Türkei und Israel - Der Brain Drain türkischer Juden

Neben hochqualifizierten muslimischen Türken wandern seit Jahren auch vermehrt türkische Juden aus der Türkei aus. Mit Muslimen in ihrem Alter teilen sie die Angst vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes. Hinzu kommt der zunehmende Antisemitismus. Endet bald die 500-jährige Geschichte der sephardischen Juden in der Türkei?

Der Istanbuler Stadtteil Balat war lange Zeit hauptsächlich von sephardischen Juden bewohnt / dpa
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Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Das Osmanische Reich, Vorgängerstaat der türkischen Republik, galt unter Juden der Welt einst als kosmopolitisches Land. Ein Land, in dem sie im Vergleich zu den Königreichen Europas freier lebten und nicht konvertieren mussten. Sephardische und aschkenasische Juden sowie Mizrahim (also orientalische Juden): Verschiedene jüdische Stämme und Gemeinden mit ihren unterschiedlichen Sprachen und Bräuchen nannten das Vielvölkerreich einst ihre Heimat.

Zwar waren die osmanischen Juden ihren muslimischen Mitbürgern rechtlich und gesellschaftlich nicht gleichgestellt, doch Pogrome waren die Ausnahme. Die Auslebung ihrer Religion war bis zum Aufkommen nationalistischer Bewegungen nicht eingeschränkt. Die Türkei war ebenfalls das erste muslimische Land, das 1948 den Staat Israel anerkannte und mit ihm viele Jahrzehnte lang enge diplomatische Beziehungen unterhielt.

Mit der Vertreibung der sephardischen Juden aus dem katholischen Spanien im Jahre 1492 fanden Zehntausende spanischer und portugiesischer Juden im heutigen Gebiet der Türkei eine neue Heimat. Mustafa Kemal Atatürk, Gründer der laizistischen Republik, öffnete die Türen türkischer Universitäten abermals für europäische Juden, die vor der Naziherrschaft flohen. Juden wurden von den Kemalisten als gebildete und säkulare Mitbürger geschätzt, bis vor Erdoǧans Machtantritt pflegten die Türkei und Israel sehr enge wirtschaftliche, militärische und diplomatische Beziehungen.

Mit der Gründung des Staates Israel 1948 setzte die erste große Auswanderungswelle türkischer Juden ein, der viele weitere folgten. Das religiöse Motiv der Alija, also die Rückwanderung in die historische Heimat Israel, bewegte Zehntausende türkischer Juden dazu, ihre einstige Heimat zu verlassen. Der zunehmende Antisemitismus nach Machtantritt der islamisch-konservativen AKP und die häufigen antisemitischen Aussprüche des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan waren ebenfalls Anlass für junge türkische Juden, nach Kanada, in die USA und mehrheitlich nach Israel auszuwandern.

Antisemitismus ist in der Türkei auf dem Vormarsch

Da der überwiegende Teil der türkischen Juden Sepharden sind, verfügen sie meist über eine spanische oder portugiesische Staatsangehörigkeit und können so von Reiseerleichterungen profitieren. In den letzten zwei Jahrzehnten nahm die Zahl türkischer „Mein Kampf“-Leser kontinuierlich zu, antisemitische Verschwörungstheorien sind in Social Media keine Seltenheit mehr. Ob Erdbeben, Wirtschaftskrise oder moralischer Verfall – hinter vielen Katastrophen, die die Türkei heimsuchen, stecken angeblich „Zionisten“.

Mit Erdogans Versuch, eine Führungsrolle in der sunnitischen Welt einzunehmen, nahmen antisemitische Publikationen sowohl bei der türkischen Rechten als auch bei Linken sowie Gläubigen zu. „Allah soll Hitler segnen“, lauteten oft Posts in Social Media, es folgten Angriffe auf türkische Synagogen. Türkische Juden wurden immer wieder als „yabancı“ („Ausländer“) bezeichnet, obwohl viele auf mehr als 500 Jahre jüdischen Familiengeschichte im Osmanischen Reich zurückblickten. Bedeutenden Personen der türkischen Geschichte wie Mustafa Kemal Atatürk und seinen engen Wegbegleitern wurde unterstellt, sie seien „Kryptojuden“. Wer sich als Kritiker einer zunehmend autoritären Türkei zeigte, wie der inhaftierte Kulturmäzen Osman Kavala, wurde Opfer antisemitischer Anfeindungen.

Ein beträchtlicher Teil türkischer Juden verfügt über zwei Vornamen, einen muslimischen und einen jüdischen. Sicher ist sicher, denken sich jüdische Eltern, die ihre Kinder dazu anhalten, in einer zunehmend antisemitischen Umgebung ihre jüdische Identität geheimzuhalten.

Von „Wenn wir nicht auffallen, passiert uns nichts“ zu „Lasst uns reden!“

Die Überlebenstaktik türkischer Juden in einem mehrheitlich muslimischen und zunehmend rassistischen Land war abermals, nicht aufzufallen, ihre von der sunnitisch-türkischen Norm abweichende Identität zu verheimlichen und sich nicht zu politischen Entwicklungen zu äußern. Diese Strategie ihrer Eltern fand bei jüngeren türkischen Juden wenig Anklang. „Lasst uns reden!“ lautete der Titel eines Projekts, das mehrheitlich aus dem Westen des Landes stammende Mitglieder jüdischer Communitys initiierten.

