Türkei - Erdogans Beben

Die Tausenden Opfer des Erdbebens in der Türkei sind nicht in erster Linie der Naturkatastrophe geschuldet. Sondern dem zutiefst korrupten System des Staatspräsidenten, der jede Vorsorge verhinderte. Kurz vor der Wahl könnte sich die Lage endlich gegen ihn wenden.

Ruine eines vom Erdbeben zerstörten Hauses in der Stadt Antakya, 12. Februar / dpa
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Autoreninfo

Günter Seufert ist freier Journalist, Soziologe und hat mehrere Bücher zur Türkei veröffentlicht. Außerdem ist er bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin tätig.

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Noch am Sonntag, dem 5. Februar, der Tag vor den beiden verheerenden Erdbeben in der Türkei, schien Präsident Recep Tayyip Erdogan die Lage im Griff zu haben. Zwar lagen er und sein rechtes Parteienbündnis in den allermeisten Umfragen zu den kommenden Wahlen des Präsidenten und des Parlaments hinter der Opposition zurück. Doch Erdogan hatte guten Grund zur Hoffnung, das Steuer bis zum 14. Mai noch herumreißen zu können. Schließlich kontrolliert er gut 90 Prozent des Fernsehens und der Presse. Sein Innenminister setzt die Opposition mit Landesverrätern gleich und schränkt ihre Möglichkeiten ein, Wahlkampf zu führen. Eben hatte der Justizminister Erdogans dritte Kandidatur für das Amt des Präsidenten gerechtfertigt – gegen die Vorschriften der Verfassung, die nur zwei Amtszeiten vorsieht.

Und der Präsident selbst war gerade dabei, alle finanziellen Möglichkeiten der wirtschaftlich stark angeschlagenen Türkei skrupellos für seinen Wahlsieg einzusetzen. Der Mindestlohn wurde erhöht, das Rentenalter erneut gesenkt und billiges Geld in die Wirtschaft gepumpt. Dieser Geldstrom jedoch ist endlich, weshalb Erdogans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) die für den 18. Juni angesetzten Wahlen auf den 14. Mai vorziehen will.

Am Unglück ist nicht das Ausland schuld

Trotz einer Inflationsrate von circa 120 Prozent, stark sinkender Kaufkraft und wenig Hoffnung auf baldige Besserung der Lage hielten knapp vier von zehn Wählern eisern zu ihrem Präsidenten. Der hatte es bislang vermocht, seinen islamisch-konservativen Anhang davon zu überzeugen, dass nicht seine Wirtschafts-, Finanz- und Außenpolitik für die Krise verantwortlich sind. Nicht dafür also, dass das Pro-Kopf-Einkommen von 12.500 Dollar im Jahr 2013 auf 9600 Dollar in 2021 gefallen ist. Auch nicht für die Verzehnfachung des Zahlungsbilanzdefizits von 2021 auf 2022 und nicht für einen neuen Rekord des Außenhandelsdefizits im Januar 2023. Schuld an der türkischen Misere trügen ausschließlich Europa und die USA. Noch drei Tage vor den Beben sagte Innenminister Süleyman Soylu: „Ausnahmslos jeder Botschafter der USA in der Türkei bereitet Staatsstreiche und Sanktionen vor und denkt nur daran, wie er uns schaden kann.“

Die Katastrophe in weiten Teilen des Südostens der Türkei sowie im Norden Syriens ist dazu angetan, die Karten neu zu mischen. Denn wen will Erdogan dafür verantwortlich machen, dass die Türkei sich 2023 erneut auf Erdbeben gänzlich unvorbereitet präsentiert? Wie Kartenhäuser fallen Apartmentblocks wieder in sich zusammen, genauso wie vor 24 Jahren beim Beben von Izmit nahe Istanbul, das damals 17.000 Menschenleben forderte. Abermals standen Bausicherheitsvorschriften nur auf dem Papier. Erneut zeigt die Bevölkerung sich von der Katastrophe vollkommen überrascht. Aufs Neue kollabieren auch staatliche Gebäude. Und in vielen Regionen sind die Einwohner in den ersten beiden Tagen nach dem Beben wieder auf sich allein gestellt. 

