Visa-Affäre in Polen - Die Glaubwürdigkeit der PiS steht auf dem Spiel

Polnische Konsulate in Indien und mehreren islamischen Ländern haben nach der Zahlung von Schmiergeldern und ohne Überprüfung der Antragsteller Schengen-Visa ausgestellt. Einen Monat vor den Parlamentswahlen am 15. Oktober gerät die Regierungspartei PiS nun in große Bedrängnis.

Ein polnischer Grenzschützer fährt entlang der polnisch-belarussischen Grenze / picture alliance
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Ist es der „größte Skandal Polens im 21. Jahrhundert“, wie Oppositionsführer Donald Tusk meint? Oder nur ein „Affärchen“, wie Jarosław Kaczyński, Chef der nationalpopulistischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), abwiegelt? Sicher ist nur, dass in Polen genau einen Monat vor den Parlamentswahlen am 15. Oktober ein Thema Schlagzeilen macht, das grundlegende Fragen betrifft: Einwanderung, kulturelle Abschottung, Arbeitskräftemangel, Beziehung zu den deutschen Nachbarn und nicht zuletzt Moral in der Politik.

Die Fakten: Polnische Konsulate in Indien und mehreren islamischen Ländern haben ohne Überprüfung der Antragsteller Schengen-Visa ausgestellt, offenkundig nach der Zahlung von Schmiergeldern. Über die Zahl der umstrittenen Visa liegen indes völlig unterschiedliche Angaben vor: Vertreter der PiS sprechen von „ein paar Hundert“, die von Tusk geführte oppositionelle Bürgerplattform (PO) dagegen von „bis zu 350.000“ und beruft sich dabei auf Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses des Sejms, die in die interne Dokumentation Einblick nehmen konnten.

Wawrzyk befindet sich nach Selbstmordversuch im Krankenhaus

Der für die Konsulate zuständige Vizeaußenminister Piotr Wawrzyk, ein habilitierter Jurist mit zahlreichen Publikationen über den Schengen-Raum, hat Ende August seinen Posten verloren und befindet sich derzeit nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus. Die Staatsanwaltschaft gab überdies bekannt, dass sie gegen sieben weitere Personen ermittelt.

Nach Recherchen der liberalkonservativen Tageszeitung Rzeczpospolita und des Internetportals Onet, die beide als überaus PiS-kritisch gelten, hat Wawrzyk mehrere Konsulate in einem halben Dutzend Ländern Asiens und Afrikas persönlich angewiesen, von ihm auf zahlreichen Listen aufgeführten Personen die Visa auszustellen. Rechtliche Bedenken, die polnische Diplomaten an den jeweiligen Botschaften äußerten, erklärte er demnach für gegenstandslos, die Konsulate hätten ohne Widerrede die Anweisungen des Ministeriums auszuführen.

 

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Die Recherchen ergaben, dass für die technische Abwicklung dieser illegalen Praktiken ein gewisser Edgar Kobos zuständig war, ein gerade einmal 25 Jahre alter Aktivist nationalistischer Jugendorganisationen, der auf Empfehlung Wawrzyks auch Delegierter Polens in der Jugendvertretung der Vereinten Nationen geworden war. Bei Rückfragen sollten sich die Konsulate an Kobos wenden, obwohl dieser überhaupt nicht dem Außenministerium in Warschau angehörte.

Bekannt wurde auch, dass die polnischen Jugendorganisationen, in denen Kobos leitende Positionen bekleidete, mit einer insgesamt siebenstelligen Summe aus öffentlichen Mitteln gefördert worden waren. Die Medien spekulieren, ob Wawrzyk oder Kobos die Namen der Antragsteller über ein Mafianetzwerk bekommen haben könnten.

Kritische Diplomaten informierten die Presse

Ganz offensichtlich haben Diplomaten, die mit diesem illegalen Treiben nicht einverstanden waren, die Presse informiert, nachdem ihre Eingaben an Außenminister Zbigniew Rau auf dem Dienstweg versandet oder sogar ignoriert worden waren. Die Medien zitierten aus einer E-Mail Wawrzyks, in ihr wurde verlangt, einem indischen Filmteam, das für Bollywood eine unter anderem in Polen spielenden Komödie drehen wolle, im Eilverfahren Visa auszustellen.

Misstrauische polnische Konsularbeamte aber befragten mehrere der Antragsteller, es stellte sich heraus, dass der angebliche Choreograf von Tanz keine Ahnung hatte, dass der männliche Hauptdarsteller keinen Film nennen konnte, in dem er bereits gespielt hatte, und dass der Regisseur in Wirklichkeit ein Gemüsehändler war.

Mehrheit der Visaempfänger wollte nach Deutschland weiterreisen 

Offenbar beabsichtigte nur ein Bruchteil der Visaempfänger, in Polen zu bleiben. Die Mehrheit wollte wohl nach Deutschland oder Großbritannien weiterreisen. Auch wurde bekannt, dass es einen organisierten Kanal von Indien über Polen nach Mexiko gab. Denn dorthin war ein anderes „Bollywood-Team“ gelangt, es war den US-Behörden aufgefallen, als es versuchte, in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Vom FBI bekam Warschau denn auch den Hinweis, dass es den Schleuserkanal nach Mexiko gibt.

Diese Information gab wiederum der Opposition die Vorlage, der PiS-Regierung nicht nur die Gefährdung der staatlichen Sicherheit Polens und der Nato-Partner vorzuwerfen, sondern auch, den Ruf des Landes zu schädigen. Es wird davor gewarnt, dass mit polnischen Schengen-Visa islamistische Terroristen nach Westeuropa kommen oder in die USA weiterreisen könnten.

Auch nutzten Wirtschaftsexperten die Gelegenheit, der PiS Doppelmoral vorzuwerfen: Einerseits warne sie im Wahlkampf vor einer „Invasion von Männern aus fremden Kulturen“, andererseits aber lasse sie wegen des Mangels an Arbeitskräften in der Industrie und der Landwirtschaft massenhaft zeitlich begrenzte Visa durch Konsulate in Asien ausstellen. Zu den Nutznießern dieser vor der Öffentlichkeit lange geheim gehaltenen Praxis hatte der staatliche Erdölkonzern Orlen gehört, dessen Führung fest in PiS-Hand ist.

Bundesregierung wirft PiS Missachtung des europäischen Rechts vor

Parallel zur Parlamentswahl lässt die Regierung am 15. Oktober die Bevölkerung in einem Referendum auch über vier Fragen abstimmen. Eine davon betrifft die „illegalen Einwanderer“, die die EU toleriere und auf alle Mitgliedsstaaten verteilen möchte. Vor allem der Bundesregierung wirft die PiS vor, das europäische Recht zu unterlaufen, da die deutschen Behörden nur einen Bruchteil der abgelehnten Asylbewerber abschieben und ihnen obendrein üppige Sozialleistungen zugestehen würden.

Auch die PO Tusks hält von einem Verteilmechanismus wenig, als Beispiel wird das schlesische Dorf Sulistrowiczki angeführt. Dort hatte 2015 die damals von der PO geführte Regierung in einem Ferienheim mehrere Dutzend Migranten aus Syrien und Afghanistan einquartieren lassen – nach zwei Wochen war der letzte in Richtung Deutschland verschwunden. Parteiübergreifend herrscht an der Weichsel die Auffassung vor, dass die Bundesrepublik weiterhin wie ein Magnet Migranten anzieht, die die Kriterien für die Anerkennung als Flüchtlinge nicht erfüllen.

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