Saudi-Arabien baut Wirtschaft um - Die Spiele des Prinzen

Die Monarchie in Saudi-Arabien öffnet sich für Investoren, setzt auf Tourismus und gewährt der Jugend ungekannte Freiräume. Im Zentrum der Transformation steht eine milliardenschwere Sportindustrie.

Siegerehrung nach dem Spiel zwischen dem Riad Season Team und Paris Saint-Germain im Januar 2023 / Eyevine, Laif
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Ronny Blaschke hat fünf Bücher über politische Hintergründe im Fußball geschrieben.

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Die Gesänge der Fans hallen unter dem geschwungenen Dach so laut nach, dass man sich mitunter die Ohren zuhalten möchte. Im König-Fahd-Stadion von Riad findet an diesem Abend das Lokalderby zwischen Al Hilal und Al Nassr statt, es ist das wichtigste Fußballspiel auf der Arabischen Halbinsel. Mehr als 50 000 Zuschauer feiern die neuen und fürstlich bezahlten Spieler in Saudi-­Arabien, etwa den Portugiesen Cristiano Ronaldo bei Al Nassr. Aber die Fans feiern vor allem sich selbst.

Die Mehrheit der Zuschauer im Stadion ist kaum älter als 30, viele sind noch im Schulalter. Nur wenige verfolgen das Spiel im traditionellen Thawb, im weißen, knöchellangen Gewand, das im Stadtbild von Riad sonst allgegenwärtig ist. Die Fans des Gastgebers Al Hilal singen, hüpfen, klatschen im Takt. Als die Mannschaften den Rasen betreten, recken sie blaue und weiße Tücher empor. Ihre Choreografie überspannt die ganze Tribüne und zeigt das Bild eines kämpferisch wirkenden Mannes. Einige Fans entzünden Leuchtraketen. Der Rauch vernebelt das Stadien so sehr, dass die Zuschauer den Rasen erst nach einigen Minuten wiedererkennen können. Die Masse johlt, berauscht an sich selbst. Und so scheint es, als würde sich hier ein Ventil öffnen, damit der angestaute Druck entweichen kann.

Saudi-Arabien wandelt sich rapide

Rund 70 Prozent der Bevölkerung in Saudi-Arabien sind jünger als 30. Die Öl-Einnahmen werden sinken, und so kann die Monarchie nicht mehr allen Bürgern einen lukrativen Job im Staatswesen anbieten. Laut Weltbank liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 24 Prozent. Die jüngere Generation kann mit den alten Eliten aus Religion und Stammesstrukturen immer weniger anfangen. Das Königshaus muss den Jüngeren neue Freiräume gewähren, denn es ist auf ihre politische Loyalität und ihre wirtschaftliche Produktivität angewiesen. Saudi-Arabien wandelt sich rapide – und der Sport spielt dabei eine bemerkenswerte Rolle.

Amer, Anfang 30, steht auf der Tribüne und schwenkt seinen blau-weißen Schal von Al Hilal. Er möchte seinen richtigen Namen nicht nennen, damit er freier sprechen kann. Amer arbeitet in einem staatsnahen Unternehmen in Riad und muss viele Überstunden leisten, sagt er, der Fußball sei eine wichtige Stressbewältigung. Wenn beim gegnerischen Team Al Nassr Ronaldo am Ball ist, dann rufen die Al-Hilal-Fans „Messi, Messi“. Viel mehr an Provokation ist während des Spieles nicht zu hören. Die saudische Fankultur sei frei von Gewalt und Aggressionen, sagt Amer. Auch Polizisten in Uniformen sieht man rund um das König-Fahd-Stadion kaum.

Bei europäischen Fußballklubs stehen die hartgesottenen Fans, die Ultras, oft in Opposition zu ihren Vereinsführungen. In Saudi-Arabien aber dürfen sie sich offiziell nicht als Ultras bezeichnen, denn das würde zu sehr nach Auflehnung klingen. Die Anfeuerungsrufe, die Choreografien, die Leuchtfackeln in der Menschenmenge: Fast alles müssen die saudischen Fans mit den Klubs abstimmen. Ihre Anführer sind häufig bei den Vereinen angestellt. Man kann hier im Kleinen eine Symbolik für etwas Größeres erkennen. Das einst verschlossene Saudi-Arabien will sich öffnen – allerdings unter strenger Kontrolle.
 