 

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Dabei weiß in der Türkei jedes Kind, dass mehr als 70 Prozent des Territoriums durch Erdbeben gefährdet sind. Das Land wird regelmäßig von Erdstößen erschüttert. Im 20. Jahrhundert war es zu sieben schweren Erdbeben gekommen, das größte davon 1939 mit offiziell 33.000 Toten. Heute befürchtet man, dass diese Zahl noch überschritten werden könnte. Im neuen Jahrtausend war es vor dem jetzigen Desaster bereits zu zwei weiteren Erschütterungen gekommen, nämlich 2011 und zuletzt 2020 in der Millionenstadt Izmir. Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen unbegreiflich, dass die Türkei immer wieder aufs Neue „überrascht“ wird. 

Das alte Beben beflügelte Erdogan

Das gilt besonders für die aktuelle Katastrophe. Professor Naci Görür, der wohl bekannteste Seismologe der Türkei, hat seit 2020 fast wöchentlich davor gewarnt, dass sich enormer Druck auf den beiden großen Erdbebenfalten der Region aufgebaut hat. Erschreckend genau hat er die Zonen und die Zentren der Beben vorhergesagt. Nach dem Desaster sagte er: „Das Beben hat nicht nur gerufen, es hat geschrien, dass es kommt.“ Doch niemand wollte die Warnungen des Professors und seiner Kollegen hören. Weder AFAD, das türkische THW, noch die Regierung, noch die Kommunen haben ihn je um Rat gebeten. Die Erdbebenkommission des Parlaments hat zwar getagt, doch weder ihn gehört noch Celal Sengör, den zweiten Seismologen der Türkei mit internationalem Standing. Denn wie Görür liegt Sengör politisch nicht auf der Linie von Erdogans Partei. 

Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, dass Erdogan von der Tragödie politisch profitieren kann, selbst wenn es ihm gelänge, sich medienwirksam als der Koordinator der Hilfsarbeiten darzustellen. Und auch Versprechungen, die Region in kürzester Zeit erdbebensicher aufzubauen, werden nur seine treuesten Wähler überzeugen. Zu groß ist das Debakel, viel zu plump die Taktik, das eigene Ansehen zu retten. Und viel zu lang die Liste der Versäumnisse. 

Ein während des jüngsten Erdbebens zusammengestürztes Haus in der südtürkischen Stadt Gölbaşi / dpa

Es war das Beben in der Nähe von Istanbul 1999, bei dem zum ersten Mal eine moderne türkische Gesellschaft ihrer Regierung und ihrem Staat bescheinigte, komplett versagt zu haben. In den darauffolgenden Wahlen straften die Wähler ausnahmslos alle alten Parteien ab, wählten Erdogans Partei, die AKP, neu ins Parlament – und ermöglichten es ihr, sofort mit absoluter Mehrheit zu regieren. Zum Jahrestag des Bebens bei Istanbul versprach Erdogan, alles dafür zu tun, dass so ein Drama nicht erneut geschieht. 

Kritik wird festgenommen

„Wir müssen wissen, nicht das Erdbeben tötet, sondern eine Bebauung, die kollabiert, weil Vorschriften nicht eingehalten werden und illegal beim Material gespart wird.“ So sprach damals zum gleichen Anlass Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der rechtsradikalen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), der seit 2018 Erdogans Regierung stützt. Doch zum aktuellen Beben sagt Erdogan, jetzt selbst an der Regierung und verantwortlich: „Auf so ein Unglück kann man nicht vorbereitet sein.“ „Provokative“ Nachrichten würden strafrechtlich verfolgt, und die sozialen Netzwerke auf „Zwietracht säende Posts“ hin durchkämmt. Und auch für seinen heutigen Partner Bahçeli läuft Kritik an der Regierung darauf hinaus, die „nationale Einheit und Brüderlichkeit“ zu untergraben.

