Ukraine - Politik in Zeiten des Krieges

Während die Ukraine nach außen Einigkeit gegenüber dem Gegner Russland demonstriert, festigt Präsident Selenskyj im Land mit populistisch-autoritären Methoden seine Stellung gegenüber politischen Gegnern.

Street Art im Kiewer Vorort Irpin: Ein Mädchen zeigt einem russischen Soldaten den Finger / Christopher Cherry
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Kiew, am 24. Februar 2023, genau ein Jahr nach dem Morgen, an dem russische Raketen über der Ukraine niederregneten, russische Kampfhubschrauber bei Kiew landeten und russische Panzer aus drei Himmelsrichtungen ins Land vordrangen. Die meisten Checkpoints sind abgebaut, an manchen Straßenecken, an den Bordstein gerückt, rosten Panzersperren vor sich hin, auf Ukrainisch „Igel“ genannt. Gäbe es nicht den regelmäßigen Raketenalarm, man könnte fast vergessen, dass das Land sich in einem Krieg befindet, der 100.000, vielleicht schon 200.000 Tote gefordert hat

Nur das Regierungsviertel im Zentrum, der Präsidentenpalast und die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, sind abgesperrt mit Betonblöcken. Die Rada tagt hinter verschlossenen Türen, die Sitzungstermine werden geheim gehalten, es gibt keine Fernsehübertragung. Vermutlich würde es derzeit keinem Ukrainer auffallen, wenn es das Parlament überhaupt nicht mehr gäbe.

Aus Einigkeit wird Gleichschaltung

Im Zentrum der Aufmerksamkeit dagegen steht Wolodymyr Selenskyj, der an diesem 24. Februar wie jeden Tag seit Kriegsbeginn eine Ansprache hält. Der 45-Jährige, seit knapp vier Jahren Präsident, beschreibt die große Solidarität der Ukrainer gegenüber den Flüchtlingen aus den vom Krieg heimgesuchten Gebieten, gegenüber den Soldaten, für deren Ausrüstung einfache Bürger millionenfach Geld sammeln. „Wir sind eine große Armee geworden“, sagt er im schwarzen Pullover mit dem aufgedruckten goldenen Dreizack, dem ukrainischen Wappen, an seinem Schreibtisch in der Präsidialverwaltung. „Wir sind eins geworden. Unsere Journalisten und Medien kämpfen als geschlossene Front gegen Lügen und Panik“, fährt er fort. „Ein Jahr nach der vollständigen Invasion liegt der Glaube an den Sieg bei 95 Prozent“, gibt er sich siegesgewiss. „Und wir werden alles tun, um in diesem Jahr zu siegen.“

Selenskyjs Rhetorik erinnert an die Worte des deutschen Kaisers Wilhelm II., der zu Beginn des Ersten Weltkriegs deklamierte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Das gezeichnete Bild ist nicht falsch: Tatsächlich zeigt sich die ukrainische Gesellschaft angesichts der existenziellen Bedrohung durch Russland geeint wie nie, die Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe auf allen Ebenen ist ungebrochen.

Und doch hört man nach einem Jahr Kriegszustand von Politikern und Beobachtern immer mehr warnende Stimmen: Die Ukraine, formell eine parlamentarisch-präsidentielle Republik, hat im Krieg eine Wandlung hin zu einem politischen System vollendet, in dem die Präsidialverwaltung Gesetze vorbereitet, die das Parlament nur noch abnickt. Die wichtigsten Medien zeigen rund um die Uhr Selenskyj und seine Leute. Politiker, die sich dem Machtanspruch der Präsidialverwaltung entgegenstellen, werden mit Methoden ausgetauscht, die an politische Systeme erinnern, in denen die Gewaltenteilung nur formal existiert. Skandale übergeht Selenskyj mit Populismus.

