Vorwürfe gegen Karol Wojtyła - Streit um Johannes Paul II. spaltet Polen 

Ein neuer Dokumentarfilm wirft dem späteren Papst Johannes Paul II. die Vertuschung pädophiler Verbrechen vor. Ein Vorwurf, der die Fronten in der polnischen Gesellschaft weiter verhärtet. Auch unter den Katholiken des Landes stehen sich Reformer und Traditionalisten unversöhnlich gegenüber.

Johannes Paul II. bei einer Seligsprechung 1999 in Slowenien / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Es war eine unangenehme Überraschung für die Fraktionsführung der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Regionalparlament der südpolnischen Woiwodschaft Heiligkreuz (Świętokrzyskie): Obwohl sie über die Mehrheit der Mandate verfügt, fand ihre Resolution „Zur Verteidigung des Andenkens Johannes Pauls II.“ keine Mehrheit. Im ganzen Land und auf allen politischen Ebenen brachten in den vergangenen beiden Wochen PiS-Politiker ähnliche Anträge ein, von Gemeinderäten bis zum Sejm, dem nationalen Parlament in Warschau. Ausgelöst hat die Aktionen der Dokumentarfilm „Franciskańska 3“ des Journalisten Marcin Gutowski.  

Der Film, den der regierungskritische Sender TVN24 ausstrahlte, schildert die Fälle von vier Priestern, deren pädophile Verbrechen angeblich vom Krakauer Erzbischof Karol Wojtyła, dem späteren Papst Johannes Paul II., vertuscht worden sind. Er habe sie nicht bestraft, geschweige denn in Rom ihre Versetzung in den Laienstand beantragt, sondern sie von Pfarrgemeinde zu Pfarrgemeinde versetzt, wo mindestens zwei von ihnen weiterhin straffällig geworden seien.

Der Filmtitel bezieht sich auf die Adresse des Bischofspalais auf der Franziskanerstraße in der Krakauer Altstadt, in dem Wojtyła von 1964 bis zur Papstwahl 1978 residierte. Da TVN24 zum amerikanischen Konzern Warner Bros. Discovery gehört, bestellte das Außenministerium sogar den US-Botschafter Mark Brzezinski ein; der verwies jedoch auf die auch in der polnischen Verfassung garantierte Pressefreiheit.  

Entscheidenden Anteil am demokratischen Umbruch

Unabhängig von Gutowski hat der seit Jahren in Polen lebende niederländische Journalist Ekke Overbeek das Ergebnis seiner Recherchen zum selben Thema unter dem provokativen Titel „Maxima culpa“ in Buchform herausgebracht. Da sowohl der Film als auch das Buch vor allem auf Dokumenten der polnischen Stasi SB beruhen, wurde den Autoren aus dem nationalkatholischen Lager allerdings vorgeworfen, eine kommunistische Kampagne gegen die Kirche zu führen.

„Wer die Hand gegen unseren Papst erhebt, der erhebt die Hand gegen Polen!“, heißt es in einer Erklärung der PiS. Doch musste sich die Regierungspartei von der liberalen Presse vorhalten lassen, sich als Verteidiger des Papstes zu gebärden, obwohl dessen Verdienste für die Polen aller politischer Lager außer Frage stehen.  

In der Tat gesteht sogar das aus der einstigen Staatspartei der Volksrepublik Polen hervorgegangene Linksbündnis seit langem zu, dass Johannes Paul II. entscheidenden Anteil am demokratischen Umbruch des Landes hatte. Auch der linksliberale Publizist Adam Michnik erklärte, die nun veröffentlichten Berichte ließen ihn nicht an seiner Dankbarkeit für das zweifeln, was der polnische Papst für sein Land und Europa geleistet habe.

 

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Seine erste Reise nach Polen im Juni 1979, sieben Monate nach seiner Wahl zum Oberhaupt der Katholischen Kirche, hatte den Impuls für die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność gegeben, die zehn Jahre später nach einer Streikwelle die ersten freien Wahlen im Ostblock erzwang und mit Rückenwind aus dem Vatikan haushoch gewann. Polen hatte somit ein riesiges Loch in den Eisernen Vorhang gerissen.  

Kein Geringerer als Michail Gorbatschow sah es so, bei seinem sensationellen Besuch im Vatikan im Dezember 1989 sagte er den – in Deutschland allerdings wenig beachteten – Satz: „Ohne Sie, Heiliger Vater, wäre die Berliner Mauer nie gefallen.“ Auch die letzte DDR-Regierung, die 1990 aus den einzigen demokratischen Volkskammerwahlen hervorgegangen war, war dieser Meinung: Sie widmete dem polnischen Papst eine der letzten DDR-Briefmarken. 

