75 Jahre Bündnissolidarität - Die Nato und die Tücken ihrer Selbstdarstellung

Zahlreiche PR-Strategen versuchten bereits, die Bedeutung der Nato propagandistisch zu unterstreichen. Dabei gab es in den vergangenen 75 Jahren allerlei Fettnäpfchen und Skurrilitäten zu bestaunen.

Litauische Soldaten stehen zum Hissen der Nato-Flagge bereit / dpa
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Michael Rühle arbeitete über 30 Jahre im Internationalen Stab der NATO, unter anderem in den Bereichen Politische Planung und Reden, Energie- und Klimasicherheit sowie hybride Bedrohungen.

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Bei der Unterzeichnung des Washingtoner Vertrages am 4. April 1949 spielte die Kapelle des State Department als Ehrerbietung an die First Lady, Bess Truman, ein Medley aus George Gershwins Musical „Porgy and Bess“. Für manche Zuhörer wirkten Titel wie „I got plenty of nothin’“ und „It ain’t necessarily so“ wie ein ironischer Kommentar auf die vermutlich geringe Lebenserwartung des soeben gegründeten transatlantischen Bündnisses.

Doch die Nato ist, um Mark Twains Urteil über die Musik Richard Wagners zu bemühen, „nicht so schlecht, wie sie klingt“. Das Bündnis, das inzwischen seinen 75. Geburtstag feiern kann, hat die Skeptiker stets eines Besseren belehrt. Es hat nicht nur zahlreiche Krisen überstanden, sondern auch die Zahl seiner Mitglieder seit der Gründung von zwölf auf demnächst 32 Staaten beinahe verdreifacht. Eigentlich keine schlechte Bilanz. Dennoch lebt das Bündnis stets mit der Sorge, es könne seine Relevanz einbüßen.

Die Gründe hierfür sind zahlreich. So neigt die „strategic community“ in den USA häufig dazu, jede ihrer Ideen zur Zukunft der Nato als entscheidenden Schritt gegen die andernfalls drohende „Irrelevanz“ des Bündnisses anzupreisen. Politikwissenschaftler und Historiker wiederum beschreiben das Bündnis allzu oft als eine Allianz in der Krise: eine nur mühsam zusammengehaltene Zweckgemeinschaft, die schon bald auseinanderfallen wird. Große Teile der Presse schließlich verspüren ebenfalls den Drang, der Nato bei jeder internen Streitigkeit das Attribut „irrelevant“ anzuheften.

Hoagland riet dem Bündnis zu mehr Gelassenheit

Niemand hat dieses Ritual besser – und ironischer – beschrieben als Jim Hoagland, einer der Altmeister des transatlantischen Journalismus. Kurz vor dem kontroversen Irak-Krieg riet der dem Bündnis zur Gelassenheit: Immer, wenn man in der Washington Post gerade keine besonderen Neuigkeiten zu vermelden hätte, publiziere man halt ein Stück über die Krise der Nato. Für Hoagland stand der strategische Wert des Bündnisses nie in Frage – und heute, da Russland seinen revanchistischen Impulsen freien Lauf lässt, dürfte die Notwendigkeit einer transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft erst recht nicht angezweifelt werden.

Die Gelassenheit, die Hoagland einst forderte, wird man innerhalb des Nato-Hauptquartiers allerdings kaum finden. Dort sieht man sich in einem ständigen Kampf um das Wohlwollen der öffentlichen Meinung. Entsprechend groß ist die Versuchung, das Bündnis durch die Zurschaustellung eines fast schon pathologischen Optimismus zu „verkaufen“. Doch dieser Versuch gelingt nicht immer. In ihrem Bemühen, sich als Ritter in schimmernder Rüstung zu präsentieren, ist die Nato immer wieder ins propagandistische Fettnäpfchen getreten.