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Die saudi-arabische Offensive setzt neue Maßstäbe. Nach Berechnungen des Guardian hat das Königshaus seit 2021 mehr als fünf Milliarden Euro in die Sportindustrie investiert. Seither finden in Saudi-­Arabien Formel-1-Rennen, Boxkämpfe, Tennis­turniere, Handballspiele oder Wrestling-Shows statt. Die Schnittstelle für diese Offensive ist der Public Investment Fund (PIF), einer der größten staatlichen Investitionsfonds der Welt, mit einem Volumen von rund 700 Milliarden Euro.

Der PIF hat jeweils 75 Prozent an den vier wichtigsten Fußballklubs in Saudi-Arabien übernommen, zwei in Riad, zwei in der Hafenstadt Dschidda. Mehr als 950 Millionen Euro sollen im vergangenen Jahr in Ablösesummen und Gehälter neuer Spieler geflossen sein. Die bekanntesten von ihnen, Cristiano Ronaldo, der Franzose Karim Benzema, der Brasilianer Neymar und der Algerier Riyad Mahrez, wurden für ein gleichmäßiges Wachstum der Liga auf die vier Klubs verteilt. Allein Ronaldo soll bei Al Nassr bis 2025 jährlich etwa 190 Millionen Euro erhalten. Es sind unrealistisch anmutende Summen, die im Westen mit dem Schlagwort „Sportswashing“ überschrieben werden: eine Strategie, um den Ruf eines Regimes im Ausland durch Sport zu verbessern.

Der Fußballfan Amer aus Riad atmet tief durch und schüttelt den Kopf, als er auf den Begriff „Sportswashing“ angesprochen wird. Amer hat wie etliche seiner Freunde in den USA studiert, sie sind in der Welt herumgekommen und könnten auch einen Job in New York, London oder Sydney antreten. Aber sie möchten die Transformation von Saudi-Arabien mitbestimmen. Die neue Stärke im Fußball fördere den Patriotismus und das Gemeinschaftsgefühl im Land, sagt Amer: „Wir machen das doch nicht nur, um den Westen zu beeindrucken. Wir machen das vor allem für unsere Gesellschaft.“

Demonstrationen und Parteien sind untersagt

Wer als ausländischer Journalist in Saudi-Arabien Gesprächspartner finden möchte, der weiß, dass bestimmte Themen außen vor bleiben sollten, um die Informanten nicht in Verlegenheit oder gar in Gefahr zu bringen. Was Amer nicht erwähnt: Allein 2022 sind in Saudi-Arabien 196 Menschen hingerichtet worden, die höchste Zahl in drei Jahrzehnten. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt Saudi-Arabien von 180 bewerteten Staaten auf Platz 170. Streiks, Demonstrationen und Parteien sind untersagt. Dieses System schreckt ab und führt dazu, dass es kaum Proteste gibt.

Aber wird es langfristig auch so bleiben? Bis 2030 könnte die Bevölkerung Saudi-Arabiens von 36 auf 41 Millionen wachsen. Rund drei Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Jährlich drängen mindestens 250 000 Jobsuchende auf den Arbeitsmarkt. Viele saudische Staatsbürger müssen nun anstrengende Aufgaben übernehmen, die einst ungelernte Arbeitskräfte aus Südasien erledigt haben. Und die Lage könnte sich noch zuspitzen: 2022 deckten die Öl-Einnahmen etwa 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ab. Dieser Anteil könnte laut dem Internationalen Währungsfonds bis Ende der 2030er Jahre auf 16 Prozent sinken.

Der König-Abdullah-Finanzdistrikt 
in der saudi-arabischen Hauptstadt 
Riad während eines Lichtfestivals 
/ Imago Images

Der Kronprinz und De-facto-Herrscher Mohammed bin Salman muss neue Wege finden, um den Wohlstand zu sichern – und damit auch seine eigene Macht. Zu den zentralen Themen seiner groß angelegten „Saudi Vision 2030“ gehören die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Öffnung für ausländische Investoren, zudem der Aufbau von Dienstleistungsbranchen und einer Tourismusindustrie. Über Jahrzehnte gestattete der Staat vornehmlich religiösen Tourismus rund um die heiligen Stätten des Islam in Mekka und Medina. Seit 2019 können auch Bürger aus 49 Staaten ein Visum erhalten. Die Regierung will mehr als 700 Milliarden Euro in den Tourismus investieren. Bis 2030 sollen jährlich 100 Millionen Besucher ins Land kommen, fünfmal so viele wie 2022.