Nur vier Tage nach dem Beben sind bereits 31 Personen wegen Nachrichten auf sozialen Medien festgenommen und neun von ihnen verhaftet worden. Bei ihren Reportagen blenden regierungsnahe Fernsehsender die Hilferufe und die Verzweiflung von Betroffenen aus und warten mit den Aufnahmen, bis Einsatzkräfte zugegen sind. In den Provinzen zwingen Gouverneure des Zentralstaats die Transporteure dazu, Hilfslieferungen von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Kommunen als solche der Regierung oder der Regierungspartei darzustellen. Und Industrie- und Technologieminister Mustafa Varank versucht bei den Wählern zu punkten, wenn er sagt, „die Unternehmer der Stadt Ussak senden eine Million von ihnen selbst hergestellte Decken. Das zeigt, dass die Türkei ein produktives Land ist!“

Solche Manöver können schwerlich verdecken, dass die Regierung das Thema Erdbebensicherheit mehr als 20 Jahre verschlafen hat. Die AKP-Mehrheit im Parlament stellte sich bei dem Thema Erdbeben praktisch tot. Von 75 Anträgen der Opposition seit 2018, Erdbebensicherheit zu gewährleisten, wies die Regierungsmehrheit 70 ab. Manchmal jedoch nutze die AKP das Thema auch zum eigenen Vorteil. Ein Beispiel ist die sogenannte Erdbebensteuer. Sie wurde gleich nach dem 1999er Erdbeben eingeführt und besteht aus einem Satz von 10 Prozent auf Rechnungen für Telefon, Kabelfernsehen und Internet. Die Einnahmen flossen jedoch nicht in Gebäudesicherheit, Aufklärung der Bevölkerung oder Erdbeben-Frühwarnsysteme, sondern in große Infrastrukturprojekte wie Autobahnen und Flughäfen, die sich die AKP von Erdogan auf ihre Fahnen schrieb.

Die korrupte Baubranche

Für die Erdbebensicherheit selbst blieb wenig übrig. Im Haushalt von 2022 waren für Stadterneuerung, Risikovorsorge und Katastrophenmanagement lediglich 0,5 Prozent eingeplant, viel weniger etwa als für die religiöse Unterweisung der Bevölkerung. Und da, wo Stadterneuerung betrieben wurde, verkam sie zur Beschaffung von Extrarenditen für AKP-nahe Bauunternehmer. Das sagt jedenfalls der Geologe Cenk Yaltırak, Professor an der Technischen Universität Istanbul.

Tatsächlich sind Infrastrukturprojekte die Achillesferse von Erdogans Regierung. Schon bald nach ihrem Machtantritt im Jahr 2002 begann die AKP, das Gesetz über öffentliche Ausschreibung zu beschneiden. 2021 war das ursprünglich nur 70 Paragrafen umfassende Gesetzeswerk bereits 191 Mal geändert worden – so stark, dass von transparenter Auftragsvergabe längst keine Rede mehr sein kann. Das Ergebnis: Nur fünf große Firmen haben in den vergangenen zehn Jahren in der Türkei den Löwenanteil aller öffentlichen Ausschreibungen für Infrastrukturprojekte erhalten – von der Autobahn bis zum Flughafen, vom Straßentunnel bis zur Hängebrücke. So groß ist dieser Anteil, dass einem Bericht der Weltbank zufolge diese fünf Unternehmen 2021 unter den zehn Firmen waren, die weltweit die finanziell größten Aufträge staatlicher Stellen einkassierten.

Bürger protestieren gegen ein politisches Betätigungsverbot, mit dem Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu belegt
wurde, 14. Dezember 2022 / dpa

