Interview mit dem Deutschland-Repräsentanten Jhy-Wey Shieh - Zwischen China und Russland: Warum Taiwan deutsche Staatsinteressen verteidigt

Welche geopolitischen Konsequenzen zieht das von China wiederholt bedrängte Taiwan aus dem russischen Überfall auf die Ukraine? Bestärkt das Agieren Russlands Peking in seinen Invasionsbestrebungen? Hierüber sprach der Repräsentant Taiwans in der Bundesrepublik Deutschland, Professor Dr. Jhy-Wey Shieh, mit Tilman A. Fischer.

Flugmanöver von Militärhubschraubern vor den Feierlichkeiten zum taiwanesischen Nationalfeiertag am 10. Oktober 2021China ist zuletzt zum wiederholten Male in den Verteidigungsluftraum eingedrungen / dpa
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Tilman Asmus Fischer studierte Geschichte, Kulturwissenschaft und evangelische Theologie. Er lebt und arbeitet als freier Journalist in Berlin. Die Themen seiner Arbeit verdanken sich einer sozialethischen Perspektive auf Politik und Zeitgeschehen.

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Jhy-Wey Shieh ist studierter Germanist und der diplomatische Vertreter des Inselstaats Taiwan in der Bundesrepublik Deutschland.

Exzellenz, der Überfall Russlands auf die Ukraine hat in den westlichen Medien zu mehr Sensibilität für die Bedrohung Taiwans durch China geführt. Hat er zugleich auch die Politik Pekings und damit die tatsächliche Bedrohungslage Taiwans verändert?

Xi Jinping hat schon lange vor Putins Invasionskrieg gegen die Ukraine immer wieder – und immer stärker – Taiwan mit Krieg gedroht und provoziert. Dabei geht es um mehr als Säbelrasseln und Marinemanöver in der Taiwanstraße, die Peking – entgegen der völkerrechtlichen Realität – gerne als chinesisches Binnengewässer behandeln möchte. Scharenweise lassen die Chinesen ihre Kampfjets in den Luftverteidigungstraum Taiwans eindringen und spekulieren darauf, dass irgendein taiwanischer Pilot aus Nervosität die Kontrolle verliert und Feuer gibt. Dann wäre die Hölle los. China braucht keine Begründung für eine Invasion, sondern nur einen Anlass.

Bestärkt das Agieren Russlands Peking in seinen Invasionsbestrebungen?

Vielleicht ist es ja auch umgekehrt. Während man hier oft hört, Xi Jinping würde sich an der Politik Russlands orientieren, ist es wahrscheinlicher, dass vielmehr Putin in den vergangenen Jahren am Beispiel Chinas gesehen hat, wie man mit einer unverschämten Politik gegenüber den Nachbarn erfolgreich sein kann. Putin wird wahrgenommen haben, dass Xi Jinping sich mit seinem militärischen Expansionismus im Südchinesischen Meer durchgesetzt hat, ohne großartig bestraft worden zu sein.

Welche Schlüsse kann China im Gegenzug für seine eigene Strategie aus der Entwicklung des russischen Angriffskrieges ziehen?

Einerseits könnte Xi Jinping in den kommenden zwei Jahren die Finger stillhalten und zugleich Pläne für eine effiziente Invasion entwickeln. Das schließe ich nicht aus. Er könnte vermutlich unter anderem auch der Ansicht sein, dass Russlands Krieg nicht effizient und kaltblütig genug organisiert worden sei. Der Krieg ziehe sich in die Länge, sodass Nato und EU in der Lage seien, zwar nicht Soldaten zu schicken, aber vereint die Ukrainer mit schweren Waffen zu beliefern und Wirtschaftssanktionen gegen Russland auf den Weg zu bringen. Xi Jinping würde sich demzufolge dann denken: Ich muss einen richtigen Blitzkrieg führen. Und das heißt, Taiwan so stark zu bombardieren, die fünf wichtigen Städte für Politik, Wirtschaft, Kultur, Verteidigung und vor allem Hightech – Keelung, Großraum Taipeh, Shinchu, Taichung, Kaohsiung – lahmzulegen und dem Boden gleichzumachen, sodass die Taiwaner binnen drei Tagen dem Druck nachgeben. Dann wäre es für die USA oder Japan zu spät, uns militärisch unter die Arme zu greifen. Bemerkenswert wie auch besorgniserregend hat Xi Jinping vor einigen Tagen „Leitlinien für Militäreinsätze als nichtkriegerische Aktion“ unterzeichnet und veröffentlicht.

… was so ähnlich wie Putins „Militärische Spezialoperation“ klingt.

Genau. Wir fühlen uns sofort erinnert an Putins Darstellung seines Invasionskrieges. Das sind beängstigende Zeichen. 

