Grenzregionen als geopolitische Hotspots - Wo Mächte aufeinandertreffen

Der Rückzug der USA aus Afghanistan hat ein Machtvakuum in Zentral- und Südwestasien geschaffen und Veränderungen ausgelöst, die in Europa nachhallen. Der Zeitpunkt des russischen Einmarschs in der Ukraine war denn auch kein Zufall. Kritischste Regionen sind jedoch das Schwarze und das Südchinesische Meer, wo die USA, Russland und China um Einfluss ringen.

Zwei Suchoi SU-35 Kampfflugzeuge der chinesischen Luftwaffe bei einer Patrouille / picture alliance/Liu Rui/Xinhua/AP/dpa
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Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Grenzgebiete sind seit langem Gegenstand geopolitischer Untersuchungen, da sie einen Punkt der Konvergenz, der Interaktion und oft auch des Konflikts zwischen Nationen und politischen Systemen darstellen. Die Bedeutung dieser Regionen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, weil sie oft als Schauplätze für politische und militärische Kämpfe sowie als Gegenstand komplizierter diplomatischer Verhandlungen und Manöver dienen. Darüber hinaus sind Grenzregionen häufig Orte des Zusammenspiels verschiedener wirtschaftlicher und sozialer Systeme, was zu unterschiedlichen hybriden Kulturen und Identitäten führt.

Die klassische geopolitische Analyse, die sich auf die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bereiche konzentriert, um die geopolitischen Imperative eines Landes zu verstehen, ist traditionell nicht in der Lage, die Komplexität von Grenzregionen über ihre geografische Lage hinaus zu berücksichtigen. Mein eigenes Forschungsprojekt im Zusammenhang mit einem bevorstehenden Buch, das ich derzeit über die Grenzgebiete schreibe, beginnend mit dem Rückzug der USA aus Afghanistan, und meine Arbeit zu aktuellen Ereignissen für Geopolitical Futures haben jedoch die Vielfalt der Rolle der Grenzgebiete für die regionale und globale Stabilität deutlich gemacht.

Gemeinsamen Nenner für die Grenzgebiete der Welt

Als ich mich eingehender mit den Theorien von Halford Mackinder, Nicholas Spykman und Alfred Thayer Mahan – allesamt prominente geopolitische Denker aus unterschiedlichen Epochen und politischen Umfeldern – beschäftigte, begann ich, einen gemeinsamen Nenner für die Grenzgebiete der Welt oder, genauer gesagt, die Grenzgebiete der Kontinente zu erkennen.

Diese Regionen zeichnen sich durch ihre strategische Lage, ihre besonderen sozioökonomischen Merkmale und das anhaltende Interesse von Groß- und Mittelmächten aus, die ihre Stabilität gewährleisten wollen. In der Tat ist die Stabilität dieser Grenzregionen von größter Bedeutung, da ohne sie die Gefahr von Kriegen und Konflikten groß ist, die auf benachbarte Regionen überzugreifen drohen und möglicherweise die geopolitische Landschaft eines ganzen Kontinents verändern.

Afghanistan als Paradebeispiel für ein Kerngrenzland

Der Begriff des so genannten „Kerngrenzlandes“ erweist sich als ein entscheidendes Konzept für das Verständnis der Stabilität des internationalen Systems. Das zentrale Grenzland des eurasischen Kontinents liegt in Zentralasien, wo die Einflüsse Europas, Russlands, Chinas, Indiens, des Iran und Pakistans aufeinandertreffen – so wie es auch in der Vergangenheit der Fall war. Afghanistan ist ein Paradebeispiel für ein Kerngrenzland, wie das anhaltende Interesse der Großmächte an seiner Stabilität im Laufe der Zeit beweist. Dies ist auch der Grund, warum Afghanistan nie vollständig kontrolliert werden kann.

Der Rückzug der USA aus Afghanistan hat ein Machtvakuum in Zentral- und Südwestasien geschaffen und Veränderungen ausgelöst, die in Europa und seinen Grenzgebieten nachhallen. Der Zeitpunkt des russischen Einmarsches in der Ukraine ist nicht zufällig; er folgte auf einen anhaltenden Rückzug der USA aus dem Nahen und Mittleren Osten, ganz zu schweigen von der globalen Pandemie. In der Zwischenzeit haben andere europäische Mächte, wie Polen und die Türkei, ihre Positionen in ihren Grenzgebieten gefestigt. Infolgedessen haben die Spannungen in diesen historisch wichtigen Bereichen des internationalen Handels und der Investitionen zugenommen.

Schwarzes Meer und Südchinesisches Meer

Ich nenne diese Gebiete „geopolitische Knotenpunkte“: Orte von strategischer Bedeutung, an denen zwei oder mehr regionale oder globale Mächte aufeinandertreffen. Im Gegensatz zu einem zentralen Grenzgebiet, in dem die Interessen von Großmächten kollidieren, befinden sich an einem geopolitischen Knotenpunkt wichtige Handelsrouten, die die Interdependenzen zwischen den Staaten aufrechterhalten.