Hauptaussagen des Films und des Buchs stimmen

Jenseits der politischen Polemik wird von Historikern die Hauptaussage des Films und des Buchs nicht angezweifelt: Zeitzeugen aus dem inneren Kreis der damaligen Krakauer Kurie bestätigten die SB-Akten. Dennoch werden die Autoren kritisiert: Sie hätten in ihren Darstellungen weder die Zeitumstände noch das Menschenbild des Mystikers Wojtyła ausreichend berücksichtigt. Dieser habe nie Zweifel daran gelassen, dass er pädophile Übergriffe von Priestern als schwere Sünden ansieht. Allerdings hatte er selbst erfahren, dass der SB systematisch versuchte, Priester, die ihre Ablehnung des Regimes nicht verhehlten, durch gezielt verbreitete Gerüchte über sexuelle Fehltritte in Misskredit zu bringen. Ihm selbst war ein uneheliches Kind angedichtet worden.  

Doch dürfte er kaum geahnt haben, wie groß die Zahl der polnischen Geistlichen war, die der SB wegen tatsächlicher sexueller Aktivitäten zur Mitarbeit als IM erpresste. Nach der Freigabe der SB-Akten zu Beginn des Jahrtausends wurde bekannt, dass es Hunderte waren, darunter auch Bischöfe. Der prominenteste Fall wurde erst vor drei Jahren bekannt und hat die Gläubigen in Polen tief erschüttert: Der langjährige Breslauer Erzbischof Henryk Gulbinowicz war als junger Priester in die Fänge des SB geraten, weil er an „homosexuellen Orgien“ teilgenommen hatte. Papst Franziskus verfügte, dass der emeritierte Kardinal wegen seiner Spitzeldienste nicht mehr öffentlich auftreten und nach seinem Tod nicht in seiner Bischofskirche beigesetzt werden dürfe, eine in der polnischen Kirchengeschichte beispiellose Maßnahme. Gulbinowicz starb wenig später im Alter von 97 Jahren. 

Auf den SB-Listen hatte auch der Posener Erzbischof Juliusz Paetz gestanden, der 2002 wegen der sexuellen Belästigung von Priesterseminaristen suspendiert wurde. 2007 trat Stanisław Wielgus am Tag seiner Amtseinführung als Erzbischof von Warschau zurück, kurz vorher war bekannt geworden, dass der SB ihn wegen einer Frauengeschichte erpresst hatte. Doch mehr war der kommunistische Geheimdienst an Priestern interessiert, die heimlich ihre homosexuellen Neigungen auslebten. Der SB legte unter dem Codewort „Hyazinth“ eine Kartei mit den Namen von Männern an, die sich im Schwulenmilieu bewegten, darunter waren zahlreiche Geistliche. Der SB konnte so auch aus Polen stammende Priester im Vatikan anwerben. 

Wojtyła vermutete Kampagnen kirchenfeindlicher Linker

In diesem Klima des verdeckten Kirchenkampfs konnte Wojtyła nur schwer einschätzen, ob es sich bei Beschwerden über pädophile Übergriffe nicht um SB-Provokationen handelte. Jedenfalls war es für ihn ausgeschlossen, sich an die kommunistisch kontrollierte Staatsanwaltschaft zu wenden. Auch hatte das Thema damals keineswegs die gesellschaftliche Bedeutung wie heute. Verteidiger des Papstes verweisen darauf, dass im Zuge der sexuellen Revolution der 68er-Generation gerade linke Aktivisten auch für die „Entkriminalisierung“ pädophiler Kontakte gestritten hatten, in der Bundesrepublik war es das Anliegen einer Gruppe von Grünen.  

Zeitzeugen verweisen auch auf Wojtyłas Verständnis der Beichte: Er sei fest davon überzeugt gewesen, dass die Absolution nach einem Reuebekenntnis den Sünder auf den rechten Weg führe. Er habe offenbar auch den Priestern geglaubt, wenn diese mit der Hand auf der Bibel gegen sie erhobene Vorwürfe bestritten. Manche Kirchenhistoriker meinen, er sei fest überzeugt gewesen, dass die pädophiler Verbrechen beschuldigten Erzbischöfe von Wien und von Washington, Hans Hermann Groer und Theodore McCarrick, Opfer von Kampagnen kirchenfeindlicher Linker geworden seien.  

