Reportage aus der Ukraine - Die Kälte dringt durch zerborstene Fensterscheiben in jede Ritze

Den Bewohnern des zerstörten Dorfs Nowoseliwka im Norden der Ukraine droht ohne Strom und Heizung der Kältetod. Der schleppende Wiederaufbau zeigt, was Menschen in der Region um Cherson blühen könnte.

Eine Frau räumt die Trümmer eines bei Kämpfen zerstörten Hauses in einem Dorf nahe Cherson weg / picture alliance, Ondrej Deml
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Schutt säumt die Piste, auf der Alberto Flores Cortez seinen Van durch das Dorf Nowoseliwka im Norden der Ukraine steuert. Die Häuser von rund 800 Einwohnern standen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar entlang des Wegesrandes. Jetzt fällt der Blick auf rußgeschwärzte Ruinen und Trümmer. Niemand bewegt sich auf der Dorfstraße. Der Krieg scheint alles Leben in dem ukrainischen Dorf unweit der Großstadt Tschernihiw und der ukrainischen Grenze nach Belarus und Russland unter sich begraben zu haben.

Doch der Schein trügt. Der Ukrainer mit bolivianischen Wurzeln nimmt den Fuß vom Gas. Die Bewohner von Nowoseliwka tauchen hinter einer Biegung auf. Sie bilden eine Schlange vor einem Haus. Es hat den Beschuss halbwegs heil überstanden. Das Haus gehört der Dorfschneiderin Oksana Dehtiarowa. Sie verteilt die Hilfsgüter, die Cortez und sein Team aus dem circa 140 Kilometer entfernten Kiew in die befreiten Orte im Norden der Ukraine bringen.

Eine in Wollmützen und Wintermänteln eingepackte Prozession von Dorfbewohnern nähert sich dem geöffneten Tor zu Dehtiarowas Grundstück. Cortez und seine Helfer steigen aus und tragen ihre Kartons mit Lebensmitteln, Decken und warmer Kleidung in den Innenhof der Schneiderin. Sie drücken den Dorfbewohnern Brotlaibe und Tüten mit Hygieneartikeln in die Hand. Einige Ältere setzten in der Schlange nur mit Mühe einen Schritt vor den anderen. Sie tippeln langsam vorwärts, bis sie an der Reihe sind. Die Kartons mit den Broten leeren sich schnell. Die Schlange vor dem Tor wird aber nicht kürzer.

Von Zuversicht wird niemand satt

Cortez ist Kampfsportler. Seine breiten Schultern zeichnen sich unter einer gelben Warnweste ab. Der 37-Jährige erzählt von seiner Teilnahme an internationalen Wettbewerben und einem neuen Studio, das er Anfang des Jahres in Kiew eröffnen wollte. Dann kam der Krieg. Cortez fuhr auf eigene Faust Nahrungsmittel an der Frontlinie vorbei in ein belagertes Dorf. Er nennt das seinen Beitrag zur Verteidigung des Landes. Der Sportler steckte seine Ersparnisse statt in das Kampfsportstudio in eine Hilfsorganisation und nannte sie Esperanza. Das heißt auf Spanisch „Hoffnung“. Von Zuversicht werden die hungrigen Dorfbewohner vor den sich leerenden Kartons mit Brot aber nicht satt.

Cortez pfeift seinen Trupp zusammen. Er sammelt Bargeld ein, das die Helfer aus Kiew in ihren Geldbeuteln mit sich führen. Dann drückt er das Bündel Scheine mit den Autoschlüsseln einem Freiwilligen in die Hand. Der Mann soll nach Tschernihiw fahren und Nachschub besorgen. Weil die gespendeten Güter nicht ausgereicht haben, bezahlen die Helfer die Lebensmittel aus eigener Tasche.