Kemal Kılıçdaroglu, Chef der Republikanischen Volkspartei (CHP) und Oppositionsführer im türkischen Parlament, nennt diese Firmen nur noch die „Fünferbande“ und droht ihnen bei einem Wahlsieg mit strafrechtlichen Ermittlungen. Die Unkultur von Vorteilsnahme und Begünstigung herrscht nicht nur bei den Großprojekten, sondern durchzieht das gesamte Baugewerbe der Türkei. Zwar hat das Land die strengsten Sicherheitsvorschriften, doch jeder weiß, sie stehen nur auf dem Papier. Die vom jüngsten Erdbeben betroffene Region umfasst zehn Provinzen. In ihnen wurden mehr als die Hälfte der Gebäude nach den Erdstößen von 1999 errichtet und sollten deshalb erdbebensicher sein. Doch bei dem Beben stürzten selbst brandneue Gebäude ein. Nichts hat das Ansehen von Erdogans Partei so sehr befleckt wie Korruption, und nirgends vermutet der Mann auf der Straße mehr Korruption als im Bausektor. Das ist der Grund, weshalb heute in der Türkei sehr viele glauben, dass das Entsetzen über die riesigen Verluste schon sehr bald in Wut auf die Regierung und auf den Präsidenten umschlägt. „Erdogan kam nach einem verheerenden Erdbeben an die Macht, und er verliert die Macht nach dieser Katastrophe“, heißt es in vielen Kommentaren. 

Erdogan vereint die Opposition

Der Präsident sieht die Gefahr, und seine erste Reaktion darauf ist, für die betroffenen Provinzen einen dreimonatigen Ausnahmezustand zu erlassen. Es kann ihm dabei nicht, wie er behauptet, darum gehen, Hilfsleistungen effektiver zu koordinieren, gegen Plünderer vorzugehen und Kredithaien das Handwerk zu legen. Erfreut sich Erdogan doch seit 2018 eines Präsidialsystems, das alle Macht auf seine Person konzentriert und die Gewaltenteilung untergräbt. Wie er selbst hinzufügt, will er verhindern, dass andere „die Situation zum eignen politischen Vorteil nutzen“. Unter dem Ausnahmezustandsrecht kann die Regierung die Bewegungsfreiheit der Bürger begrenzen, das Recht der Presse auf Informationserlangung und -verbreitung beschneiden und alle politischen Rechte suspendieren. 

Bleibt es bei dieser Regelung, kann Erdogan bis vier Tage vor dem Urnengang die Nachrichten aus der gebeutelten Region noch leichter kontrollieren und die Arbeit der Opposition vor Ort fast vollständig lahmlegen. Auch deshalb drängt Meral Aksener, die Vorsitzende der zweitgrößten Oppositionspartei, die sogenannte Gute Partei (IyiP), darauf, die Wahlen nicht vorzuziehen, sondern sie, wie ursprünglich geplant, erst am 18. Juni abzuhalten. Bis dahin wäre nicht nur das Ausmaß der Katastrophe allgemein bekannt. Auch die zahlreichen Versäumnisse der Regierung von Bausicherheit bis Katastrophenschutz wären dokumentiert. Dafür spricht auch, dass viele Bewohner die Region zumindest vorläufig verlassen und bei Verwandten, Freunden und Bekannten in anderen Landesteilen Zuflucht suchen werden. Ihnen wäre die Stimmabgabe verwehrt, da man in der Türkei nur am Wohnort wählen kann.

Der Oppositionspolitiker und CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroglu hat aus Protest gegen die hohen
Elektrizitätspreise seine Stromrechnung nicht bezahlt und nutzt deshalb eine Öllampe / dpa

Auch wenn Erdogans Image durch die Katastrophe schwer angekratzt ist, um ihn tatsächlich von der Regierung abzulösen, muss sich die Opposition als handlungsfähige Alternative präsentieren. Und das geht nur, wenn alle Parteien des Oppositionsbündnisses über den eigenen Schatten springen. Der Anfang dafür ist gemacht. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkischen Republik haben sich sechs Parteien zusammengefunden, deren Weltanschauung und Programm freilich in vielen Punkten unterschiedlicher nicht sein können. 

Der Sechser-Tisch

Angeführt wird der sogenannte Sechser-Tisch von der Republikanischen Volkspartei (CHP). Sie ist die Partei von Republikgründer Kemal Atatürk, ein Erbe, auf das sie baut und an dem sie jedoch auch schwer zu tragen hat. Denn zwischen 1923, als die Republik ausgerufen wurde, und 1946 war die CHP die einzig zugelassene Partei. Sie modernisierte das Land mit harter Hand, stellte die Religion unter die Fuchtel des Staates und machte für alle einen säkularen Lebensstil verpflichtend. Deshalb misstraut der große religiös-konservative Block der türkischen Gesellschaft der CHP zutiefst. 