„Wir müssen heute von autoritären Tendenzen sprechen.“

Nur eine Fortsetzung der schon seit 2019 erkennbaren Entwicklung sei das, sagt der Politologe Wolodymyr Fesenko. Denn kein ukrainischer Präsident konnte gleichzeitig auch auf eine so klare Mehrheit im Parlament zählen: „Unter Selenskyj war die Regierung komplett abhängig von der Präsidialverwaltung, sie ist nur noch ausführendes Organ. Das hat sich in Kriegszeiten noch verstärkt.“

Oleksij Hontscharenko, Abgeordneter der Oppositionspartei Europäische Solidarität, wird deutlicher: „Wir müssen heute von autoritären Tendenzen sprechen.“ Die Präsidialverwaltung arbeite so, „dass dieser Krieg der Krieg eines Mannes ist, nach außen und nach innen. Das ist nicht richtig. Und diese Tendenz verstärkt sich.“

Andrij Osadtschuk, Abgeordneter der Partei Holos, Ende
Februar in Kiew / Moritz Gathmann

„Die Präsidialverwaltung nutzt den Krieg, um das Auftauchen alternativer Sichtweisen im medialen Raum zu minimieren“, sagt Andrij Osadtschuk von der oppositionellen Partei Holos (Stimme). Und fügt mit müder Verzweiflung hinzu: „Seit drei Jahren predige ich von früh bis spät: Solange es kein unabhängiges Rechtssystem gibt und keinen absoluten Vorrang des Rechts, so lange wird unser Land nicht funktionieren.“

Selenskyj pur im „Telemarathon“

Über das vergangene Jahr ist die Ukraine nicht zu einem, sondern zu dem Symbol für Freiheit und Demokratie schlechthin geworden – in scharfem Kontrast zu Putins Russland. Selenskyj, aber auch Kanzler, Präsidenten und EU-Kommissionschefs werden nicht müde zu betonen, dass dieser Krieg nicht nur ein Verteidigungskrieg gegen einen Aggressor sei, sondern dass in Charkiw, Cherson und Kiew Freiheit und Demokratie verteidigt würden. Der junge ukrainische Präsident ist zum Symbol dafür geworden. Aber wird er dem gerecht? Oder nutzen seine Leute den Krieg auch, um in seinem Schatten mit altbekannten Methoden politische Gegner zu schwächen und die eigene Macht zu festigen – für die Zeit nach dem Krieg?

Die Umfragewerte lassen keinen Zweifel: Die Ukrainer unterstützen ihren Präsidenten. 86 Prozent vertrauen Selenskyj, nur getoppt von den 96 Prozent, die der Armee vertrauen.

Das rührt aber auch daher, dass politische Figuren, die nicht zur Mannschaft des Präsidenten gehören, medial kaum noch vorkommen. Wichtigster Indikator dafür ist der „Telemarathon“, ein Fernsehprogramm, zu dem sich die meisten TV-Sender zu Kriegsbeginn zusammengeschlossen haben. Die sechs Kanäle teilen sich die Sendezeit. Aber ganz egal, welcher Kanal die Sendezeit bespielt – laut einer minutiösen Auswertung des unabhängigen Medien-Watchdogs Detector Media dominiert Präsident Selenskyj unangefochten die Statistik der Politiker, über die berichtet wird – was angesichts seiner politischen Rolle wenig überraschend ist. Aber auch die Abgeordneten der Präsidentenpartei kommen weit überproportional zu Wort: Im vierten Quartal 2022 gehörten 60 Prozent der zitierten Abgeordneten zur Präsidentenpartei Diener des Volkes, nur 2 Prozent zur Partei Europäische Solidarität des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko, immerhin die stärkste Oppositionsfraktion im Parlament. 

 

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Selenskyj-Berater Mychajlo Podoljak und Andrij Jermak, Chef der Präsidialverwaltung, gehören ebenfalls zu den meistgefragten Interviewpartnern. Informationen, die die Präsidialverwaltung in irgendeiner Form negativ darstellen, werden konsequent ausgeblendet, etwa das Statement der amerikanischen Kongressabgeordneten Victoria Spartz, die nach ihrem Besuch schwere Vorwürfe gegen Jermak erhoben hatte. Dafür wird der „Telemarathon“ zu Kampagnen genutzt, insbesondere gegen Ex-Präsident Poroschenko – etwa im Mai, als der später nach Russland ausgetauschte Oligarch und Putin-Intimus Viktor Medwedtschuk schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben hatte. Die Idee, dass Poroschenko selbst zu Wort kommen könnte, um sich dagegen zur Wehr zu setzen, ist fern der Realität des „Telemarathons“.