Nowoseliwka liegt unweit der Dreiländergrenze zu Belarus und Russland. Die russischen Soldaten lagerten nach dem Überfall im Februar im Wald rund um das Dorf. Sie beschossen es bis zum Rückzug der russischen Armee aus dem Norden der Ukraine im April. Wer von den Bewohnern blieb, harrte wochenlang im Keller aus. Vor allem ältere Einwohner weigerten sich zu flüchten. Die Menschen in der ländlichen Region haben wenig Ersparnisse. Sie besitzen dafür Häuser und Gärten. Auf den Beeten wächst, was zum Überleben nötig ist. Dafür haben sie ihr Leben lang hart gearbeitet.
 

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Die russische Armee gab ihren Plan im April auf, zuerst Tschernihiw und die umliegende Region einzunehmen und dann in Richtung Kiew vorzurücken. Der Donner über der Erde wich mit dem Frühling der Stille. Als die Dorfbewohner ihre Keller verließen, wartete statt der Rückkehr in ihre Häuser ein Albtraum auf sie. Ihr Besitz war verbrannt oder unter Trümmern begraben. Munition blieb in den Gärten zurück. Die Armee räumte die Sprengkörper zwar weg. Aber es blieb keine Zeit mehr, um für den Winter etwas anzupflanzen. Die Helfer von Esperanza errichteten gemeinsam mit den Behörden ein Containerdorf für die obdachlosen Bewohner. Es eröffnete im August. Polen steuerte Geld bei, um das Projekt zu finanzieren. Einige Bewohner zogen es dennoch vor, auf ihren Grundstücken zu kampieren. Ein Stück Stoff über dem Kopf genügte, bis im September die Herbstkälte zwischen die Ruinen kroch.

Während die Helfer in Tschernihiw Lebensmittel einkaufen, führt Cortez in die Vorratskammer der Helfer im Haus der Dorfschneiderin. Dehtiarowa behält bei dem Rundgang die Mütze und ihre Winterschuhe aus Filz an. Die Kälte dringt durch zerborstene Fensterscheiben in jede Ritze. Die Tapete wellt sich vor Feuchtigkeit. Die Schneiderin erzählt, wie besonders die Alten im Dorf immer hohlwangiger werden. Viele Dorfbewohner hätten ihr Erspartes für neue Fenster oder Dächer ausgegeben, damit sie im Winter nicht frieren müssen. „Jetzt können sie keine Lebensmittel mehr kaufen und haben Hunger“, sagt Dehtiarowa.

Manche Nachbarn ernährten sich nur noch von einer Hand voll Buchweizen. Cortez schüttelt den Kopf. Noch vor einigen Monaten hätten sich gespendete Kleidung und Lebensmittel in dem Atelier bis an die Decke gestapelt. Jetzt reichen die Kartons den beiden Helfern kaum mehr bis zur Hüfte.

Geld zur Linderung der Not

Die Inflation liegt in der Ukraine derzeit bei 30 Prozent. Die Helfer müssen mehr Geld ausgeben für alles, was sie verteilen wollen. Ihre Einnahmen schrumpfen im Tempo der steigenden Preise. Spender in der Ukraine, aber auch in Europa halten ihr Geld zusammen. Ihre Beiträge reichen kaum mehr aus, den Hunger in Nowoseliwka zu stillen. Der Freiwillige winkt ab, als er nach Hilfen des Staates gefragt wird. Die Region Tschernihiw wird auch Monate nach der Befreiung von der Armee und zivilen Behörden gemeinsam verwaltet. Cortez bezeichnet die Vertreter des Distrikts als „Männer in Anzügen“. Sie kämen ab und zu in Nowoseliwka vorbei und schüttelten Hände. Geld zur Linderung der Not fände sich aber nie in ihren Taschen.

Woher soll es auch kommen? Die Lücke im ukrainischen Haushalt entspricht bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Verteidigung des Landes frisst die geschrumpften Mittel. Die Ukraine muss nach den Angriffen auf das Stromnetz im Oktober jetzt auch noch Kraftwerke reparieren und Leitungen flicken. Sonst droht ein Winter ohne Strom und Heizung. Jede im Osten und Süden des Landes von der Armee befreite Ortschaft gleicht Nowoseliwka. In der Gegend um die nun befreite Großstadt Cherson in der Südukraine wurde noch länger und erbitterter gekämpft als im Norden des Landes. Die Ukraine erobert täglich verbrannte Erde zurück. Auf ihr leben Menschen, deren Überleben in Ruinen und Bunkern so kurz vor dem Winter von rascher Hilfe abhängt. Jeder Tag zählt.

