Nach den Wahlen in Polen - Wer regiert demnächst an der Weichsel?

Die regierende PiS-Partei bleibt zwar stärkste Partei, verfehlt aber die absolute Mehrheit. Sowohl PiS-Chef Jarosław Kaczyński als auch Oppositionsführer Donald Tusk erklären sich zu Wahlsiegern. Aber noch sind gar nicht alle Stimmen ausgezählt.

Verfrühte Freude? Oppositionsführer Donald Tusk auf der Wahlparty seiner Bürgerplattform / dpa
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Oppositionsführer Donald Tusk jubelte gestern am späten Abend: „Es ist der schönste Tag in meinem Leben!“ Die nationalpopulistische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) sei vom Wähler abgestraft worden und müsse in die Opposition gehen. Andere Politiker waren vorsichtiger, denn der Jubel Tusks beruhte allein auf den Exit Polls, Befragungen einer begrenzten Zahl von Wählern nach Abgabe der Stimmen. 

Demnach ist die PiS zum dritten Mal in Folge mit rund 36 Prozent der Stimmen zwar stärkste Partei geworden, aber sie dürfte keinen Koalitionspartner finden, um weiter an der Macht zu bleiben. Es dürfte das Ende der politischen Karriere des zunehmend als weltfremd wahrgenommenen PiS-Gründers Jarosław Kaczyński sein; seine antideutschen und antieuropäischen Phobien befremden die große Mehrheit seiner Landsleute. 

Den Schätzungen zufolge fallen der PiS nur 200 der 460 Mandate im Sejm zu. Hingegen kommen die drei größten Oppositionsparteien, die sich auf eine Koalition einigen wollen, auf 248 Abgeordnete: Das von Tusk geführte Bündnis Bürgerkoalition (KO), dem neben der von ihm gegründeten Bürgerplattform (PO) auch die Grünen und die Agarunion angehören, erreichte demnach rund 31 Prozent der Stimmen, der Wahlblock Dritter Weg 13,5 und die Neue Linke 9,5.  

Keine Rolle dürfte bei der Regierungsbildung die Konföderation spielen, eine wirtschaftsliberale, aber extrem nationalistische, überdies homophobe und fremdenfeindliche Gruppierung, die entgegen allen Voraussagen auf lediglich etwas mehr als sechs Prozent kam. Der Wahlkampf der Konföderation bestand aus zwei Hauptargumenten: drastische Steuersenkungen und Ende der Hilfe für die Ukraine; letzteres machte es den anderen Oppositionsgruppen leicht, die Konföderierten als Verbündete Putins zu attackieren.   

Führende PiS-Politiker gaben sich zuversichtlich, eine Koalition bilden zu können

Doch nicht nur die auf ziemlich dünner Basis erstellten Schätzungen über die Stimmenverteilung sind ein Unsicherheitsfaktor am Tag nach den Wahlen. Auch wegen des polnischen Wahlsystems könnte es noch zu unliebsamen Überraschungen für den siegesgewissen Tusk kommen, es handelt sich um eine Mischform des deutschen und des amerikanischen Systems: Auf jeden Wahlkreis entfällt eine bestimmte Anzahl von Mandaten. Diese Mandate werden innerhalb des Wahlkreises nach dem in der Bundesrepublik geltenden D’Hondt-Verfahren verteilt.  

Der Haken dabei: In ländlichen Gebieten, wo die PiS traditionell dominiert, braucht ein Kandidat, um gewählt zu werden, weitaus weniger Stimmen als in den Großstädten, die Hochburgen der PO Tusks sind. Nicht berücksichtigt werden allerdings Kandidaten, deren Partei landesweit an der Fünfprozenthürde scheiterte. Dieses System verzerrt also die Ergebnisse auf nationaler Ebene, so reichten der PiS bei den Wahlen 2015 knapp 38 Prozent der Stimmen, um die absolute Mehrheit im Sejm zu erreichen. 