Präsidiale Propaganda

Die „gegen Lügen und Panik“ kämpfende „geschlossene Front“ der Journalisten und Medien, von der Selenskyj spricht, ist eine Chimäre. Acht schwere Verstöße gegen journalistische Standards pro Stunde hat Detector Media im „Telemarathon“ gezählt, die Informationen entstellten und den Zuschauer fehlinformierten, und bezeichnet ihn unter dem Strich als „Bacchanalien an Informationen schlechter Qualität“. Man könnte auch sagen: Der „Telemarathon“ ist ein Propagandainstrument des Präsidenten.

Abgerundet wird das Bild dadurch, dass drei Fernsehsender, die Poroschenko zugerechnet werden, vom „Telemarathon“ ausgeschlossen blieben. Sie senden zwar noch, aber beschränkt auf Kabelfernsehen – aus dem digitalen Angebot wurden sie ausgeschlossen, weil dort nur noch der „Telemarathon“ laufen darf. Politologe Fesenko lässt keinen Zweifel daran, dass für den „Ausschluss“ von Poroschenkos Sendern ein „politisches Motiv“ ausschlaggebend war: „Alle haben verstanden, dass dort PR für Poroschenko gemacht werden würde. Wegen der Abneigung ihm gegenüber haben sie ihn ausgeschlossen“, sagt er.

Dass sich daran auch mehr als ein Jahr nach Beginn des Krieges nichts geändert hat, lässt die Vermutung aufkommen, dass Selenskyj und sein Team an der Allmacht über den medialen Raum durchaus Gefallen gefunden haben. Dass ein Sender wie 1+1, der dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj zugerechnet wird und in dessen „Slots“ die Abgeordneten seiner Partei Für die Zukunft überdurchschnittlich oft vertreten sind, Teil des „Telemarathons“ werden konnte, ist kein Widerspruch: Deren Abgeordnete gehören bei Abstimmungen in der Rada traditionell zu den Unterstützern von Selenskyj. Kurzum: Wer sich mit der Präsidialverwaltung arrangiert, ist mit von der Partie.

Der meistgehasste Politiker des Landes

Mit von der Partie, zwar nicht im „Telemarathon“, sind auch Politiker, von denen man es am wenigsten erwartet hätte.
Jurij Bojko, 64 Jahre alt, sitzt an diesem Wintertag Ende Februar in seinem Büro in der Nähe des Olympiastadions, hinter sich im Schrank ein Bild, das ihn im Gespräch mit Parlamentspräsident Stefan­tschuk zeigt – für den er voll des Lobes ist. „Wir haben Glück mit ihm, denn in Kriegszeiten vermeidet er unnötige Konflikte“, sagt Bojko.

Es ist keine Übertreibung, den grauhaarigen Bojko als heute meistgehassten Politiker des Landes zu bezeichnen: Laut einer gerade veröffentlichten Umfrage des amerikanischen National Democratic Institute (NDI) sehen ihn 66 Prozent der Ukrainer negativ, nur 6 Prozent positiv. Ein Blick in seine Vita erklärt, warum: Seit 2007 Abgeordneter, war Bojko unter Präsident Wiktor Janukowitsch Energieminister und bis zur Maidan-Revolution und Janukowitschs Flucht Vizepremier.

Seine Partei trat trotz Krimannexion und Krieg im Donbass für eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland ein, 2019 kandidierte er für die Partei Oppositionsplattform für Leben und Frieden für das Präsidentenamt, fuhr im Wahlkampf für ein Treffen mit Premierminister Dmitri Medwedew nach Moskau. Bis Februar 2022 führte Bojko die Partei und war Fraktionsvorsitzender im Parlament. Nach Kriegsbeginn wurde die Partei verboten und die Fraktion aufgelöst. Bojko ist der Inbegriff dessen, was man in der Ukraine als „prorussischen Politiker“ bezeichnet, auch wenn er jetzt sagt: „Wir glauben, dass die Russen die Aggressoren sind. Wir sind jetzt Feinde.