Die neue Sportindustrie Saudi-Arabiens verleiht dieser politischen Strategie eine vermeintlich unpolitische Fassade. Als Tourismusbotschafter wurde der argentinische Fußballweltmeister Lionel Messi verpflichtet, der allein bei Instagram rund eine halbe Milliarde Follower zählt. Wenn der brasilianische Nationalspieler Neymar einen positiven Post über Saudi-Arabien veröffentlicht, soll er dafür 500 000 Euro erhalten. „Niemand erreicht global so viele Menschen wie Ronaldo und Messi. Und das in politisch, kulturell und religiös sehr unterschiedlichen Regionen“, sagt der saudische Nahost­experte Aziz Alghashian, der auch für den in Bonn ansässigen Thinktank Carpo forscht. „Dass so etwas in Saudi-Arabien möglich ist, war vor zehn Jahren noch undenkbar.“

Ein Grund dafür: die Religion. Im Gegensatz zu anderen muslimisch geprägten Staaten bildet die Scharia in Saudi-Arabien die Basis für die gesamte Rechtsprechung. Über Generationen dominierte der Wahhabismus den Alltag, eine streng konservative Strömung des sunnitischen Islam. Das asketische Verständnis der Wahhabiten lehnt die Konsumgesellschaft ab, demnach auch Unterhaltung, Musik und die Glorifizierung menschlicher Leistungen.

„Rückkehr zu einem moderaten Islam“

Über lange Phasen des vergangenen Jahrhunderts beschritten die Monarchie und die Rechtsgelehrten denselben Weg. Kinos und Konzertsäle blieben verschlossen, Frauen mussten getrennte Eingänge nutzen und durften Sportwettbewerbe von Männern nicht besuchen. Die Religionspolizei konnte Verstöße gegen Kleidervorschriften sofort ahnden. Nun, da der Wohlstand langfristig nicht mehr sicher ist, stellt das Königshaus die Transformation über religiöse Dogmen. Die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen im Jahr 2018 soll die Wirtschaftsleistung laut Bloomberg jährlich um 80 Milliarden Euro steigern. Mohammed bin Salman lässt Geistliche, die sich gegen die Reformen aussprechen, versetzen und überwachen. Er wünscht sich eine „Rückkehr zu einem moderaten Islam“.

Die einst verbotene Unterhaltung nach westlichem Vorbild bildet nun eine Säule der Modernisierung. Seit 2018 kümmert sich ein neues Kulturministerium um Festivals, Stipendien und Universitätspartnerschaften. Die Regierung vermarktet gigantische Projekte, die Tourismus, Unterhaltung und Stadtentwicklung verbinden sollen: Zum Beispiel Neom, ein futuristisches Siedlungsprojekt im Nordwesten. Oder Qiddiya in Riad, ein Campus mit Achterbahn, Kinos, Parks, Sportanlagen. Oder Trojena, ein Skigebiet im Hochgebirge, wo 2029 die asiatischen Winterspiele mit Kunstschnee stattfinden sollen.

Die Sportindustrie soll Jobs schaffen, den inländischen Konsum anregen und die Identifikation mit der Transformation stärken. Was das bedeutet, kann man bei den Saudi Games beobachten, bei einem Sportfestival, das an mehreren Orten in Riad stattfindet. Ein zentraler Ort ist die „Fan Zone“, ein Gelände mit Sportplätzen und Hallen, auch mit Zelten für E-Sports und Filmvorführungen. Daneben sind eine Konzertbühne und Imbissstände aufgebaut. Mittendrin: zwei Gebetsräume, die aber kaum aufgesucht werden. Aus den Lautsprechern schallt amerikanische Popmusik. Nebenan beim Strandfußball animiert der Stadionsprecher das Publikum.