Fatale Personalentscheidungen getroffen

Der Papst war in diesem Sinne leichtgläubig, was ihm sogar die mit ihm sympathisierenden Biographen vorhalten; er habe fatale Personalentscheidungen getroffen. Vor allem aber trägt die Kirche nach wie vor schwer an den Folgen seiner Obsession, die menschliche Sexualität rigoros regeln zu wollen. Er war es, der Papst Paul VI. zu der umstrittenen Enzyklika „Humanae Vitae“ gebracht hat, die künstliche Empfängnisverhütung als Sünde bezeichnet, obwohl eine Gruppe von Kardinälen für eine Tolerierung plädiert hatte. Homosexuelle Beziehungen nannte er „wider die göttliche Ordnung“, sein unerbittliches Festhalten am Zölibat förderte nicht nur die Heuchelei im Klerus, sondern vertiefte auch die Gräben zu den anderen christlichen Kirchen. 

Allerdings entspricht der heute oft erhobene Vorwurf, Johannes Paul II. habe keine Maßnahmen gegen pädophile Priester ergriffen, nicht den Tatsachen. Zweifellos hat er das Ausmaß weit unterschätzt, doch sieht der 1983 in Kraft getretene neue Kodex des kanonischen Rechts Strafen für den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen vor, auch führte der Vatikan eine interne Meldepflicht ein. Diese Regelungen wurden indes von vielen Bischöfen nicht umgesetzt, vor allem die polnische Kirche war hier sehr zögerlich.  

Papst Franziskus griff durch

Erst Papst Franziskus griff hier durch: Er verhängte deshalb über zehn polnische Bischöfe Kirchenstrafen, auch dies waren einmalige Vorgänge. Immerhin hat die Bischofskonferenz 2019 einen Bericht vorgelegt, nach dem seit 1990 insgesamt 382 Fälle pädophiler Straftaten dokumentiert sind. Doch offensichtlich missfällt Franziskus, dass der nationalkatholische Flügel im polnischen Episkopat dominiert und nicht der von ihm eingesetzte Primas Wojciech Polak, ein Vertreter der Reformflügels.

Jedenfalls hat Franziskus keinen einzigen polnischen Ortsbischof zum Kardinal erhoben, auch dies ein Novum für die polnische Kirche, die ohnehin in einer beispiellosen Krise steckt: Ihre Rolle als Hüter der nationalen Kultur während der Fremdherrschaft hat sie mit dem demokratischen Umbruch verloren, die Gesellschaft ist von einer gewaltigen Welle der Säkularisierung erfasst: Nach dem jüngsten Bericht des Sozialinstituts der Katholischen Kirche besuchen nur noch 28 Prozent der nominell Gläubigen die Sonntagsmesse.  

Kampf zwischen Traditionalisten und Reformern

Der Streit um die Ursachen dieses beispiellosen Abstiegs hat die Kirche tief gespalten, es findet ein öffentlich ausgetragener Kampf zwischen Traditionalisten und Reformern statt. Im Rahmen dieses Kampfes hat der Krakauer Erzbischof Marek Jędraszewski vor zwei Jahren den Mietvertrag in einem Kirchengebäude für die Redaktion der Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny, des Sprachrohrs der Reformer, gekündigt. Die Zeitschrift, zu deren Autoren der in seinen jungen Jahren den Reformern zugerechnete Wojtyła gehörte, kritisiert immer wieder, dass die Nähe mancher Bischöfe zur PiS, darunter Jędraszewski, zutiefst der Botschaft Johannes Pauls II. zuwiderlaufe.

Dieser hatte den Klerus immer wieder aufgefordert, sich nicht parteipolitisch zu engagieren, sondern dazu beizutragen, die Gräben in der Gesellschaft zuzuschütten. Er selbst hatte dabei ein fulminantes Zeichen gesetzt: Zum Ausklang des Papstbesuchs 1999 lud er den postkommunistischen Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski, einen erklärten Atheisten, und dessen Frau Jolanta zur Abschlussrunde in das Papamobil ein.  

Auch prangert der Tygodnik Powszechny zum Missfallen der Traditionalisten den oberflächlichen Papstkult und Papstkitsch an. In der Tat hatte Johannes Paul II. zu Lebzeiten seine Landsleute immer wieder gebeten, ihm keine Denkmäler zu setzen – vergeblich. Es gibt mittlerweile Hunderte davon im ganzen Land, das größte im Wallfahrtsort Tschenstochau ist 14 Meter hoch.  

Thomas Urban ist Koautor einer Biographie Johannes Pauls II. 

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