 

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Was tut Ihre Regierung, um angesichts eines solchen Szenarios die eigene Resilienz zu stärken?

Zum einen ist die Regierung schon seit längerem und mit Erfolg bestrebt, die wirtschaftliche Abhängigkeit von China zu reduzieren: Für Unternehmen, die dort produzieren, werden Anreize geschaffen, ihre Produktion in andere südostasiatische Länder zu verlagern. Zum anderen arbeitet die Regierung auf eine adäquatere Bewaffnung unseres Staates hin. Mir tut es leid, dass wir unsere eigene Rüstungsindustrie ausbauen müssen, aber wie heißt es auf Latein: „Si vis pacem para bellum.“ Frau Präsidentin hat die Auffrischungstrainings für Reservisten erweitert und wir überlegen, wie wir die Anzahl unserer Soldaten erhöhen können, nachdem faktisch keine richtige Wehrpflicht mehr besteht. Wir greifen niemanden an, aber wir werden unsere Freiheit verteidigen – und zwar bis zum letzten Mann. Zum dritten werden die militärischen Beziehungen mit USA, Japan, Australien und den ASEAN- Ländern im Rahmen einer indopazifischen strategischen Allianz intensiviert bzw. angestrebt.

Welche Bedeutung kommt Taiwan im Rahmen einer solchen Allianz zu?

Zunächst ist Taiwan eine lebendige Demokratie; ginge Taiwan verloren, wäre dies ein Todesurteil für die Werte der Freiheit. Sodann gibt es aber auch realpolitische Gesichtspunkte: USA, Australien und die ASEAN-Staaten können es sich nicht leisten, dass Taiwan unter die Kontrolle Chinas kommt. Denn dann würde China in der Lage sein, Japan und Korea fast vollständig durch Blockade der Seewege vom internationalen Handel auszuschließen. Japan wäre dann so erpressbar, dass es keine Entscheidung mehr ohne Zustimmung Chinas treffen könnte. Haben die Chinesen einmal Taiwan, dann können sie Japan und Korea in Schach halten. Schon heute weitet China seinen Einfluss in diesem Gewässer massiv aus und versucht die anderen Staaten zu dominieren – ökonomisch wie militärisch. Ähnliches lässt sich ohne große Unterschiede auch auf die ASEAN-Staaten übertragen.

Welche Schritte geht China konkret in diese Richtung?

Die Chinesen haben gerade ihren dritten Flugzeugträger fertig gebaut. Taiwan hat vier U-Boote, eines museumsreifer als das andere – China hat 79 U-Boote. 40 Prozent der im letzten Jahr weltweit zu Wasser gelassenen Kriegsschiffe entfallen auf China. Vor zwei Jahren hat Peking es geschafft, die Inselrepublik der Salomonen dazu zu bringen, die diplomatischen Kontakte zu Taiwan abzubrechen. Vor zwei Monaten haben China und die Salomonen einen Handels- und Sicherheitsvertrag abgeschlossen. Damit ist Peking berechtigt, dort U-Boote oder Flugzeugträger zu stationieren. Peking wird in Zukunft weitere solcher Verträge mit anderen Inselstaaten abschließen. Im südchinesischen Meer hat China bereits acht künstliche Inseln errichtet, von denen drei bereits militarisiert sind. 

Welche Auswirkungen hätte eine chinesische Annexion Taiwans über den Pazifikraum hinaus – für Europa und Deutschland?

Hier geht es um globalisierte Lieferketten von wirtschaftlicher und geostrategischer, militärischer Bedeutung. Verliert man Taiwan, verliert man das ganze Gewässer. Jeder dritte Euro, den die Deutschen im Außenhandel verdienen, stammt aus dem Handel mit den Staaten dieser Region. Daher darf man Taiwan nicht mehr getrennt betrachten von USA, Japan, Australien, den anderen asiatischen Ländern – und auch nicht von den EU- und Nato-Staaten. Im Falle eines Angriffs auf Taiwan ginge es daher nicht um eine Unterstützung durch den Westen aus gutem Willen. Nein, dann stehen harte Interessen Deutschlands und der EU auf dem Spiel. Die Staatsinteressen von Deutschland und die Interessen der EU im südchinesischen Meer werden dort von Taiwan verteidigt. Und wenn Deutschland Taiwan unterstützt, dann verteidigt es seine eigenen Staatsinteressen.

Welche Schlüsse sollten Deutschland und die EU hieraus ziehen?