Niemand kritisiert den Präsidenten

Mehreren Politikern aus Bojkos Fraktion, immerhin die ehemals zweitgrößte nach der des Präsidenten, erkannte das Parlament ihre Mandate ab, weil sie das Land verlassen hatten, andere gaben sie freiwillig zurück. Aber die meisten sitzen noch immer im Parlament. Was einen Grund hat: Waren sie vorher die lauteste Oppositionsfraktion, stehen sie seit Kriegsbeginn bei Abstimmungen treu an Selenskyjs Seite. Bojko verneint die Frage nach einem Deal: Loyalität für Bleiberecht im Parlament? „Uns war klar, dass wir die Regierung unterstützen mussten, denn die Situation war besonders am Anfang schwierig.“ Dann fügt er hinzu: „Und wir hatten keine andere Wahl.“ Man muss in diesen Tagen in der Ukraine zwischen den Zeilen lesen.

Egal wen man fragt, ukrainische Politiker sind darum bemüht, ihre Loyalität gegenüber dem Präsidenten zu unterstreichen. „Man kann in Opposition zum Präsidenten sein, aber nicht zum Oberkommandierenden“, sagt selbst Oleksij Hontscharenko, ein selbstbewusster Abgeordneter aus der Poroschenko-Fraktion, der als einer der Ersten in einer Rada-­Sitzung im Februar wieder eine Rede hielt, die hart mit der Regierungspolitik ins Gericht ging. So klingt es auch bei Andrij Osadtschuk: Seine Partei Holos gehörte vor dem Krieg zu Selenskyjs schärfsten Kritikern. Aber welchen Sinn, so Osadtschuk, mache es, wenn er jetzt seine Energie darauf verwende, die Regierung zu kritisieren? „Wir haben einen Kopf, zwei Arme und zwei Beine. Wenn wir damit nicht alles für den Sieg tun, dann rücken wir ihn weiter in die Ferne.“

Den Präsidenten kritisiert nicht einmal die Opposition, erklärt Politologe Fesenko. „Dafür aber die Leute um ihn herum. Und die Nummer eins ist Jermak.“

Andrij Jermak, 51 Jahre alt, früher Filmproduzent, 2020 zum Leiter des Präsidialamts ernannt, ist neben Selenskyj die wohl mächtigste Figur des Landes – was in der Ukraine für die Leiter des Präsidialamts Tradition hat. Jermak war jahrelang linke Hand eines Politikers der Partei der Regionen, vor dem Krieg wurden ihm eine zu große Nähe zu Russland und ein Ausbremsen der Reformen vorgeworfen. Im Februar führte ein Auftritt des Abgeordneten Geo Leros zum Eklat: In Anwesenheit Selenskyjs bezeichnete dieser Jermak als „FSB-Nisse“ und fragte, wann „der Mensch, der die Interessen des Kremls in der Ukraine vertritt, für Staatsverrat ins Gefängnis kommt“. 

Korruption wird „übermalt“

Leros wurde vom Parlament bis zum Ende der Sitzungsperiode ausgeschlossen – was de facto seinen Ausschluss bis zum Ende des Krieges bedeutet, weil das Parlament formal ohne Unterbrechung tagt. Hontscharenko rief danach vom Rednerpult: „Herzlich willkommen in der Jermak-Diktatur. Sie zerstören den Parlamentarismus und mit ihm die Ukraine.“ Der Burgfrieden bröckelt, der Ton wird wieder rauer in der ukrainischen Politik. Und die Einschläge, die nichts mit dem Krieg zu tun haben, kommen näher. 