Sowohl Mackinder als auch Spykman weisen in ihren Theorien auf potenzielle geopolitische Knotenpunkte hin, ohne sie unbedingt so zu nennen. Mahan hob die Seemacht hervor, aber wenn man Elemente ihrer Theorien kombiniert, wird deutlich, dass das Schwarze Meer und das Südchinesische Meer die wichtigsten geopolitischen Knotenpunkte Eurasiens sind.

Im Laufe der Geschichte war das Schwarze Meer ein Treffpunkt von Imperien und ermöglichte den Kontakt zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten. Es bleibt ein wichtiger Knotenpunkt für die regionale Stabilität. Es ist jedoch auch der Knotenpunkt, der am stärksten vom Krieg in der Ukraine betroffen ist. Das Gewässer am anderen Ende Zentralasiens ist das Südchinesische Meer, ein relativ junger Knotenpunkt, der rasch an Bedeutung gewinnt. Auf das Südchinesische Meer entfällt wertmäßig ein Drittel des Seehandels, was vor allem auf den Wiederaufstieg Chinas in den vergangenen Jahrzehnten zurückzuführen ist. In den zurückliegenden zehn Jahren hat Russland in Vorbereitung auf den Krieg in der Ukraine nach alternativen Handelsrouten nach Europa gesucht, die das Schwarze Meer umgehen, und seine Präsenz im Südchinesischen Meer verstärkt.

Konkurrenten der USA: China und Russland

Die USA, die nach wie vor die klassische globale See- und Landmacht sind, sehen sich zwei Konkurrenten gegenüber. Der erste ist ein wiedererstarktes Russland, eine regionale Landmacht, die ihre Reichweite über Europa hinaus ausdehnen will. Der zweite ist eine neue Art von eurasischem Konkurrenten, China nämlich, das sowohl eine kontinentale als auch eine maritime Macht ist.

Das zentrale Grenzgebiet, in dem sie aufeinandertreffen, ist Zentralasien. In diesem Sinne ist Afghanistan die perfekte Metapher dafür, wie Imperien aufeinanderprallen und sich koordinieren. Die Knotenpunkte des Schwarzen Meeres und des Südchinesischen Meeres balancieren einander aus, da sie durch die von den USA, Russland und China verfolgten Strategien miteinander interagieren. Je länger der Konflikt in der Ukraine andauert, desto größer ist die Unsicherheit in den Gewässern des Schwarzen Meeres und desto größer ist der Druck auf China, sich an der Küste des Südchinesischen Meeres in den globalen Wirtschaftskrieg einzuschalten.

 

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Russland hat in den vergangenen 20 Jahren eine stille, aber wichtige Rolle im Südchinesischen Meer gespielt. Obwohl es enge Beziehungen zu Peking unterhält, hat Moskau rivalisierende Anwärter auf die Gewässer des Südchinesischen Meeres wie Vietnam und in geringerem Maße auch Malaysia stetig aufgerüstet und gleichzeitig versucht, Verteidigungsbeziehungen zu den Philippinen und Indonesien aufzubauen. Darüber hinaus hat Russland in erheblichem Maße zur Erschließung von Offshore-Energieressourcen sowohl im Südchinesischen Meer als auch in der so genannten Nord-Natuna-See vor der Küste Indonesiens beigetragen. Während westliche Energieunternehmen häufig ihre Investitionen in umstrittenen Gebieten reduzierten, um einen Konflikt mit China zu vermeiden, füllten ihre russischen Partner alle erheblichen Investitionslücken.

Das 2014 zwischen der China National Petroleum Corp. und dem staatlichen russischen Gasunternehmen Gazprom unterzeichnete Energieabkommen mit einer Laufzeit von 30 Jahren und einem Volumen von 400 Milliarden US-Dollar markierte den Beginn von Russlands diplomatischer Hinwendung zu Asien. Es war auch das Jahr, in dem Russland auf der Krim und in der Ostukraine einmarschierte.

Im Jahr 2001 war der russische Handel mit Europa fast dreimal so groß wie der Handel mit Asien (106 Mrd. US-Dollar gegenüber 38 Mrd. US-Dollar). Im Jahr 2019 belief sich der europäische Handel auf 322 Mrd. US-Dollar gegenüber 273 Mrd. US-Dollar aus Asien. Nach der Annexion der Krim durch Russland brach Europa seine Handels- und Investitionsbeziehungen zu Moskau ab, während Asien sich ihm anschloss.