So war die Auswahl unpassender Musikstücke nicht auf die Gründungszeremonie vor 75 Jahren beschränkt. Zum zehnten Geburtstag der Allianz im April 1959 trällerte Bing Crosby seinen „Nato Song“, in dem er mit schwülstigem Pathos das transatlantische Bündnis pries. Und 2004, als die Allianz sieben neue Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa willkommen heißen konnte, vernahmen die Teilnehmer des Festaktes das Thema aus dem Film „Titanic.“ Lediglich die 1989 von einem Luxemburger Offizier verfasste „Nato-Hymne“ geriet zu einem Stück, für das man sich nicht fremdschämen musste.

Zeit der „soften“ Selbstdarstellung ist vorbei

Zu den akustischen Eigentümlichkeiten gesellten sich visuelle. Wer gegen Ende der 80er Jahre das Brüsseler Nato-Hauptquartier besuchte, kam in den Genuss eines Werbefilms, der die Bedeutung der Allianz optisch nahebringen sollte. Der Film zeigte Soldaten, Panzer, Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge, und die markante Stimme des Erzählers stammte von „Ben-Hur“-Darsteller Charlton Heston. Die Nato, so die klare Botschaft, war ein militärisches Bollwerk des freien Westens gegen die sowjetische Bedrohung. Da stimmte einfach alles.

Doch dann endete der Kalte Krieg, und die Nato-Videos zeigten plötzlich keine Soldaten oder Waffen mehr. Stattdessen versuchten sie den Eindruck zu erwecken, eine neue europäische Friedensordnung sei in erster Linie eine Frage des ausgiebigen Händeschüttelns von Diplomaten. Die kernige Stimme von Charlton Heston wurde durch das näselnde Timbre eines britischen Nato-Mitarbeiters ersetzt. Und in den Schlussbildern des Films war kein stolzer Flugzeugträgerverband mehr zu sehen, sondern Tauben, die von der Spanischen Treppe in den blauen Himmel über Rom aufstiegen. Zumindest in ihrer visuellen Selbstdarstellung hatte sich die Nato gründlich entmilitarisiert.

 

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Inzwischen haben sich die Zeiten wieder geändert – und ebenso die Videos der Nato. Seit der russischen Annexion der Krim 2014 schämt man sich nicht mehr, den militärischen Charakter der Nato hervorzukehren. Die propagandistische Dürreperiode, in der die Nato aus purer Verzweiflung sogar den Top-Werbestrategen eines amerikanischen Softdrink-Produzenten anheuerte, um das „Branding“ des Bündnisses mittels eines „transformativen Narrativs“ aufzufrischen, ist vorbei. „Soft“ war gestern. 

Mit dynamischen Filmaufnahmen von Soldaten und schwerem militärischem Gerät wird heute die Entschlossenheit der Allianz signalisiert, die Sicherheit der fast einer Milliarde Bürger ihrer bald 32 Mitgliedstaaten zu garantieren. Die in den Bildern suggerierte Verteidigungsbereitschaft wird verstärkt durch martialische Rhetorik, der zufolge man „jeden Zentimeter“ des Nato-Territoriums verteidigen werde. Nimm das, Putin!

Zurschaustellung von militärischem Gerät

Die Zurschaustellung von militärischem Gerät hat allerdings nicht immer den gewünschten Erfolg. Beim Gipfel von Wales 2014 hatte man versucht, durch das Aufstellen eines Kampfjets vor dem Tagungshotel die militärische Dimension der Nato zu unterstreichen. Doch statt des erhofften Hauchs von „Top Gun“ gab es einen Rohrkrepierer. Die Presse machte sich sofort über die Tatsache lustig, dass es sich lediglich um ein großes Plastikmodell handele – ein echtes Flugzeug hätte ob seines hohen Gewichts einen zu tiefen Abdruck in dem gepflegten englischen Golfparcours hinterlassen! Und – wie wir von Donald Trump wissen – ist Golf nun einmal wichtiger als die Nato.

Ein harmloseres Beispiel des schlechten Geschmacks war „Alliantis“, ein lebensgroßes weißes Plastikpferd, dem man statt eines stolzen Schweifs lediglich ein Stummelschwänzchen gegönnt hatte. Die Skulptur war 2005 für einen Wettbewerb zum 175. Geburtstag Belgiens entstanden und hatte seinem Schöpfer sogar einen Preis eingebracht. Der Name des Pferds sollte nach „Allianz“ klingen, aber warum ein transatlantisches Verteidigungsbündnis ausgerechnet durch ein Pferd symbolisiert werden sollte, blieb ein Rätsel. 