Im Januar musste Selenskyj mit Kyrylo Tymoschenko einen seiner engsten Vertrauten entlassen: Tymoschenko, Jermaks Stellvertreter, war vor dem Krieg für Selenskyjs Vorzeigegroßprojekt, den landesweiten Straßenbau, zuständig. Zuletzt hatten unabhängige ukrainische Medien aber immer lauter über Korruption beim sogenannten „Großen Bau“ gesprochen. Selenskyj entließ im Januar neben Tymoschenko fünf Leiter von Gebietsverwaltungen, was in Deutschland dem Posten eines Ministerpräsidenten entspricht. In der Ukraine ernennt diese jedoch der Präsident.

Medial wurden die Entlassungen kaum thematisiert, erst recht nicht im „Telemarathon“. Stattdessen „übermalte“, wie es Osadtschuk ausdrückt, Selenskyj die negativen Meldungen mit einer für ihn typischen populistischen Entscheidung: Per Ukas verbot er allen Beamten und Abgeordneten, darunter auch Tausenden Mitgliedern von Stadt- und Dorf­räten, die Ausreise aus dem Land. Für Dienstreisen muss nun jeder, vom Dorfschulzen über den Rada-Abgeordneten bis zum Richter des Verfassungsgerichts, eine Genehmigung einholen. Verfassungswidrig sei das, sagt Hontscharenko. In der Verfassung stehe schwarz auf weiß, dass die Rechte eines Abgeordneten auch in Kriegszeiten nicht eingeschränkt werden dürften.

Vorbereitungen auf die nächste Wahl

Beim Volk, das seit einem Jahr ertragen muss, dass Männer im wehrfähigen Alter das Land nicht verlassen dürfen, kommt das dennoch gut an. „Natürlich ist Selenskyj ein Populist. Er versucht, unisono zu sein mit Volkes Meinung“, sagt Fesenko. Der Holos-Abgeordnete Osadtschuk sagt nur schulterzuckend: „300 Abgeordnete sind sauer, aber eine Million Ukrainer zufrieden.“

Für die Machtkämpfe in den Herrschaftsetagen unterhalb von Selenskyj gibt es einen Grund: So absurd es klingen mag – in der Ukraine stehen Wahlen bevor. Laut Verfassung dürfen in Kriegszeiten keine Wahlen stattfinden, weshalb die im Herbst anstehende Parlamentswahl wohl verschoben wird. Möglich sind aber gleichzeitige Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2024. Würde heute gewählt werden, wäre angesichts der politischen und medialen Dominanz der Präsidentenmannschaft mit einem Sieg Selenskyjs zu rechnen, mit einer noch deutlicheren Mehrheit als 2019.

Die Nervosität ist auch in der Fraktion von Diener des Volkes zu spüren. Oleksij Zhmerenetskyj, ein junger Abgeordneter, der erst 2019 auf der Selenskyj-­Liste ins Parlament kam, berichtet von Gerüchten Anfang 2023 über interne Listen mit Namen derer, die wieder kandidieren dürften. Vor wenigen Wochen versammelte der Fraktionschef von Diener des Volkes die Abgeordneten und erklärte: „Fraktionsdisziplin bei den Abstimmungen ist das wichtigste Kriterium für zukünftige Zusammenarbeit.“ Zhmerenetskyj war klar: Diese Botschaft kam aus der Präsidialverwaltung.

Schluss mit der „Dezentralisierung“

Denn in den vergangenen Monaten sind auch die Abgeordneten aus der Präsidentenfraktion unzufriedener geworden: Selenskyj, der seine Partei im ersten Jahr noch wie ein Team führte, hat sich seit Kriegsbeginn nicht mehr blicken lassen. Manche fühlen sich zu Stimmvieh degradiert. Abgeordnete, die ihre Wahlkreise direkt gewonnen haben, werden selbstbewusster, stellen Fragen nach ihrer politischen Zukunft. Besonders übel stößt ihnen die mehr und mehr zentralistische Politik der Präsidialverwaltung auf, hatte sich die Ukraine über das zurückliegende Jahrzehnt doch gerade für die „Dezentralisierung“ gerühmt, für ein Mehr an Macht in den Kommunen, eine Verteilung der Verantwortung, anders als im autoritär-zentralistisch regierten Nachbarland.

