regelmäßig in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete vordringt.

Der Einsatz privater Streitkräfte ist kein neues Phänomen, und Wagner ist bereits seit Jahren im Nahen Osten und in Afrika tätig. Aber was Wagner in der Ukraine tut, ist einzigartig. Das Unternehmen führt nicht nur seinen eigenen Krieg, sondern leitet auch den Kampf in Bachmut.

Androhung des Truppenabzugs durch Prigoschin

Wie rätselhaft die Beziehungen zum russischen Militär sind, zeigt eine Erklärung von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin, der vergangene Woche erklärte, „Militärbürokraten“ hätten seinen Truppen Artillerie und Munition vorenthalten, weshalb er sie aus dem Gebiet abziehe und Bachmut den russischen konventionellen Streitkräften überlasse.

Die Schlacht um Bachmut ist nie gut verlaufen, aber zum jetzigen Zeitpunkt ist der Sieg angesichts der bereits verlorenen Kräfte weniger strategisch als politisch. Für die Russen wäre eine Niederlage oder ein Abbruch der Schlacht das falsche Signal an den Feind und an seine eigene Bevölkerung. Die reguläre russische Armee war jedoch nicht in der Lage, Bachmut ihren Willen aufzuzwingen – und war generell nicht in der Lage, die ukrainischen Kräfte zu brechen. Der Einsatz von Wagner in Bachmut diente mehreren Zwecken. Er vergrößerte die Truppenstärke, die eingesetzt werden konnte, und er brachte eine rücksichtslose Truppe ins Spiel, von der man sich notfalls distanzieren konnte.

In diesem Sinne macht es absolut keinen Sinn, die Wagner-Truppe von Artillerie und Munitionslieferungen abzuschneiden. (Es gibt eine andeutungsweise Bestätigung aus Moskau, dass dies der Fall war, aber ukrainische Militärberichte deuten darauf hin, dass der Artilleriebeschuss nicht nachgelassen hat.) Selbst wenn Russland der Meinung wäre, dass es militärisch sinnvoll ist, Wagner an der kurzen Leine zu halten, so wird dieser Effekt gleichzeitig konterkariert, wenn man dem Anführer Prigoschin erlaubt, sich derart krass über die reguläre russische Militärführung zu äußern. Militärs und ihre politischen Herren sind sich zwar ständig uneinig, aber eine so deutliche Kluft ist selten.

 

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Das Rätsel ist also ein zweifaches: Warum sollte der russische Generalstab Wagner lahmlegen wollen? Und warum sollte er dies vor aller Öffentlichkeit tun? Es gab finanzielle und technische Maßnahmen, die dies hätten verhindern können. Damit es so weit kommen konnte, muss entweder auf der Ebene des Generalstabs oder des Ministeriums eine Fehlfunktion aufgetreten sein.

Wenn es Absicht war, was könnte das bedeuten? Möglicherweise sollte ein von Wagner geplanter Staatsstreich verhindert werden, aber eine Drohne hätte das besser lösen können. Es könnte sich um einen Plan von Leuten in der Regierung handeln, die mit Wagner verbündet sind, um zu zeigen, dass der Krieg in der Ukraine von der russischen Führung verloren oder zumindest nicht gewonnen wird. Wenn man der Meinung ist, dass das Oberkommando und die Minister den Krieg verlieren, dann würde es Sinn machen, ihre Irrationalität durch Wagner propagieren zu lassen, was eine Bewegung zur Absetzung der militärisch und politisch Verantwortlichen verstärken könnte. Sollte wiederum Putin der Meinung sein, dass das derzeitige Kommando zwar versagt, aber man es nicht absetzen kann, weil zu viele hochrangige Offiziere es weiterhin unterstützen, dann wäre das Memo von Wagner ein hervorragendes Instrument, um dies zu verdeutlichen (es sei denn, es geht darum, zu zeigen, dass Putin die Kontrolle über die Situation verloren hat).

Wagner wird wohl in Bachmut bleiben

Im Moment ist das alles reine Theorie, wenn auch wichtig. Der Kreml scheint den Forderungen Prigoschins nachgegeben zu haben, und es sieht so aus, als ob Wagner in Bachmut bleiben wird. Außerdem wurde General Sergei Surowikin, den Prigoschin als den einzigen fähigen General in der russischen Armee bezeichnet hat, als Verbindungsmann zwischen Russland und den Söldnern eingesetzt.

Doch wie auch immer sich die Dinge entwickeln, der Krieg ist ein grundlegendes politisches Problem. Er ist nicht wie erwartet verlaufen, und es hat sich kein wirksames Bündnis gebildet, das an dieser Tatsache etwas ändern könnte. In dieser Situation muss man entweder eine massive Offensive starten, bei der die Regierung und Wagner Seite an Seite kämpfen. Oder sich auf eine möglichst günstige Verhandlungssituation vorbereiten – eine, die die dann entstehende Führung von jeglichem Fehlverhalten freispricht.

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