Raketeneinschlag in Polen - Riskanter Fehlalarm

Nachdem Joe Biden einen russichen Beschuss des Nato-Partners Polen für unwahrscheinlich erklärt hat, deuten Analysen nun auf eine womöglich fehlerhaft abgeschossene Flugabwehrrakete der Ukraine hin. Während Selenskyj sich gezwungen sieht, mit seinen Anschuldigungen gegen Russland zurückzurudern, herrscht in Moskau Spott über das ukrainische Militär.

Einschlagskrater einer vermutlich fehlgeleiteten ukrainischen Flugabwehrrakete in Polen / dpa
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Seit dem Sommer hatten die professionellen Propagandisten in Moskau nichts Erfreuliches zu vermelden, die russische Invasionsarmee musste sich im Norden und Süden der Ukraine zurückziehen. Doch nun gibt der Einschlag einer Rakete in einem Dorf in Polen, die vermutlich ein Irrläufer der ukrainischen Luftabwehr war, den Lautsprechern des Kremls Gelegenheit, Schadenfreude und Spott zu artikulieren. Anlass bietet nicht nur der Tod von zwei polnischen Landarbeitern, sondern auch der darüber offen ausgetragene Disput zwischen den angeblichen Hauptfeinden der Russen, nämlich dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem Protektor im Weißen Haus, Joe Biden.

Eine Luftabwehrrakete des alten sowjetischen Typs S-300 war am Dienstagnachmittag in dem Weiler Przewodów im Südosten Polens explodiert. Zwei Männer, die in der Scheune eines Bauernhofs Getreide zum Trocknen umschichteten, fanden dabei den Tod; mehrere Wirtschaftsgebäude und ein Traktor wurden zerstört. Das Dorf befindet sich knapp sieben Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Auch verläuft in der Nähe eine Hochspannungsleitung, über die die westlichen Bezirke der Ukraine aus dem polnischen Stromnetz versorgt werden können. So war es für die Berichterstatter der meisten Medien an der Weichsel sofort klar, dass es sich um eine russische Rakete handeln musste. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile um den Globus: Russland greift ein Nato-Land an. Und riskiert somit den Dritten Weltkrieg.

Das Verteidigungsministerium in Warschau versetzte die Streitkräfte in Alarmbereitschaft, Alarmrotten der Luftwaffe stiegen auf und patrouillierten entlang der Grenze. Doch die Sprecher von Präsident Andrzej Duda und Premierminister Mateusz Morawiecki wollten sich den Spekulationen nicht anschließen. Sie bestätigten lediglich die Explosion einer Rakete und den Tod zweier Einwohner von Przewodów, 50 und 60 Jahre alt, beide Familienväter. Am Donnerstag wurde der Grund für diese Zurückhaltung bekannt: Der polnische Generalstab war nach einer ersten schnellen Analyse zum Schluss gekommen, dass es vermutlich keine russische Rakete gewesen sei, und hatte umgehend die politische Führung informiert.

Joe Biden widerspricht Selenskyj

Doch Selenskyj in Kiew wurde offenkundig nicht von den Polen ins Bild gesetzt. So verkündete er in seiner täglichen Videoansprache am Dienstagabend: „Der Krieg wurde nun von den Russen über unsere Grenzen hinausgetragen.“ Er teilte mit, dass in den Stunden zuvor mehr als 90 Raketen und zehn im Iran hergestellte Kamikaze-Drohnen auf ukrainische Städte abgefeuert worden seien. Die Luftabwehr habe sämtliche Drohnen und 73 Raketen und abschießen können, doch 15 hätten Wohngebäude sowie Anlagen der Stromversorgung getroffen. Insgesamt habe Russland bislang 30 bis 40 Prozent der Energieinfrastruktur der Ukraine zerstört.

Doch inzwischen tagten nicht nur der polnische Sicherheitsrat mit Duda an der Spitze, sondern auch das oberste Gremium der Nato und vor allem die Führer der wichtigsten westlichen Industriestaaten, die sich zum G20-Gipfel in Bali auf der anderen Seite des Globus getroffen hatten. Joe Biden äußerte unmittelbar nach dem nächtlichen Treffen, dass es bislang keine Beweise für einen russischen Angriff gebe, und widersprach somit Selenskyj. Die amerikanischen Medien berichteten, das Weiße Haus habe sich auf die Daten von der Flugbahn der Rakete gestützt, die ein über Südostpolen operierendes AWACS-Aufklärungsflugzeug aufgezeichnet habe.
 

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Doch Selenskyj blieb auch nach dem Auftritt Bidens dabei: Der Generalstab in Kiew habe ausgeschlossen, dass die Rakete von einer ukrainischen Stellung abgeschossen worden sei. Mit diesem Widerspruch irritierte er allerdings Vertreter der Nato, die ihren Unmut anonym auch in amerikanischen Medien kundtaten, zur großen Freude der Kremlpropagandisten. Selenskyj sah sich schließlich gezwungen, zurückzurudern: Er werde erst nach einer genauen Untersuchung ein Urteil abgeben, an der aber ukrainische Experten teilnehmen müssten. Am Donnerstag erklärte er für den Fall, dass es doch eine ukrainische Rakete war: „Dann werden wir uns selbstverständlich entschuldigen.“

Polnische Panzer an ukrainischer Grenze?

Immerhin stärkten ihm Andrej Duda und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg den Rücken. Im Gleichklang erklärten sie: „Der Schuldige ist letztlich Russland, das ein friedliches Land überfallen hat.“ Ähnlich äußerte sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock: „Diese Menschen wären nicht ums Leben gekommen, würde es diesen brutalen russischen Angriffskrieg nicht geben.“

Im Moskauer Propagandasender Sputnik spottete dagegen der Filmregisseur Tigran Keosajan: „Die Ukronazis müssen ihre Soldaten besser schulen. Es ist ja nicht anzunehmen, dass das Hauptziel unserer Geschosse ein Traktor in Polen sein soll.“ Keosajan ist der Ehemann der als Sprachrohr Putins geltenden Chefredakteurin des Senders RT, Margarita Simonjan, die nun ätzte: „Das ist eine gute Nachricht. Ein Nato-Land ist so schlecht geschützt, dass es von irgendwoher beschossen werden kann, und die ganze Nato weiß hinterher nicht, wer da zugeschlagen hat, womit und warum.“

Russische Fernsehsender zeigten Bilder von Panzern mit polnischen Hoheitsabzeichen, die nun an die Grenze geschickt würden, um weitere Provokationen Kiews zu verhindern. Warschau dementierte sofort. In Wirklichkeit hat Polen der Ukraine rund 250 Kampfpanzer des modernisierten Typs t-72 geliefert, Beobachtern zufolge haben sie eine entscheidende Rolle bei der Rückeroberung mehrerer Gebiete gespielt. In Polen herrscht großes Unverständnis über die deutsche Zurückhaltung bei der Lieferung schwerer Waffen, die polnische Linke eingeschlossen. Der auch in der Bundesrepublik bekannte linke Publizist Sławomir Sierakowski hat sogar erfolgreich über das Internet Geld für den Kauf einer Kampfdrohne des türkischen Typs Bayraktar gesammelt, um die Ukrainer zu unterstützen.

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