Am Beispiel von Tschernihiw, zwei Stunden nördlich von Kiew, lässt sich zeigen, wie die Präsidialverwaltung die politische Landschaft bereinigt. Denn auch in den Kommunen gilt inzwischen: Wer spurt, kann bleiben. Wer selbstbewusst auftritt, wird abgesetzt.

Tschernihiw Ende Februar: In der Großstadt zwei Stunden nördlich von Kiew hat sich das Leben wieder weitgehend normalisiert / Moritz Gathmann

Der gerade abgesetzte Bürgermeister Wladyslaw Atroschenko empfängt in Jeans und schwarzem Hemd, nicht im Rathaus, sondern in einem Privatgebäude im Zentrum der Stadt. Der 54-Jährige ist kein untypischer ukrainischer Politiker: Aufsichtsratsvorsitzender einer großen Kiewer Brotfabrik, hat er zehn Jahre als Abgeordneter in der Werchowna Rada verbracht, zuletzt kandidierte er auf Poroschenkos Liste. Atroschenko gehört zu den Politikern, die genug Geld haben, um Wahlkämpfe selbst zu finanzieren, die direkt gewählt werden und unabhängig agieren.

Team Klitschko

Seit 2015 war er Bürgermeister von Tschernihiw, und wer in der Stadt nach ihm fragt, der erntet durchgehend nach oben gerichtete Daumen. Er habe die vormals grau-depressive Provinzstadt zum Blühen gebracht, Straßen gebaut, und „na ja, dass dabei seine Asphaltfabrik auch dran verdient hat – geschenkt“. Objektiv hat Tschernihiw große Schritte nach vorne gemacht: Laut einem Ranking des amerikanischen International Republican Institute (IRI) landete die Stadt mit ihren knapp 300.000 Einwohnern 2021 auf den ersten drei Plätzen, weit vor Kiew oder Lwiw. Atroschenko wurde deshalb 2015 knapp und 2020 mit fast 77 Prozent der Stimmen wiedergewählt. 

Und er blieb in der Stadt, als die Russen kamen: Innerhalb von Stunden nach dem Einmarsch flogen die ersten Geschosse auf Tschernihiw, das nur 100 Kilometer vor der belarussischen Grenze liegt. Die Stadt hat die Belagerung durch die Russen gut überstanden, inzwischen wird repariert, was nicht völlig zerstört ist. Doch seit Anfang Dezember ist Atroschenko nicht mehr im Amt. Weil es ein Problem gibt: Er gehört nicht zur Präsidentenriege, sondern zum Team von Vitali Klitschko.

Zur Vorgeschichte gehören die Kommunalwahlen von 2020: Damals verlor Selenskyjs Partei im ganzen Land krachend, in Tschernihiw besonders deutlich: Nur vier der 42 Mandate im Stadtrat gingen an Diener des Volkes, großer Gewinner, in Tschernihiw und der gesamten Oblast, war Atroschenkos Partei Heimat.

Ein lachhafter Prozess

Im Sommer 2021 reiste Klitschko nach Tschernihiw, um eine Kooperation seiner Partei UDAR mit Heimat zu unterzeichnen. Atroschenko bekam aus Sicherheitskreisen gesteckt, dass aus der Präsidialverwaltung das Kommando zum Zugriff gekommen sei, dann ging es los: Über die nächsten Monate überzogen Geheimdienst und andere Sicherheitsorgane die städtischen Betriebe mit Durchsuchungen, allein im August 55 an der Zahl. Mit Demokratie hat das wenig zu tun, eher mit klassischen Methoden autoritärer Systeme ohne Gewaltenteilung.