Der Van ist mit neuen Lebensmitteln aus der benachbarten Großstadt Tschernihiw wieder aufgetaucht. Die Helfer verteilen statt Brot Kartoffeln und Zwiebeln. Sie haben auch Holzöfen im Dorf ausgeteilt. Die Bewohner sollen mit ihnen kochen können, wenn Strom und Gas ausfallen. Der Helfer trifft seinen Freund Andrij Haliuha von der Organisation Bomozhemo vor einem Gebäude unweit der Ausgabestelle im Haus der Schneiderin. Er umarmt ihn herzlich. Neue Glasscheiben glänzen in den Fensterhöhlen des Wohnhauses. Ein Helfer klettert gerade auf dem Dach herum, um frische Platten festzutackern. Die Ruine verwandelt sich wieder in ein Wohnhaus.

Notfallpläne für Nowoseliwka

„Bomozhemo“ bedeutet übersetzt: „Weil wir es können“. 600 Freiwillige aus Nowoseliwka und Kiew montierten mit gespendeten Materialien Fenster und Dächer in Nowoseliwka, erzählt Haliuha zwischen Zügen aus seiner E-Zigarette. Bomozhemo stünde jenen Dorfbewohnern bei, die sich eine Reparatur ihrer Häuser aus eigener Kasse nicht leisten könnten, erklärt er. Viele Freiwillige arbeiteten sogar in der Nacht. „Sie fahren nach ihrer Arbeit hierher, um zu helfen“, sagt Haliuha. Sie kletterten dann im Licht von mit Generatoren betriebenen Lampen auf die Dächer, während das Dorf ohne Strom im Dunkeln liegt.

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Die Aufgabe scheint auch nur mit Akkordarbeit bewältigbar. Die Dorfbevölkerung soll wieder in ihre Häuser ziehen, bevor in Nowoseliwka Minustemperaturen herrschen. Die Heizung hängt im Containerdorf für die ausgebombten Dorfbewohner am Stromnetz. Niemand weiß, wie lange der Strom in dem Dorf zumindest noch für ein paar Stunden am Tag fließt oder ob bald für unbestimmte Zeit nur Dunkelheit und Kälte herrschen werden. Der Zivilschutz in Kiew soll unbestätigten Medienberichten zufolge eine Evakuierung der Dreimillionenstadt im Fall eines kompletten Blackouts empfohlen haben. Von Notfallplänen für Nowoseliwka spricht niemand im Dorf.

Haliuha lobt den Fleiß seiner Freiwilligen. Es klingt, als genüge ihre Willenskraft, um alle leeren Dachstühle und Fensterhöhlen Nowoseliwkas gegen den drohenden Frost abdichten. Sein Freund Cortez berichtet, dass auch die Organisation seines Freundes immer tiefer in die Tasche greifen müsste, um Baumaterialien aufzutreiben. Es mangele vor allem an neuen Generatoren. „Entweder sind sie viel zu teuer oder es gibt gar keine zu kaufen“, sagt er. Ohne ausreichend Notstrom für Lampen dürfte es mit den Nachtschichten auf den Dächern von Nowoseliwka bald vorbei sein.

Zu müde für eine weitere Sorge

Die Flaggen Polens und der Ukraine wehen über dem Containerdorf für die ausgebombte Bevölkerung des Dorfes. Zimmer mit Stockbetten, Dusch- und Sanitäranlagen und eine Küche finden sich in den Modulen. Die Heizung wärmt und das Wasser läuft, solange Strom durch die Leitungen fließt. Seit den russischen Attacken auf das ukrainische Elektrizitätsnetz im Oktober bleibt es jeden Tag für einige Stunden dunkel und kalt in der Unterkunft.