Mit dem Ziel, jüdisches Leben sichtbarer zu machen, sich klar gegen Antisemitismus zu äußern und zur eigenen jüdischen Identität zu bekennen, initiierten die engagierten jungen Türken eine Website, zeigten sich auf Social Media. Begegnungsprojekte, Interviews, Dokumentationen und andere Bildungsprojekte folgten. Im Gegensatz zur Generation ihrer Eltern oder Großeltern fühlten sich die jungen türkischen Juden als Teil der türkischen Gesellschaft, sprachen Türkisch besser als Ladino („Judäo-Spanisch“) und wollten sich als gleichgestellte Bürger behaupten.

 

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Avlaremoz positionierte sich eindeutig anders als Șalom, eine mehrsprachige jüdische Wochenzeitung, die sich oftmals nicht eindeutig gegen antisemitische Aussagen Erdogans behauptete und die Überlebensstrategie „Wenn wir nicht kritisieren, passiert uns nichts“ nutzte. Inzwischen haben viele aus dem Gründerteam des „Lasst uns reden!“-Projektes die Türkei Richtung Kanada oder Israel verlassen. Auch sie mehrheitlich wegen der chronischen Wirtschaftskrise und dem zunehmenden Antisemitismus. In den vergangenen Jahren wurden türkische Lehrbücher stark überarbeitet. Der Darwinismus verschwand, Informationen über Atatürk wurden gekürzt, Wissen über den Holocaust komplett gestrichen.

Aktuell leben Schätzungen zufolge höchstens 10.000 türkische Juden in der Türkei. Meist ältere Mitglieder der Gemeinde, für die eine Auswanderung altersbedingt nicht in Frage kommt. Die Zentren des türkischen Judentums sind heute Istanbul und Bursa. Antakya, einst eine wichtige Hochburg jüdischen Lebens im Nahen Osten, verlor bei dem verheerenden Erdbeben im Februar viele seiner verbliebenen Mitglieder, die Überlebenden verließen die Region. Somit endete die 2300 Jahre alte Geschichte der arabischsprachigen Juden von Antakya.

Ankunft im säkularen Tel Aviv

Türkische Juden bezeichnen sich mehrheitlich als säkular. Religion spielt in ihrem Alltag keine besonders wichtige Rolle. So überrascht es nicht, dass sie mehrheitlich im kosmopolitischen und säkularen Tel Aviv eine neue Heimat gefunden haben. Der israelische Staat unterstützt die Einwanderer die ersten sechs Monate finanziell, mit kostenlosen Sprachkursen und Steuererleichterungen. In Tel Aviv ist die türkische Gemeinde gut vernetzt. Der Verein der türkischen Juden („Türkiyeliler birliǧi“ „Vereinigung der Türkeistämmigen“) unterstützt Neuankömmlinge. Mit Veranstaltungen wie dem Fest des türkischen Essens und anderen Angeboten holt er den türkischen Juden ein Stück ihrer alten Heimat in die neue.

Betsy Penso / privat

Die 30-jährige Betsy Penso ist eine von vielen Tausenden sephardischen Türken, die ihre Alija nach Israel gemacht haben. 2019 zog die junge Türkin nach Tel Aviv und gilt in der türkischen Gemeinde Tel Avivs sowie in Istanbul als Netzwerkerin. Eine, die alle kennt. Die studierte Juristin ist zudem Mitbegründerin der jungen jüdischen Initiative Avlaremoz in der Türkei und trug mit zahlreichen Begegnungs- und Dialogprojekten in der Türkei zu einer größeren Wahrnehmung jüdischen Lebens bei.

„Viele türkische Juden verlassen das Land, oft nach ihrem Master-Abschluss. Entweder aus beruflichen Gründen oder weil sie eine Familie gründen wollen. Antisemitismus ist einer der vielen Gründe, aber nicht der einzige Grund. Die Wirtschaft und die Politik, alles wird instabiler. Der Wunsch nach Auswanderung hat inzwischen auch einen großen Teil der nichtjüdischen Bevölkerung erfasst. Unsere türkisch-jüdische Gemeinde in Tel Aviv ist sehr solidarisch. Dadurch haben wir weniger Existenzängste, und wir haben hier keine Angst vor Ausgrenzung wie in der Türkei“, so Penso.

Dass der Antisemitismus in der Türkei im Falle einer Wahlniederlage der AKP abnehmen wird, daran glaubt die junge Frau nicht. „Der Antisemitismus existierte schon vor der AKP, das Bildungssystem und das Rechtssystem müssten sich grundlegend ändern, um türkischen Juden ein gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen“, so Penso. In Israel genießt sie, „Demokratie auf der Straße leben zu können“, wie sie sagt. Aktuell nimmt sie in Tel Aviv an den Protesten gegen die geplante Justizreform teil. „Ich hatte es vermisst, mich ohne Bedenken politisch engagieren zu können, Teil einer Gruppe von Menschen zu sein, die gemeinsam etwas bewegen möchte, das ist hier möglich“, so Penso.

Wie Penso geht es vielen Juden in der Türkei. Die Angst vor einem wirtschaftlichen Kollaps, vor einem zunehmend autoritären Land und antisemitischen Anfeindungen treibt die Juden des Landes ins Ausland. Lebten 1948 noch 120.000 Juden in der Türkei, sind dies aktuell höchstens 10.000. Von einer Rückkehr der Exiljuden in ihre türkische Heimat gehen die wenigsten aus.

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