Porträt des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk im Istanbuler Stadtteil Besiktas / Kerem Uzel

Hinzu kommt, dass ihr heutiger Vorsitzender Kemal Kılıçdaroglu aus einer alevitischen Familie stammt. Die Aleviten sind eine religiöse Minderheit, die von den konservativen Sunniten als Häretiker betrachtet werden. Lange wurden dem 74-jährigen, relativ blassen ehemaligen Bürokraten als Kandidat gegen Erdogan keinerlei Chancen eingeräumt. Und in der Tat hat die CHP seit 2010, als Kılıçdaroglu ihren Vorsitz übernahm, in der Wählergunst nicht zugelegt und schaffte es nicht, mehr als 30 Prozent der Wähler anzusprechen. Doch in den zurückliegenden Monaten hat Kılıçdaroglu gezeigt, dass er angreifen kann, und liegt heute in manchen Umfragen tatsächlich vor dem Präsidenten. 

Nummer zwei am Sechser-Tisch ist die Gute Partei (IyiP) von Meral Aksener. Die IyiP entstand als Abspaltung von der extrem rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Anders als die MHP stellten sich Aksener und ihre Partei aber gegen das Präsidialsystem, das Erdogan auf ganz legalem Weg zum Autokraten machte. Obwohl sie aus der rechtsextremen Ecke kommt und in ihrer Zeit als Innenministerin besonders gegen kurdische Gruppen einen unduldsamen Kurs verfolgt hat, steuert Aksener heute ihre Partei behutsam in die rechte Mitte. Immer noch weigert sie sich jedoch, mit der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in einen Dialog zu treten, ohne deren Unterstützung die Opposition bei Wahlen keine Chance hat.

Erdogans Macht bröckelt

In der rechten Mitte einrichten möchten sich noch zwei weitere Oppositionsparteien, die Zukunftspartei (GP) des ehemaligen Außenministers und Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu sowie die Demokratie- und Fortschrittspartei (DeVa) des früheren Außen- und Wirtschaftsministers Ali Babacan. Die Vorsitzenden beider Parteien dienten jahrelang als Minister unter Erdogan, versagten ihm jedoch die Gefolgschaft, als er sich zum Alleinherrscher entwickelte. Beide Parteiführer spekulierten auf den Zulauf von enttäuschten Wählern von Erdogans AKP. Doch diese Rechnungen gingen nicht auf, die Wählerschaft beider Parteien bewegt sich im niedrigen einstelligen Bereich. Wichtig sind die beiden Parteien trotzdem, denn ihre Vorsitzenden und ihre Kader haben noch immer Verbindungen in Erdogans Bürokratie – etwas, worüber weder die CHP noch die IyiP verfügt. 

Sosehr die CHP für strikte Säkularität steht, so sehr steht die Glückseligkeits­partei (SP) für Religiosität und Frömmigkeit. Ihr Vorsitzender, der 81-jährige Temel Karamollaoglu, begann seine politische Karriere als beinharter Islamist. Heute schwört er dem Islamismus ab, wendet sich gegen Erdogans Alleinherrschaft und will mehr Demokratie. Als einzige Partei am Sechser-Tisch wendet sich Karamollaoglu dagegen, dass die Türkei der Konvention des Europarats zum Schutz der Frauen gegen häusliche Gewalt erneut beitritt. Das türkische Parlament hat die Konvention im März 2012 ratifiziert. Doch um weiteres Abbröckeln seiner religiös-konservativen Wählerschaft zu verhindern, hat Erdogan im Juni 2021 den Parlamentsbeschluss per Dekret des Staatspräsidenten aufgehoben. Prompt ist die Zahl der Gewalttaten an Frauen wieder angestiegen.