Die Ein-China-Politik, die die Beziehungen Europas zur Volksrepublik und zu Taiwan prägt, muss überdacht werden, da sie längst gegenstandslos geworden ist. Sie entstand aus dem Umstand, dass es zwei chinesische Regierungen gab, die sich gegenseitig den Alleinvertretungsanspruch auf ganz China streitig machten: Das war Chiang Kai-shek auf der einen und Mao Zedong auf der anderen Seite. Die chinesische Politik steht bis heute in der Tradition Mao Zedongs und pflegt sein Erbe. Wir Taiwaner aber haben nicht an Chiang Kai-shek und seiner Diktatur festgehalten. Wir haben die Diktatur und die Doktrin des Alleinvertretungsanspruchs überwunden und das heißt: Wir konkurrieren ja gar nicht mehr mit China. Von uns aus kann die Volksrepublik – zum Leidwesen Gottes oder Buddhas – weiter ihr China vertreten. Aber wir lassen uns nicht den Anspruch auf die Vertretung Taiwans streitig machen.

Wie sollte vor diesem Hintergrund eine angemessene europäische China-Politik aussehen?

Der Westen müsste von der Ein-China-Politik zu einer China-Politik übergehen, die Raum lässt für eine Taiwan-Politik. Man muss Taiwan noch nicht gleich staatsrechtlich anerkennen. Aber man sollte sich überlegen: Wie können wir eine Demokratie – die wir offiziell immer gelobt haben – gerechter behandeln? Das könnte zumindest erstmal auf einen Zwischenstatus zwischen völkerrechtlicher Nicht-Anerkennung und Anerkennung hinauslaufen. 

Was könnte das beinhalten?

Zum Beispiel: Unsere Präsidentin, unser Vizepräsident, der Premierminister, der Außenminister, der Verteidigungsminister, der Parlamentspräsident und der dem Verfassungsgericht vorsitzende Oberstgerichtshofspräsident – alles demokratisch legitimierte Repräsentanten Taiwans – dürfen seit 1984 nicht nach Deutschland und in andere EU-Staaten einreisen, obwohl hin und wieder Ausnahmen vorgenommen worden sind, aber eben Ausnahmen, die ja die Regel bestätigen. Als ob sie Terroristen wären! Das ist nicht fair und ein unnötiges Zugeständnis gegenüber China, das dessen Regierung letztlich in seiner aggressiven Haltung gegenüber Taiwan bestärkt.

Warum gibt es diese Regelung überhaupt?

Sie wurde getroffen, als Taiwan noch eine Diktatur war – ebenso wie die Volksrepublik. Nur ist seitdem die chinesische Diktatur immer schlimmer geworden – wir aber haben die Diktatur überwunden. Eine derartige Degradierung eines demokratischen Staates wie Taiwan wäre zu beenden. Wir wissen zwar, dass solche an und für sich keineswegs zu rechtfertigende Behandlungsweise ausschließlich auf Rücksicht auf China zurückzuführen ist, aber spätestens seit dem 24. Februar sind wir berechtigt zu fürchten, dass solche Rücksichtnahme auf China gerade wie eine Einladung zum Übergriff auf Taiwan wirken könnte oder gar müsste.

Nehmen Sie Schritte in Richtung einer faireren Behandlung Taiwans wahr?

Ich darf seit dem 8. Dezember sagen: Ja. Das ist der Tag, an dem die neue Bundesregierung ins Amt eingeführt wurde. Wir müssen noch etwas Geduld haben. Aber ich kann sagen: Man merkt, dass diese Regierung sich darum bemüht, mehr Mut und Selbständigkeit gegenüber China zu zeigen, vor allem auch was Taiwan anbelangt. 

Nun hat der Bundeskanzler ja eine sicherheitspolitische Zeitenwende angekündigt – und, zumindest mit Blick auf die Ukraine, ist auch ein rüstungspolitischer Kurswechsel zu beobachten. Daher abschließend: Gibt es jenseits der faireren Behandlung Ihrer Regierung auch konkrete sicherheits- und rüstungspolitische Erwartungen Taiwans gegenüber Deutschland und der EU angesichts der militärischen Bedrohung durch Peking?

Zum einen geht es hier um Hardware: Natürlich sind wir auf die Lieferung von Waffensystemen angewiesen, die zur Verteidigung notwendig sind. Raketen und U-Boote – das brauchen wir auf jeden Fall. U-Boote vor allem, die wären die Nummer eins. Sonst würde es sich absurd anhören, würde ich mit Nachdruck hervorheben müssen: Taiwan baut U-Boote, um sich über Wasser zu halten. Aber es braucht vor allem Software im Sinne einer strategischen und geopolitischen Zusammenarbeit mit Taiwan. Das heißt: Taiwan als Gast – von mir aus zunächst auch nur als Zaungast – in die Nato einzuladen und in Zusammenarbeit mit Japan und den USA Taiwan konsequent einzubinden. Das wird übrigens auch Deutschland zugutekommen – eine Realität, die mit der Zeit auch hier endlich in vollem Maße wahrgenommen werden wird. Ich bin mir dessen sicher.

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