In ihrer Rede anlässlich der feierlichen Enthüllung von „Alliantis“ hatte Janine de Hoop Scheffer, die Gattin des damaligen Nato-Generalsekretärs, sichtlich Mühe, der skurrilen Veranstaltung wenigstens einen Anschein von Logik zu verleihen. Die Nato, so Madame de Hoop Scheffer, habe viel mit Pferden gemein, nämlich Stärke, Verlässlichkeit und Anpassungsfähigkeit. Wirklich überzeugend klang das nicht. Um den maritimen Charakter des Bündnisses zu unterstreichen, wäre ein Seepferdchen definitiv die bessere Wahl gewesen.

Vorläufiger visueller Tiefpunkt

Ihren vorläufigen visuellen Tiefpunkt erreichte die Nato bei ihrem Gipfel 2021 in Brüssel. In der „Agora“, der ebenso riesigen wie düsteren Halle im Zentrum des Nato-Hauptquartiers, hatte man einen mehrere Meter hohen schwarzen Quader errichtet, auf den man Bilder und Videos projizieren konnte. Die Ähnlichkeit mit dem Monolithen in Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“ war für jeden erkennbar. 

Beim obligatorischen Gruppenfoto wurden die Staats- und Regierungschefs aufgrund des notwendigen Covid-Abstandes zu genau festgelegten, weit auseinander liegenden Markierungen entlang des Monolithen dirigiert. Doch das Ergebnis glich eher einem Treffen von Ufo-Anhängern, die in der Dämmerung auf die Ankunft des lang ersehnten Raumschiffs warteten – ein Bild, das auch heute noch bei vielen Betrachtern peinliche Betroffenheit auslösen dürfte. Erneut war die Nato bei ihrem Versuch, sich selbst visuell zu inszenieren, gescheitert.

Nato wird auch eine zweite Trump-Amtszeit überstehen

Der Ufo-Monolith wird nicht der letzte visuelle Fehlgriff der Nato gewesen sein. Doch die Nato wird auch künftige propagandistische Verirrungen aushalten. Viele, die über die Nato schreiben, werden zwar auch weiterhin den Fehler begehen, jede legitime und notwendige Diskussion über den Kurs der Allianz zur Existenzfrage hochzuspielen. 

Dies wird jedoch nichts an der Tatsache ändern, dass kein Nato-Mitglied dem Bündnis den Rücken kehren will – auch nicht das oft eigensinnige Frankreich oder die immer wieder schwierige Türkei. Alle Nato-Mitglieder schätzen die Allianz – nicht nur, weil sie das militärische Engagement der Vereinigten Staaten in Europa sicherstellt, sondern auch, weil der permanente Abstimmungsprozess im Bündnis genau die politische Berechenbarkeit zwischen den Mitgliedern schafft, die kein Staat missen will.

Die Nato wird deshalb auch eine zweite Amtszeit von Donald Trump überstehen. Schließlich hat sie sogar die drei „viralen Videos“ überstanden, die man zum 60. Geburtstag des Bündnisses 2009 in Auftrag gegeben hatte. Der Einwand, es sei unmöglich, ein virales Video zu produzieren, da ausschließlich das Publikum per Mausklick entscheide, ob ein Video populär werden würde, verfing damals nicht. Die Videos seien so gut gelungen, dass sie einfach viral gehen müssten. 

Das Resultat? Drei verwirrende 45-Sekunden Spots, die keine nachvollziehbare „message“ transportierten. Selbst nach mehreren Wochen kamen kaum mehr als 4000 Klicks zusammen – was wohl nicht zufällig der Zahl der Mitarbeiter im Nato-Hauptquartier entsprach. Die für viel Geld produzierten Videos verschwanden in der Versenkung. Sie waren einfach irrelevant. Die Nato ist es nicht – weshalb sie noch lange Bestand haben dürfte. 

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