Russlands traditionelle Verbündete in Indochina

Russlands Annäherungsversuche wurden besonders in Südostasien positiv aufgenommen. Vietnam, Laos und Myanmar – seine traditionellen Verbündeten in Indochina – verstärkten ihre Verteidigungszusammenarbeit mit Moskau. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat allein Vietnam 7,4 Milliarden Dollar für russische Waffen ausgegeben, darunter hochmoderne Kampfjets und U-Boote. Vor allem die beiden größten Länder Südostasiens, die Philippinen und Indonesien, haben umfangreiche Verteidigungsabkommen mit Russland geschlossen.

Moskau entsandte zum ersten Mal einen Verteidigungsattaché auf die Philippinen, und russische Kriegsschiffe begannen, in der Bucht von Manila zu verkehren. Rodrigo Duterte, der damalige philippinische Präsident, schrieb Geschichte, indem er als erstes philippinisches Staatsoberhaupt zweimal Moskau besuchte, und er bemühte sich 2019 aktiv um Energie- und Verteidigungsabkommen mit Russland.

Darüber hinaus verstärkten russische Energieunternehmen ihre Präsenz in der ausschließlichen Wirtschaftszone Vietnams und unterstützten Indonesiens eigene Energieexplorationsbemühungen vor der Küste der Natuna-Inseln. Infolgedessen kam es zu einer interessanten Wendung der Ereignisse: Moskau rüstete auf und unterstützte Chinas maritime Gegner in ganz Südostasien.

Russlands bisherige Rolle als verlässliche dritte Kraft

Russland versuchte, den Druck auf Peking zu verringern, indem es routinemäßig gemeinsame Militärübungen mit China abhielt, die sich auf das Ostchinesische Meer, Zentralasien und den Fernen Osten erstreckten. Moskau stimmte weitgehend mit Pekings Position überein, sowohl was die US-Marinepräsenz in der Region als auch das Urteil des Haager Schiedsgerichts aus dem Jahr 2016 betrifft, das die meisten der ausgedehnten Ansprüche Chinas auf das Südchinesische Meer für ungültig erklärte.

Ein aktives Russland hatte sich als verlässliche dritte Kraft sowohl gegenüber dem Westen als auch gegenüber China positioniert und dabei die den südostasiatischen Ländern innewohnende Neigung zur strategischen Diversifizierung berücksichtigt. Peking hat das strategische Geplänkel seines vermeintlichen Verbündeten in seinem eigenen maritimen Hinterhof weitgehend toleriert, weil es Moskau auf seiner Seite haben möchte, vor allem inmitten eines tobenden eigenen Konflikts mit dem Westen. Diese prekäre Situation könnte sich jedoch durch Wladimir Putins Ukraine-Feldzug drastisch ändern, weil Russland zum weltweit am meisten sanktionierten Land geworden ist.

Selbstverschuldeter Machtverlust im Südchinesischen Meer

Die meisten südostasiatischen Länder waren über den Einmarsch Moskaus in die Ukraine entsetzt, was dazu führte, dass sie 2022 für die Resolution der UN-Generalversammlung stimmten, in der die Invasion verurteilt wurde. Singapur, das am weitesten entwickelte Land der Region, bezeichnete die Krise als „existenzielle Frage“ und verhängte beispiellose Sanktionen gegen Russland. Andere Länder haben das Gleiche getan.

Die immer komplexer werdenden westlichen Sanktionen werden es Moskau nicht nur erschweren, wichtige Verteidigungs- und Energieabkommen zu schließen; die wachsende Abhängigkeit des Landes von China könnte es dazu veranlassen, sich strategisch aus dem Südchinesischen Meer zurückzuziehen. Peking wird Moskau wahrscheinlich dazu drängen, seine Gegner im Südchinesischen Meer und anderswo nicht mehr zu bewaffnen und zu unterstützen, da seine Macht die Russlands immer mehr in den Schatten stellt. Dies würde außerdem bedeuten, dass China in einer guten Position ist, um seine eigene Einflusssphäre in Südostasien im Allgemeinen und im Südchinesischen Meer im Besonderen auf Kosten Russlands zu behaupten.

Unsere Welt franst an den Rändern aus

Für Europa ist der geopolitische Knotenpunkt im Südchinesischen Meer weit entfernt. Russische Schritte in Asien werden jedoch wahrscheinlich eine Reaktion der USA auslösen, insbesondere wenn sie zu einer Änderung der chinesischen Strategie führen. Dies würde sich wiederum direkt auf Europa auswirken.

Unsere Welt franst an den Rändern aus, beginnend in den europäischen Grenzregionen, aber potenziell bis nach Asien. Geopolitische Knotenpunkte werden in dem Maße an Bedeutung gewinnen, wie die Lieferketten neu gestaltet werden, der Wettbewerb um Rohstoffe zunimmt und der technologische Wandel den Cyberspace und andere Bereiche fragmentiert. Die kritischsten Knotenpunkte sind das Schwarze Meer und das Südchinesische Meer, wo die USA, Russland und China um Einfluss und Kontrolle ringen.

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