Zu Beginn war es wohl nur die Erkenntnis, dass keine der Oppositionsparteien alleine eine Chance hat, Erdogans Monopol der Macht zu brechen, der diesen politisch so heterogenen Haufen zusammengeführt hat. „Zurück zum Parlamentarismus!“ lautet deshalb die Losung, die das Bündnis anfangs allein zusammenhielt. Doch im Lauf der Zeit kamen zwei weitere Dinge hinzu. Bei den Kommunalwahlen im März 2019 erzielte das Bündnis einen ersten Wahl­erfolg. Viele der Rathäuser und Bürgermeisterposten der wirtschaftlich am weitesten entwickelten Städte der Türkei fielen an Oppositionsparteien, darunter Istanbul, Izmir, Ankara, Antalya und Mersin. Möglich war dieser Erfolg jedoch nur, weil die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die über circa 13 Prozent aller Stimmen verfügt, die Opposition unterstützte.

Überall loyale Trottel

Ganz allmählich wurde der Opposition auch klar, dass es nicht nur um ihren Ausschluss von der Macht geht, sondern dass das Schicksal des Landes auf dem Spiel steht. Nicht kontrollierbar durch das Parlament, die eigene Partei und auch nicht durch die Presse, fuhr Erdogan in mehr und mehr Politikfeldern den Karren an die Wand. Bald war die Türkei in ihrer eigenen Region weitgehend isoliert, lag nicht nur mit Athen und Nikosia, sondern auch mit Kairo, Riad, Abu Dhabi und Tel Aviv im Streit. Ankara befand sich im Konflikt mit Washington und mit Brüssel und geriet langsam, aber sicher unter den Einfluss Moskaus. Die Wirtschaftskrise wurde chronisch. Heute liegt das Pro-Kopf-Einkommen um 13 Prozent niedriger als noch 2013. Erdogans unorthodoxe Finanzpolitik löste einen rapiden Kursverlust der Lira aus. Nie waren die Defizite in der Zahlungsbilanz und im Außenhandel größer. 

Für alle diese negativen Trends gibt es einen zentralen Grund. Weil Erdogan alles allein entscheidet, drängt er zentrale staatliche Institutionen an die Wand. Um dort eventuellen Widerstand zu brechen, bestückt er sie mit ihm loyalen Leuten, die weder kompetent sind noch eine eigene Meinung haben. Die Ämter laufen leer und werden zunehmend funktionslos. Das gilt für das Außenministerium genauso wie für die Zentralbank, für das Statistische Amt ebenso wie für das Gesundheitsministerium. Nirgendwo mehr ein Zeichen von Eigeninitiative. Selbst wenn bei einem großen Brand in Istanbul die Feuerwehr ausrückt, geschieht das, wie es ganz ohne Ironie heißt, „auf die Anweisung unseres Präsidenten“.

Erdogans Ende?

Die Mischung aus Inkompetenz und fehlender Initiative schlug auch auf die Rettungsarbeiten gleich nach der Erdbebenkatastrophe durch. Im staatlichen Katastrophenschutzwerk AFAD leitet ein Theologe, der keinerlei Erfahrung im Katastrophenschutz besitzt, die Abteilung für eilige Rettungseinsätze. Der Generaldirektor für Unterkünfte und Gebäude ist zufällig ein Schwager des Ministers für Städtebau und Umwelt. 

Nach nunmehr 20 Jahren ununterbrochener Alleinregierung hat sich die AKP den Staat weitgehend einverleibt und ein kompaktes Bündel von Karrieren, Korruption und Vorteilsnahme aufgebaut. Ein nicht zu kleiner Teil der türkischen Gesellschaft zieht Nutzen aus diesem Netzwerk von Selbstbedienung, Macht und nationalistisch-konservativer Orientierung. Das Erdbebendesaster ist dazu angetan, das Netzwerk aufzureißen. Denn auch die konservativsten Bürger der Türkei möchten in sicheren Häusern leben. Das ist die Chance der Oppositionsparteien. 

Sie werden diese Chance aber nur nutzen können, wenn alle Parteivorsitzenden ihr Ego zügeln und ihre Ideologen an die kurze Leine nehmen.

 

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie demnächst am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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