Der Wahhabismus weist die Geschlechterrollen zu

Amira, Mitte 30, nimmt in einem Kraftsport zum zweiten Mal an den Saudi Games teil. Auch sie möchte nicht, dass ihr Name in einem Artikel über politische Hintergründe des Sports auftaucht. „Der Alltag unserer Mütter und Großmütter hat sich noch in geschlossenen Räumen abgespielt“, sagt Amira über ihre Jugend in den 2000er Jahren. Immer wieder wurde sie von der Religionspolizei angehalten und darauf hingewiesen, wenn ihr Kopftuch verrutscht war. „Wir haben nicht mal davon geträumt, als Sportlerinnen für unser Land anzutreten. Damals konnte ich es kaum erwarten, Saudi-­Arabien zu verlassen.“

An einem Freitagvormittag sitzt Amira mit zwei Freundinnen in einem trendigen Café in Al Olaya, im Geschäftsviertel von Riad. Die Betreiber haben die Vorhänge an den Fenstern heruntergelassen und den Verkauf vorübergehend eingestellt, denn es ist die Zeit des wichtigen Freitagsgebets. Amira scheint die Ruhe in der Stadt zu genießen und erzählt, wie sie mit Anfang 20 fürs Medizinstudium nach Japan gegangen ist. Dort hat sie einen Fitnesstrainer kennengelernt und beschäftigt sich seither mit Muskelaufbau, gesunder Ernährung und Sportpsychologie. Sie erinnert sich gut daran, wie sie im August 2012 vor dem Fernseher saß. Bei den Olympischen Sommerspielen in London trat ihr Heimatland auch mit drei Sportlerinnen an – zum ersten Mal in der Geschichte.

Der Wahhabismus weist dem Mann die öffentliche und der Frau die private Rolle zu. Traditionell standen Frauen in Saudi-Arabien lebenslang unter männlicher Vormundschaft. Die Monarchie hat dieses Korsett in den vergangenen 15 Jahren gelockert. Sie hat häusliche Gewalt in einem Gesetz 2013 als Straftat deklariert und mehr als 200 Berufsfelder für Frauen geöffnet. Stolz verweist der Kronprinz darauf, dass Frauen nun in der Regierung arbeiten, als Diplomatinnen wirken und dem königlichen Konsultativrat angehören, einem Beratungsgremium, das jedoch wenig Einfluss besitzt.
„Ich bin froh, dass ich diesen Wandel miterleben kann“, sagt Amira und zieht ihr Smartphone hervor. Auf Instagram hat sie mehr als 5000 Follower. Amira zeigt sich auf Fotos beim Krafttraining, vor ihrem Spiegel oder beim Cafébesuch mit ihrem Hund. Sie zeigt ihre Bauchmuskeln und gibt sich modebewusst. Auf keinem Bild trägt sie die Abaya, das schwarze Überkleid, das in Saudi-Arabien nicht mehr Pflicht ist, aber noch immer von vielen Frauen getragen wird. Fast täglich, sagt sie, erhalte sie Nachrichten von Mädchen und jungen Frauen. Meist gehe es dabei um Tipps für Ernährung und Muskeltraining – und manchmal auch um Karrierenetzwerke.

Frauen wie Amira stehen beim Kronprinzen hoch im Kurs, denn sie irritieren die westlichen Vorstellungen von der unterdrückten saudischen Frau. Und sie lassen sich in die nationale Erzählung einspannen. Für eine Zukunft ohne Öl ist Saudi-Arabien nicht nur auf neue Wirtschaftszweige angewiesen, sondern auch auf eine produktive und vielseitig ausgebildete Arbeitnehmerschaft. 1990 waren nur 11 Prozent der Frauen in Saudi-Arabien erwerbstätig. 2019, nach der Aufhebung des Fahrverbots für Frauen, sollen es 18 Prozent gewesen sein, mittlerweile 35 Prozent. Auch saudische Sportverbände gründen nun Frauenteams, bilden Trainerinnen aus und berufen Funktionärinnen. Einige Fußballklubs lassen ihre neuen Frauenteams in denselben Stadien spielen wie die Männer.

Amira spricht mit leuchtenden Augen und kräftiger Stimme über die Fortschritte. Doch sie weiß auch, dass Frauen rechtlich noch immer wesentlich schlechter gestellt sind als Männer in Saudi-Arabien. Frauen müssen zum Beispiel für eine Heirat die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen. „Viele Frauen können mit dem Vormundschaftsrecht gut leben, solange es ihnen finanziell gut geht“, sagt Amira. Die Regierung legt mit ihren Reformen ein Tempo vor, das einige traditionelle Familien nicht mitgehen wollen. Beim Fußball verweigern Spielerinnen mitunter die Veröffentlichung ihrer Namen und Fotos. Sie haben Sorge, dass ihr Vordringen in diese vermeintlich männliche Domäne den Ruf ihrer konservativen Stammesnetzwerke schädigen könnte.