 

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Jedenfalls gaben sich am gestrigen Wahlabend führende PiS-Politiker zuversichtlich, dass es ihnen erneut gelingen werde, eine Koalition zu bilden. Einer von ihnen verwies auf die Bauernpartei (PSL), die dem Wahlblock Dritter Weg angehört. Weltanschaulich würde dies zusammenpassen, doch im Gegensatz zur PiS ist die PSL proeuropäisch – die polnischen Bauern wissen sehr gut, dass sie bestens von der Mitgliedschaft in der EU profitieren. So kommentierte ein PSL-Sprecher die PiS-Avancen mit einem Mem: Eine Frau bekommt beim Kaffeetrinken einen Lachanfall

Allerdings könnte der Dritte Weg durchaus ein Unsicherheitsfaktor sein. Der Gründer Szymon Hołownia, ein liberaler Katholik, der der PiS wortmächtig Korruption und Rechtsbrüche vorwirft, dürfte zwar über alle Zweifel erhaben sein, doch seine Partei ist erst vor zwei Jahren entstanden, und über einen Großteil ihrer Kandidaten ist nur wenig bekannt. Skeptiker befürchten also, dass die PiS einige von ihnen durch das Angebot lukrativer Posten korrumpieren könnte. Hinzu kommt, dass der rechtsextreme Justizminister Zbigniew Ziobro sich immer wieder gerühmt hat, belastendes Material über viele Politiker gesammelt zu haben. 

Tusk dürfte Probleme bekommen, eines seiner wichtigsten Versprechen zu halten

Allerdings fehlen der PiS den Schätzungen zufolge 31 Mandate zur Mehrheit, weitaus wahrscheinlicher ist also die Bildung einer Koalitionsregierung, wie sie Tusk anstrebt. Dieser selbst ist der liberale Flügelmann in einer konservativen Gruppierung, die PO wäre weltanschaulich am ehesten mit der CSU zu vergleichen: konservatives Gesellschaftsprogramm, aber proeuropäisch und wirtschaftsfreundlich.  

Auch der Dritte Weg gehört zum konservativen Spektrum, Tusk dürfte Probleme bekommen, eines seiner wichtigsten Versprechen zu halten: Abtreibung im Rahmen einer Fristenlösung zu legalisieren. In diesem Punkt könnte er sich nur auf den dritten potenziellen Koalitionspartner stützen, die Neue Linke, die sonst gesellschaftspolitisch typisch westlich-woke Positionen vertritt. Schwere Konflikte in einer derartigen Koalition aus gemäßigt konservativen Gruppierungen und der Neuen Linken wären also programmiert.  

Selbst wenn es Tusk gelingen würde, im Sejm eine Mehrheit für seine Kabinettsliste zu bekommen, so stünden vor der künftigen Regierung gewaltige Probleme: Die PiS hat das Rechtssystem durch die verfassungswidrige Einsetzung höchster Richter und die Gründung neuer Rechtsinstitute völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Es wird eine titanische Aufgabe sein, dies zu reparieren, zumal das Verfassungsgericht weiterhin von PiS-Leuten dominiert wird. Auch der blasse Staatspräsident Andrzej Duda ist ein PiS-Mann, er hat sich aktiv am Angriff auf das Rechtssystem beteiligt. 

Überdies dürfte es schwierig sein, die PiS-Aktivisten aus den Chefetagen sämtlicher staatlicher Betriebe zu entfernen, den Fernsehsender TVP eingeschlossen. Dass die PiS zum sich selbst bereichernden Establishment geworden ist, dürfte der Hauptgrund für die hohe Wahlbeteiligung sein, die sich zu ihrem Nachteil ausgewirkt hat. Problemlos dürfte dagegen die Zusammenarbeit einer von der bisherigen Opposition gebildeten neuen Regierung mit den europäischen Institutionen sein – Tusk selbst ist ja als ehemaliger Präsident des Europäischen Rats in Brüssel bestens vernetzt. Vor ihm liegt noch ein weiteres gigantisches Aufgabenfeld, dass er in seiner zurückliegenden Zeit als polnischer Regierungschef (2007-2014) sträflich vernachlässigt hat: der Aufbau einer dem Zugriff der Parteien weitgehend entzogenen öffentlichen Verwaltung. 

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