Der Krieg sorgte für eine kurze Pause. Aber schon im Sommer zogen sich über Atroschenko dunkle Wolken zusammen: Ende Mai kann er noch zum Wirtschaftsforum nach Davos ausreisen, bei Reisen ins polnische Rzeszów, wo er eine Städtepartnerschaft unterschreiben will, und nach Lugano, wohin er auf Einladung der Schweiz fährt, hindern ihn Grenzbeamte an der Ausreise. Im Dezember fällt ein Gericht ein Urteil gegen ihn, das Juristen als lachhaft bezeichnen: Wegen eines „Interessenkonflikts“ muss er nicht nur eine Geldstrafe zahlen, sondern wird auch für ein Jahr seines Amtes enthoben.

Sein Vergehen: Atroschenko hatte am Tag des Kriegsbeginns seine Frau und zwei Töchter mit dem Dienstwagen nach Lwiw und weiter nach Polen geschickt – aber ohne Fahrer. Später fuhr sein Fahrer mit Atroschenkos Privat­auto nach Polen, um den Dienstwagen zurückzuholen. Zum Berufungsprozess kamen neben Klitschko auch der Lwiwer Bürgermeister und mehrere Dutzend weitere Amtskollegen ins Gericht. Der Richter bestätigte das Urteil aber, nur die Geldstrafe wurde fallen gelassen. „Das ist eine Entscheidung nicht gegen Atroschenko, sondern gegen die Ukraine, gegen die kommunale Selbstverwaltung“, sagte Atroschenko. Klitschko schimpfte: „Das ist der erste Präzedenzfall, dass einer Kommune mit an den Haaren herbeigezogenen Gründen der Bürgermeister genommen wird, den sie gewählt hat. Wir sprechen heute über jeden Bürgermeister, über jeden Bürger, dessen Willensbekundung nicht mehr akzeptiert wird.“

Bleibt der Autoritarismus?

Mitte Februar ernannte Selenskyj dann einen Kriegsveteranen zum Leiter der städtischen Militärverwaltung. Die Krönung sollte wenige Tage später folgen: Per Rada-Beschluss sollte der von Atroschenkos Leuten dominierte Stadtrat aufgelöst werden. Dagegen rebellierte das Parlament jedoch: Der Vorschlag wurde vorerst zurückgezogen.

Nach einem Jahr Krieg hat sich in der Ukraine neben der äußeren Front eine innenpolitische Front herausgebildet, die für die Zukunft bestimmend werden könnte: jene zwischen Bürgermeistern und der Zentralverwaltung. Von einem „strukturellen Problem“ spricht Politologe Fesenko. „Die Zuständigkeiten der Militärverwaltung, die vom Präsidenten eingesetzt wird, werden immer breiter“, erklärt er. „Zudem werden jetzt vor allem Leute aus dem Militär oder Geheimdienst, sogenannte Silowiki, als Leiter der Verwaltungen eingesetzt.“ Und zwar eingesetzt von Selenskyjs Präsidialverwaltung.

Von einer „Bürgermeisterpartei“ ist nun die Rede, die von Klitschko angeführt werden könnte. Sie wäre die Kraft, die gegen die zentralistischen Tendenzen der Selenskyj-Leute kämpft.

Von „mit dem Krieg verbundenen Deformationen“ des politischen Systems spricht Politologe Fesenko, nennt sie aber eine „Lightversion“: „Natürlich fürchten die Bürgermeister und Oppositionsparteien, dass diese Tendenz stärker wird – und nach dem Krieg beibehalten wird.“ 

Fesenko ist aber überzeugt, dass nach dem Krieg der Wunsch der Ukrainer nach politischem Pluralismus und der Druck der westlichen Partner einen Absturz in den Autoritarismus verhindern werden. „Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn, wie zu Roosevelts Zeiten, das funktioniert heute nicht mehr“, sagt er.

Ein sehr wichtiger Faktor für die politische Zukunft der Ukraine wird auch die Frage sein: Wie geht der Krieg zu Ende? Probleme für Selenskyj ergeben sich, wenn es zu einem Kompromiss kommt, bei dem insbesondere die Frage der Krim ausgeklammert bleibt. „Das werden Poroschenko und andere Oppositionelle sofort ausnutzen“, glaubt Fesenko.

 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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