Ob es Widerstand gegen die Transformation gibt, die Kronprinz Mohammed bin Salman in einem Interview mal als „Schocktherapie“ bezeichnet hat? Amira zögert einen Moment und wirft einen musternden Blick auf die Besucher, die im Café neben ihr sitzen. Sie bittet darum, dieses Thema im Interview auszulassen. Liberalere Saudis wie Amira wissen, wo die roten Linien verlaufen. Sie umgehen die zensierten staatsnahen Medien und erfahren auf englischsprachigen Webseiten, wie das Königshaus allzu kritische Aktivistinnen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilen lässt. Auch der brutale Mord am Journalisten Jamal Khashoggi hat viele Saudis verstört und verängstigt.

Flüchtige Gespräche und frustrierte Stimmen

Trotzdem ist Kritik möglich und teilweise erwünscht. Schon bei flüchtigen Gesprächen kann man in Riad frustrierte Stimmen hören, die sich über hohe Mieten, einen schwierigen Arbeitsmarkt oder stundenlange Staus auslassen. Die neue Metro ist auch zehn Jahre nach Baubeginn noch nicht eröffnet. Es sind Themen, mit denen man dem Kronprinzen nicht zu nahe tritt, denn die Versäumnisse liegen größtenteils bei seinen Vorgängern.

Naif gehört zu denjenigen, die kritisch und konstruktiv sein wollen. Als Treffpunkt hat er in Riad ein Geschäft vorgeschlagen, in dem Kamelmilch zu Eiscreme verarbeitet wird. Naif, Anfang 30, hat während des Studiums das Laufen für sich entdeckt, inzwischen hat er fünf Marathons bestritten. Er steuert jetzt sein Auto durch den Norden von Riad. Achtspurige Autobahnen, glitzernde Bürotürme, riesige Einkaufszentren. Aber weit und breit keine Fahrradwege, Grünflächen und Anlagen für Freizeitsport. „Ich wurde von Fremden mehrfach kritisiert, weil ich mit kurzer Hose durch die Stadt gelaufen bin und angeblich zu viel Haut gezeigt habe“, erzählt er.

In diesem Februar wird in Riad zum dritten Mal ein Marathon ausgetragen, wieder mit mehr als 10 000 Teilnehmern. Jedes Mal, sagt Naif, werde ein bisschen mehr über Bewegung gesprochen, über Gesundheitsförderung und auch über den Mangel an Sportlehrern. Fast 20 Prozent der Bevölkerung in Saudi-Arabien leben mit Diabetes, mehr als 50 Prozent mit Übergewicht, beides sind internationale Spitzenwerte. Die Regierung möchte die Zahl der Menschen, die mindestens einmal pro Woche Sport treiben, bis 2030 von 13 auf 40 Prozent steigern. „Das würde das Gesundheitssystem entlasten“, sagt Naif. „Und die wirtschaftliche Produktivität stärken.“

Naif beschäftigt sich in einem Beratungsunternehmen mit Stadtentwicklung. Er ist viel für Konferenzen unterwegs – und deshalb weiß er, dass auch in der Sportindustrie innen- und außenpolitische Themen ineinanderfließen. Die Handelsbeziehungen zwischen Saudi-Arabien und Europa sind eng, doch im kommenden Jahrzehnt dürften sie noch lukrativer werden. Saudi-Arabien wird wahrscheinlich die Fußball-Weltmeisterschaft 2034 austragen. Auch deutsche Konzerne, Architekten und Zulieferer hoffen auf milliardenschwere Aufträge für den Bau von Stadien, Hotels und Straßen.

Saudi-Arabien entwickelt ein Modell weiter, für das die kleineren Nachbarn am Persischen Golf, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar, die Basis gelegt haben. Die Monarchie in Doha hat mithilfe des Sports um Touristen, Investoren und Fachkräfte geworben: mit dem Sponsoring der Fluglinie Qatar Airways beim FC Bayern, mit der Übernahme von Paris Saint-Germain und mit der Organisation von 500 Sportveranstaltungen, insbesondere der Fußball-WM 2022.