Die 70-jährige Nadiia Shkliarewska erzählt, wie sie in der Dunkelheit bei Kerzenschein in ihrem Container sitzt. Sie streife sich noch eine Weste über, wenn ihr fröstele. Die täglichen Stromausfälle und die Kälte, die sich dann in der Unterkunft breitmacht, scheint sie einfach zu ertragen. Vielleicht ist die Seniorin aber auch zu müde für eine weitere Sorge. Teller und Tassen unterschiedlicher Form und Farbe stehen auf einem kleinen Schrank in ihrem Container neben dem Stockbett. Das Geschirr ist gespendet. Das eigene Service liegt mit allem, was die Ukrainerin besessen hat, unter den Trümmern ihres Hauses.

Ein Land versinkt in Dunkelheit

Der Dorfvorsteher von Nowoseliwska, Wolodymyr Shelupets ist kein „Mann im Anzug“. Er trägt Jeans und einen Parka. Shelupets sitzt am späten Nachmittag mit einer Taschenlampe im dunklen Büro des Rathauses. Er bespricht mit Mitarbeitern seinen Mangel an Möglichkeiten in einem Land, das in Dunkelheit versinkt. Shelupets’ Gesicht wirkt in dem funzeligen Licht der Leuchte kreideweiß. Der Vorsteher räumt ein, dass er nicht wisse, wie er seine Gemeinde durch den Winter bringen soll. „Ich mache mir Sorgen und zwar zu 100 Prozent“, sagt er.

Nowoseliwska bilde mit drei weiteren kleinen Dörfern eine Verwaltungseinheit, erklärt der Ratsvorsitzende. Shelupets beziffert das Loch in der gemeinsamen Kasse auf umgerechnet 17 Millionen Euro. Die Russen hätten die Tankstelle, Supermärkte und alle Betriebe zerstört. Die Menschen verloren ihre Arbeitgeber und damit ihr Einkommen. Der Gemeinde fehlen im Kriegsjahr die Einnahmen durch Steuern. Ihr Handlungsspielraum beschränke sich auf das Bitten um Hilfe. Das Containerdorf für die obdachlosen Bewohner verfüge etwa über einen eigenen Dieselgenerator. „Damit könnten wir die Bewohner eine ganze Weile mit Licht und Wärme versorgen, wenn das Stromnetz komplett zusammenbricht. Uns fehlen aber die Mittel, um Treibstoff zu kaufen“, sagt er.

Nowoseliwka und seine Nachbardörfer sind von Kiew nur zwei Stunden mit dem Auto entfernt. Kann es sein, dass die Regierung und internationale Hilfsorganisationen die Dörfer vergessen haben? Shelupets zählt auf, welche Hilfen die ukrainische Armee und Partner aus dem Ausland in den ersten Wochen nach der Befreiung im April geleistet hätten. „Die Deutschen haben uns nach der Befreiung wieder ans Wassernetz angeschlossen“, meint der Bürgermeister. Trupps der Regierung bauen die Autobahnbrücke über den Fluss Desna wieder auf. Die Region um Tschernihiw ist derzeit von Kiew nur über eine Pontonbrücke erreichbar. Der Dorfvorsteher erklärt den seitdem schleppenden Wiederaufbau der Siedlungen mit den wechselnden Prioritäten eines an verschiedenen Fronten tobenden Krieges. „Es wird erst besser werden nach dem Sieg“, meint er.

Präsident Wolodymyr Selenskyj verspricht nun den Menschen in der Region um Cherson Trupps von Wiederaufbauhelfern und Elektrikern. Sie sollen Stromleitungen flicken. Es bleibt kaum noch Zeit, bis in Cherson der Frost einsetzt. Die Menschen in Nowoseliwka werden auf Hilfe der Regierung bei der Reparatur ihrer Häuser weiter warten müssen, wenn vorhandene Kräfte in den Süden geschickt werden. Es gibt verbrannte Erde nun im Norden, Osten und Süden der Ukraine. Sie wird bald unter einem weißen Tuch aus Eis und Schnee verschwinden.

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