Die Startaufstellung des Formel-1-Rennens beim Großen Preis
 von Saudi-Arabien in Dschidda, März 2023 / Mauritius Images

Die aggressive katarische Lobbyarbeit im Sport dürfte dazu beigetragen haben, dass sich westliche Regierungen mit katarischen Interessen vertraut gemacht haben. Beziehungen, die in politischen Krisen helfen: Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist Katar als Gaslieferant auch in Europa gefragt. Lange wurde die Herrscherfamilie für ihre Beziehungen mit islamistischen Gruppen, die in etlichen Ländern als Terrororganisationen gelistet sind, kritisiert. Doch inzwischen weiß der Westen diese Kontakte zu schätzen: bei Verhandlungen mit den Huthi-Rebellen im Jemen, mit den Taliban in Afghanistan und zuletzt mit der Hamas in Gaza.

Saudi-Arabien knüpft daran an. Die Tourismusbehörde Visit Saudi ist als Partner in der spanischen Fußballliga eingestiegen, die neue Fluglinie Riyadh Air als Trikotsponsor bei Atlético Madrid. Der Ölkonzern Saudi Aramco mischt unter anderem in der Formel 1, im Tennis und im indischen Kricket mit. Und 2021 sicherte sich Saudi-Arabien über seinen Staatsfonds für 360 Millionen Euro 80 Prozent der Anteile am englischen Fußballklub Newcastle United.

Durch den Fluss Tyne hat Newcastle einen direkten Zugang zur Nordsee. „Da sich Saudi-Arabien verstärkt in der maritimen Logistik engagiert, könnte Newcastle von saudischen Investitionen in die lokale Hafen- und Containerinfrastruktur profitieren“, schreibt der Islamwissenschaftler Sebastian Sons in seinem Buch „Die neuen Herrscher am Golf“. Und: „Gleichzeitig soll die Region um New­castle zur britischen Hochburg für den Ausbau erneuerbarer Energien werden – in Zeiten der Energiediversifizierung auch ein potenziell interessanter Markt für saudische Unternehmen.“

Die Kaaba von Mekka

Die saudische Monarchie wagt mit ihrer Sport­industrie einen Spagat. Sie wirbt um internationale Partner und will zugleich den heimischen Nationalismus stärken, ohne den konservativen Klerus gegen sich aufzubringen. Der Kronprinz kann in seiner politisch-religiösen PR auf prominente Fußballer setzen, insbesondere auf Karim Benzema. Der französische Stürmer hatte es bei Real Madrid zu großem Ruhm gebracht und wurde 2022 als Weltfußballer ausgezeichnet. Im vergangenen Sommer schloss er sich in Saudi-Arabien Al Ittihad an. Der Verein ist in der Hafenstadt Dschidda beheimatet. Von dort ist es nicht weit bis zu den heiligen Stätten des Islam: Die Kaaba von Mekka ist eine Autostunde entfernt. Bis zur Prophetenmoschee von Medina sind es vier Autostunden.

Anfang August veröffentlichte der gläubige Muslim Benzema ein Video von sich in Mekka. Es zeigte ihn bei der Umra, der kleinen Pilgerfahrt, die im Gegensatz zur großen, der Hadsch, jederzeit im Jahr durchgeführt werden kann. Benzema war in zwei weiße Tücher gehüllt, er trug Vollbart. Hinter ihm war in der Dunkelheit die Kaaba zu sehen, das zentrale Heiligtum im Innenhof der Moschee. Auf X (vormals Twitter) wurde der Clip zehn Millionen Mal angesehen und erhielt mehr als 6000 Kommentare.

„Ich habe mich für Saudi-Arabien entschieden, weil ich Muslim bin und es ein muslimisches Land ist“, sagte Benzema in einem Interview für seinen Klub. „Für mich ist es der Ort, an dem ich sein möchte, hier bin ich in Frieden.“ Benzema wurde in der arabischen Welt wie ein Rückkehrer gefeiert, obwohl seine Wurzeln ganz woanders liegen. Ein Detail ließ er in Interviews jedoch unerwähnt: Bei Al Ittihad soll er ein Jahresgehalt von 100 Millionen Euro erhalten.
 

 

 

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